Ein blonder Junge hüpft durch ein Meer aus weißen Blüten, putzige Kobolde huschen umher und der Wald erstrahlt in goldenem Licht, in dem Pilzsporen tanzen und Libellen fliegen. Wenn man dann im Sattel eines Igels einen Teich voller Seerosen überquert, hat man fast das Gefühl, als würde man ein idyllisches Naturparadies erkunden. Aber was wie ein heiteres Märchen für Kinder beginnt, öffnet schon bald unheimliche Tore in eine Welt voller Angst und Schrecken, Blut und Gewalt.
Nils Holgersson lässt grüßen
Wer sich in den ersten Szenen noch an Nils Holgersson von Selma Lagerlöf (1858 - 1940) erinnert fühlt, das Anfang der 80er als Zeichentrickserie im Fernsehen lief, liegt nicht ganz falsch. Denn das Action-Adventure von Dimfrost kommt ebenfalls aus Schweden, der Held heißt zwar Olle und nicht Nils, aber ist auch als Winzling unterwegs. Und genauso wie im berühmten Roman der ersten weiblichen Nobelpreisträgerin geht es um die Reise eines jungen Helden durch eine teils atemberaubend schöne Natur mit riesenhaften Kreaturen.
Allerdings inszeniert das Videospiel auf Grundlage der Unreal Engine ein Abenteuer mit finsteren Abgründen: Nachdem seine Schwester von einem Troll entführt wurde, erlebt Olle auf der Suche nach ihr eine alptraumhafte Odyssee, in der das Schöne und Erhabene, das Grüne und Goldene, immer mehr dem Bösartigen und Grausamen, dem Schwarzen und Blutroten weicht. Spätestens wenn man vom tückisch dahin kriechenden Näcken verfolgt wird, der im Wasser haust, wird aus märchenhafter Folklore unheimlicher Schrecken.
Man springt auf der Flucht von Seerose zu Seerose und muss sich rechtzeitig hinter Felsen ducken, um seiner tödlichen Melodie auszuweichen. Dabei erinnert die Gestalt mit der bösartigen Fratze und dem langen schwarzen Haar eher an den expliziten japanischen Horror eines Project Zero als an Wassernixen aus Märchenbüchern. Laut der Entwickler stammen einige der Gestalten wie der Näcken aus nordischen Sagen, andere aus Geschichten ihrer Kindheit und manche wurden als Neuschöpfungen von diesen angeregt.
Die Idylle vor dem Schrecken
Wenn man heute an Trolle denkt, fallen einem vielleicht grobschlächtige Kreaturen ein, eher plump und stark als wirklich böse und unheimlich. In Skandinavien ist die Vorstellung etwas vielfältiger, vor allem in der Zeit der Wikinger umfasste dieser Begriff z.B. auch zauberkundige Menschen oder Berserker, also alles an übernatürlichen Wesen, die wir heute als Monster bezeichnen - falls ihr euch dafür interessiert, kann ich den Podcast mit Rebecca Merkelbach empfehlen, die sich als Skandinavistin bestens mit dem Thema auskennt.
Heutzutage existieren skandinavische Trolle nicht nur als Keulen schwingende Halbriesen, die auf Wanderwegen grüßen, sondern in der Vorstellung auch als ganze Berge, getarnt durch Stein und Moos. Zuletzt wurde dieses Motiv, eines seit Urzeiten mit dem Land verwurzelten Wesens, im norwegischen Film Troll (2022) eingesetzt. In der Regel sind sie allerdings die großnasigen Kreaturen vieler Kinderbücher, in denen sie eher das sympathische Monster als einen haarigen Alptraum darstellen.
Bilder von John Bauer
Auch in Bramble: The Mountain King gibt es einen solchen Freund, der direkt von neuzeitlicher Literatur geprägt wurde. Es ist eine glatzköpfige Steingestalt namens Lemus, die dem neunjährigen Olle in so manch schwieriger Situation hilft und das Gute symbolisiert. Dieser Troll stammt also nicht aus alten Sagen, sondern wurde einem Bild des Malers John Bauer (1882-1912) nachempfunden. Sein deutscher Vater wanderte übrigens erst 1863 nach Schweden aus, wo sein Sohn dann mit 16 Jahren in Stockholm Kunst studierte und sich irgendwann auf die Darstellung von Trollen spezialisierte, die vermutlich eine ganze Generation an Skandinaviern geprägt haben.
Seine mittlerweile berühmten Illustrationen kann man sich im Museum von Jönköping anschauen. Die Zeichnungen waren so markant, dass sie sogar einige Gestalten aus Jim Hensons' Fantasyfilm Der dunkle Kristall (1982) inspirierten. Zu den großen Stärken des Videospiels gehört, dass man manchmal das Gefühl hat, direkt in diese Bilder hinein zu laufen. Sie prägen bis zu einem gewissen Grad auch die Ästhetik des Spiels, wenn auch nicht durchgängig. Aber in diesen Situationen, wenn das Surreale das Unheimliche umarmt, ist die Atmosphäre am stärksten. Überhaupt gibt es so einige bemerkenswerte Szenen.
Blut und Zombies
Wenn einen die Kamera bei fester Perspektive in einen dunklen Hain führt, während man von hundert funkelnden Augen beobachtet wird und sich durch ein Meer aus tastenden Klauen windet. Wenn die Wildnis ihre fotorealistische Schönheit gegen einen unheilvollen Nebel aus Ahnungen eintauscht. Allerdings wird das Team von Dimfrost weitaus expliziter, denn der Junge flieht irgendwann auch vor Zombies und watet regelrecht durch Blut und Gedärme. Hier ist man dann weit weg von alten Sagengestalten und mittendrin in modernen Vorstellungen des Horrors, die fast gewöhnlich anmuten.
Mir hätte es zwar besser gefallen, wenn man sich konsequenter der Interpretation von Folklore und dort öfter Kreaturen der Märchensagas gewidmet hätte - hier entsteht also keine Enzyklopädie der skandinavischen Sagengestalten, kein spielbares Bestiarium, sondern eher ein Mix aus Altem und Neuem. Aber über Abwechslung sowie Intensität kann man sich über die knapp vier Stunden nicht beschweren. Denn jedes Kapitel widmet sich einer anderen düsteren Erzählung, wobei sich der Schrecken auf der Wanderung durch Wiesen, Haine, Moore und Dörfer steigert, bevor es zu einem überraschend knackigen und toll inszenierten Finale im großen Berg kommt. Hier habe ich einige Male geflucht, bis ich endlich herausgefunden habe, wie man diesem einen Angriff von beiden Seiten entgehen kann.
Akrobatik, Schleichen, Kampf & Rätsel
Apropos: Es gibt keine wählbaren Schwierigkeitsgrade, was angesichts der linearen sowie meist klaren Spielmechanik nicht nötig war. Olle hüpft, klettert und schleicht ohne all zu viele Unterbrechungen, zumal die Wege und Interaktionen meist schnell zu erkennen sind. Trotzdem muss man sich konzentrieren, wenn der Troll das Messer schwingt, eine Plattform wackelt oder man nur im hohen Gras unsichtbar ist. Dabei geht es aber höchstens um angenehm fordernde Akrobatik, in der man das richtige Timing für den Absprung oder das Ausweichen benötigt; falls man mal stürzt oder etwas wiederholen muss, kann das allerdings auch an einem ungünstigen der statischen Kamerawinkel liegen, der einem vielleicht eine Linie vorgaukelt.
Etwas vielseitiger und fordender wird es, wenn man eine Lichtkugel wie eine Waffe einsetzen und werfen kann: Dann gilt es wie in einem Shooter rechtzeitig Deckung zu suchen, das Ziel zu fixieren und zu feuern. Manchmal muss man das in mehreren Phasen bzw. gegen mehrere Feinde meistern und darf dabei selbst nicht getroffen werden. Neben diesen Plattform-Passagen, dem Verstecken vor sowie Kampf mit Feinden wird ein wenig gerätselt: Vom Öffnen einer Tür mit dem zu suchenden Schlüssel bis hin zu Logikaufgaben, in denen man die richtige Kombination aus Hinweisen in der Umgebung finden muss. Aber da sind keine kniffligen Kopfnüsse dabei. Es gibt bis auf die hübsch geschnitzten, aber rein dekorativen Holzfiguren pbrigens keinerlei Gegenstände, die man einsammeln oder in einem Inventar kombinieren könnte.
FAZIT
Bramble: The Mountain King hat mich mehrmals böse überrascht: Denn gerade hüpft man noch zwischen Pusteblumen durch eine Wiese und reitet auf einem knuffigen Igel, dann watet man plötzlich durch ein Meer aus Blut und Gedärmen, wird von einem Hackmesser zerteilt oder erlebt einen packenden Bosskampf. Wirkt der Einstieg noch wie ein märchenhaftes Natur-Abenteuer für Kinder, erlebt man bald ein finsteres Action-Adventure für Erwachsene, in dem man zwar immer noch putzigen Wichteln begegnet, aber in dessen Erzählungen es letztlich um Gewalt, Mord und Missbrauch geht. Das schwedische Team von Dimfrost ist auch visuell wesentlich expliziter als das vergleichbare Little Nightmares. Neben teils authentischen Sagengestalten wie dem Näcken begegnet man in der Neuzeit erschaffenen Wesen wie einem Troll, der von den Illustrationen des Malers John Bauer (1882-1912) inspiriert wurde. Das Spiel ist atmosphärisch am stärksten, wenn es seine Kunst des Surrealen und Unheimlichen nachahmt. Mir hätte es zwar besser gefallen, wenn man sich eher darauf, anstatt auf Facetten des modernen Horrors samt Zombies konzentriert hätte. Aber Bramble: The Mountain King inszeniert über knapp vier Stunden einen abwechslungsreichen Mix aus Akrobatik, Kampf und kleinen Rätseln mit einem toll inszenierten Finale. Ich wurde jedenfalls gut unterhalten.
(Bilder: Bramble: The Mountain King, PS5, eigene Screenshots)
Habe Bramble nun letzten Sonntag in einem Rutsch durchgespielt. Es hat mir sehr gut gefallen und stellenweise auch ein bisschen an Unravel erinnert, gerade auch was die teils melancholische Stimmung betrifft. Genervt habe ich mich an den teils nicht ganz klaren Kameraperspektiven, was immer wieder mal dazu führte, dass ich beim Springen danebengeplumpst bin. Da die Rücksetzpunkte aber sowas von nah und fair sind, ist nie Frust aufgekommen.
Die (grausig) schönen Settings fand ich Klasse und auch, dass man ein bisschen von dieser Folklore und ihren Sagenwesen erfährt. Die vier Stunden waren auf jeden Fall schnell durch und haben sich nie gestreckt gefühlt. Ein tolles Spiel, mehr davon bitte.
Ich habe das Spiel nun auch durch, bin aber leider von der Spielmechanik sehr enttäuscht. Dabei wollte ich Bramble so gut finden, nordische Mythologie, schöne Grafik, toller Soundtrack… Aber dieses furchtbare Trial & Error, die festen Kamera Perspektiven, das mit unter träge Game play und dieser für mich nicht stimmige Kontrast zwischen super blutig und kindlich haben mir das Spiel versaut.
Kleine Anmerkung: nicht John Bauer ist im zarten Alter von -19 nach Schweden ausgewandert sondern sein Vater. 😅
Das hatte ich so jetzt nicht auf dem Radar, aber der Kontrast spricht mich an. Steht auf der Liste. Vielen Dank, lohnt sich einfach hier zu sein. 😀
Ich muss es mir auch noch holen. Bislang habe ich nur die Demo gespielt und war fasziniert.
4 Stunden hört sich nach genau der richtigen Länge an.
Kurze Frage zu Quality of Life: wie sieht es denn mit speichern und laden aus? Feste Punkte entlang des Wegs oder geht das manuell?