Zu den kreativen Überraschungen unter den Rollenspielen des Jahres 2022 gehörte neben Roadwarden auch Citizen Sleeper. Nicht nur weil sowohl die Fantasy als auch die Science-Fiction von nur einem Entwickler inszeniert wurden, sondern weil beide sehr gute Geschichten erzählten, in denen das Menschliche spürbar und die Welt in stimmungsvollen Szenen verdichtet wurde. Daran knüpft Gareth Damian Martin in Citizen Sleeper 2: Starward Vector an, während er das Weltall greifbarer und die Würfeltaktik anspruchsvoller gestaltet.
Das abstrakte Rollenspiel
Falls ihr Citizen Sleeper nicht kennt, ist das vielleicht schade, weil man einige bekannte Charaktere wie Bliss erneut trifft - in teils tollen Szenen. Aber es ist auch nicht schlimm, denn die Story beginnt mit einem Gedächtnisverlust und verlangt keine Vorkenntnisse. Die Reise führt in einen anderen Bereich der Galaxie, und zwar in den Namen gebenden Starward Belt, der als Asteroidengürtel einige interessante Schauplätze und Überraschungen parat hat.
Dazu gehört auch, dass diese Mischung aus Abenteuer-Spielbuch und Würfeltaktik jetzt etwas freier und greifbarer ist: Wenn man auf der Sternenkarte ein Ziel auswählt und dort ankommt, kann man die dortige Station oder das Raumschiff fast wie in Homeworld erkunden, indem man die Kamera bewegt und dreht. Zusammen mit der sphärischen Musik entsteht zwischen blinkenden Lichtern eine angenehme futuristische Atmsophäre. Und ich hab mir mitunter gewünscht, dieses Universum wie ein Freelancer erkunden zu können.
Aber auch dieser Nachfolger ist nichts für aktive Abenteurer, denn man sieht weder animierte Figuren noch passiert etwas anderes in Echtzeit. Es gibt auch keine Sprachausgabe und es werden lediglich coole Zeichnungen von Charakteren eingeblendet. Citizen Sleeper richtet sich in eleganter Stille an Leser und Taktiker, die Lust auf eine gute Geschichte mit kniffligen Entscheidungen haben. Außerdem sollte man Englisch lesen können, denn wie schon der Vorgänger wurde es nicht ins Deutsche übersetzt.
Social Science Fiction
Ohne die Magie der Worte wird man jedenfalls nur Würfel an der Oberfläche verschieben. Aber sobald sie ihre Sogkraft entfalten, wird man aufgrund der starken Erzählweise immer tiefer in die Story sowie Geheimnisse des Weltalls hineingezogen. Es geht um das Schicksal von Menschen vor dem Hintergrund einer von mächtigen Konzernen dominierten Zukunft, in der Ausbeutung, Missbrauch, Vertreibung und Krieg allgegenwärtig sind.
Damit gehört Citizen Sleeper zum literarischen Subgenre der Social Science Fiction, über das ich mit Christian Endres in diesem Podcast ausführlicher gesprochen habe. Im Gegensatz zur Space Opera geht es darin vor allem um die Auswirkungen von Technologie auf die Gesellschaft. Man denke an Klassiker wie Die Zeitmaschine von H.G. Wells oder den Hainish-Zyklus von Urusla K. Le Guin, oder aktuelle Romane wie Die Maschinen von Ann Leckie oder Tagebuch eines Killerbots von Martha Wells, in dem auch ein Cyborg erzählt.
Der Geist der Freiheit
Im Zentrum von Citizen Sleeper 2 steht ebenfalls der Transhumanismus. Im Vorgänger schlüpfte man ja in die Rolle eines Menschen namens Sleeper, dessen Geist in einen fremden Körper transferiert wurde - und zwar in einen Firmen-Androiden, mit der Aussicht auf ewige Zwangsarbeit auf der Raumstation The Eye. Wie hieß es damals so schön? Man erlebt ein Abenteuer in den Ruinen des interplanetaren Kapitalismus.
Neben der unerfreulichen Tatsache, dass man dort Eigentum der Essen-Arp Corporation war, musste man den eigenen Verfall mit ansehen, wenn man nicht jeden Tag Nahrung und Drogen zu sich nahm. Als Sleeper war man an seinen mechanischen Körper gebunden und biologisch abhängig. Und das Tragische war, dass man eben kein abgestumpfter Androide, sondern überaus empfindsam war und seine Umgebung auf sensible Art wahrnahm.
Das drückte sich nicht nur in emotionalen inneren Monologen, sondern auch in tollen Beschreibungen digitaler Empfindungen und Technologie-Effekte aus, die mitunter an den Stil von William Gibson im Kultroman Neuromancer erinnerten. Man fühlte sich wie ein Gefangener, ausgebeutet und missbraucht, suchte Verbündete und konnte schließlich von The Eye fliehen.

Nicht nur das: Man konnte sogar die Abhängigkeit von den Drogen überwinden, indem man den Firmencode umschrieb. Doch die Freude über die Freiheit währt nicht lange, denn das Rebooten schlägt fehl. Zu Beginn von Citizen Sleeper 2 erwacht man also ohne Erinnerungen und mit einigen Systemfehlern, die Böses erahnen lassen.
An Bord eines Raumschiffs
Allerdings gibt es zwei Aspekte, die Hoffnung machen: Zum einen befindet man sich an Bord eines gestohlenen Raumschiffs namens Rig, mit dem man theoretisch frei durch das Helion-System fliegen kann. Und man ist der Captain, der die wichtigen Entscheidungen treffen sowie eine Crew finden muss. Zum anderen ist da mit Pilot Serafin ein Bekannter an Bord, dem es deutlich besser geht und der sich mit offensichtlichen Sorgen um den seltsam verwirrten Sleeper kümmert. Allerdings hat man es sich mit dem Gangsterboss Laine verscherzt, der die beiden jetzt gnadenlos jagt.
Und das Unheimliche ist, dass dieser Psychopath anscheinend eine Hintertür im Geist des Sleepers besitzt, so dass er manchmal dessen Stimme hören ... und ihn sogar fühlen kann. In einer frühen Szene wird sehr gut beschrieben, wie sich die eigenen Finger krümmen und sich dann der Arm wie von Geisterhand gesteuert bewegt. Welchen Preis hat man da bloß für seine Freiheit zahlen müssen? Die Geschichte beginnt jedenfalls hoch spannend in bedrohlicher Ausgangslage.
Als man so gerade eben die Station Hexport erreicht, tickt bereits die Uhr: Man muss innerhalb von fünf Tagen neue Versorgungsleitungen in das marode Raumschiff einbauen, damit es vor Laines Ankunft den Sektor verlassen kann. Außerdem braucht man dringend Treibstoff, Vorräte und eine Crew, denn Serafin ist zwar tough, aber mit ihm alleine wird man die Herausforderungen in den Weiten des Alls nicht meistern können. Und man muss jeden Tag das Beste aus seinen Würfeln machen, die morgens immer anders fallen - nicht immer hat man das Glück mit reichlich 5ern und 6ern aufzuwachen.

Es gilt also Hexport zu erkunden, dabei nicht aufzufallen und Jobs zu finden, die einen zum ersten Mal samt Sternenkarte ins All führen können. Man ist wie erwähnt nicht körperlich in der Welt unterwegs, sondern schwenkt die Kamera z.B. um eine 3D-Raumstation mit markierten Interaktionspunkten. Sie symbolisieren Orte wie eine Kantine, eine Fabrik oder Ähnliches. Sobald man sie anklickt, ergeben sich lokale Interaktionen wie Handel, die man mit Credits oder Gegenständen abschließen kann.
Würfelproben als Aktionen
Viel häufiger trifft man jedoch wie im Vorgänger auf Würfelproben: Egal ob man in einem Lager nach Ausrüstung fragt, eine Werkstatt besucht, von einer Gang überfallen wird oder einen Asteroiden erkundet, platziert man einen seiner fünf zu Tagesbeginn erhaltenen Würfel in die passende Box. Dann erkennt man umgehend die prozentuale Wahrscheinlichkeit für ein positives, neutrales oder negatives Ergebnis. Und erst danach entscheidet man, ob tatsächlich gewürfelt werden soll.
So entsteht eine Spannung wie beim Umblättern in einem Abenteuer-Spielbuch, denn es heißt bei einem Fehlschlag natürlich nicht sofort Game Over. Einfache Aktionen wie ein Glücksspiel für mehr Credits kann man mehrfach wiederholen, so lange man Würfel hat. Aber es gibt relevante Szenen, die zu ganz anderen Beschreibungen, Dialogen, Quests oder Orten führen, zumal manches erst nach einem Erfolg freigeschaltet wird. Man freut sich natürlich besonders, wenn man auch mal mit einer 2 oder 3 etwas meistert.

Interessant ist, dass der Misserfolg nicht wie so oft in Videospielen sofort zum erneuten Versuch animiert: Als es mir auf einem havarierten Frachter nicht gelingt, den Datenkern zu stibitzen und alles in die Luft fliegt, so dass er auf ewig verloren ist, knüpfen die Dialoge an diesen Fehlschlag an. Der ist zwar ärgerlich, aber deshalb spiele ich weiter und suche mir einen anderen Auftrag. Sehr schön ist, dass man oftmals die Wahl hat, wie man vorgehen möchte und meist sofort Konsequenzen erlebt.
Taktik und Tüftelei
Apropos Schwierigkeit: Es gibt diesmal drei Stufen zur Auswahl, wobei ich, wie fast immer, die normale mittlere gewählt habe. Ich bin sehr zufrieden damit, allerdings ist Citizen Sleeper 2 im Vergleich zum Vorgänger deutlich anspruchsvoller. Das Management der Ressourcen sowie Fähigkeiten ist aufgrund der Crew vielfältiger, hinzu kommen neue negative Effekte wie Stress nach Fehlschlägen, der Würfel schwächen und sogar zerstören sowie zum Missionsabbruch führen kann.
All das ist in der Benutzeroberfläche sichtbar, so dass man gut kalkulieren kann. Jeder Würfel hat jetzt drei Lebenspunkte und Marker über dem Stresslevel zeigen an, wie viel Schaden ein 1er, 2er, 3er etc. nehmen würde - und je höher der Stress, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie Schaden nehmen. Sie repräsentieren quasi die Verletzlichkeit des Androiden-Körpers. Man kann sie erst wieder einsetzen, wenn man seinen Stress an Bord des eigenen Raumschiffes abbaut, was wiederum Ressourcen kostet.

Zwar kann man alle Fünfe neu werfen, aber das entspricht quasi einem Tag in der Welt (es sei denn man ist auf einer Mission, dann wird die Zeit eingefroren) und die negativen Effekte sind dann nicht einfach verschwunden - man hat also nur einige Tage Zeit, während man weiter Vorräte verbraucht. Sprich: Manchmal ist es okay, eine Mission abzubrechen. Denn wer den Erfolg partout erzwingen will, verliert vielleicht mehr als er an Credits gewinnt.
Drei Klassen, viel Tüftelei
Für Taktiker und Tüftler ist das cool, auch im Detail der Würfelproben. Je nachdem welcher der fünf Attribute (Engineer, Interface, Endure, Intuition, Engage) eine Aufgabe zugeordnet ist, hat man andere Chancen. Ich habe z.B. zu Spielbeginn die Klasse des Operators für meinen Sleeper gewählt, der im Bereich Interface schon zwei, aber z.B. gar keine Punkte als Engineer hat. Serafin hingegen ist für derartige mechanische Herausforderungen besser geeignet.
Apropos Klassen: Im Vorgänger spielten sie quasi keine Rolle, aber diesmal sind die drei relevanter und bieten andere Boni. Denn wer z.B. als Maschinist oder Extractor beginnt, hat mit seinen fortgeschrittenen Attributen deutliche Vorteile bei passenden Würfelproben. Weil die Orte und Herausforderungen diesmal vielfältiger sind, kann man hier jedoch nichts falsch machen, sondern wird einfach an anderer Stelle oder später mehr Vorteile haben bzw. andere Crewmitglieder bevorzugen.

Außerdem kann man die Würfelproben mit jeder Klasse zu seinen Gunsten verbessern, wenn man nicht nur die fünf Attribute, sondern die neuen Push-Fähigkeit entwickelt: Meist kann man so gegen Stresspunkte spezielle Würfel erneut werfen. Und wie bei einem Poker darf man den Einsatz von Stress für mehr Boni erhöhen. Je nach Charakter und Klasse lässt sich mit genügend Punkten eine von sechs Bonusfunktionen freischalten.
Die Crew zählt auch menschlich
Zu den Neuerungen des Nachfolgers gehört auch, dass man für eine Aufgabe bis zu zwei Gefährten aus seiner mehrköpfigen Crew auswählen darf, die zwei eigene Würfel mitbringen. Also gilt es, sein Team auf die Art der Aufgabe abzustimmen. Allerdings sind sie keine anonymen Statistik-Söldner, sondern bringen ihren eigenen Charakter samt Biographie mit allen möglichen Konflikten ein, so dass es sich lohnt, sich genauer mit ihnen zu beschäftigen. Sie haben Ängste und Ziele, können lügen und verraten.

Manche sind vielleicht nur für eine Mission dabei, andere wollen länger bleiben oder verlassen das Raumschiff irgendwann. Bis auf wenige Ausnahmen werden sie also nicht wie in Mass Effect permanent angestellt, sondern sind Besucher mit eigener Agenda - die einfach mal einen trinken gehen. Man muss darauf hören, was sie sagen. Das fängt schon bei den ersten Dialogen an, denn wer allem blind vertraut, was sich als Crewmitglied anbietet, kann böse Überraschungen erleben.
Oder ist einem das Risiko egal, weil man dieser Juni helfen will und sie irgendwas über uralte Technologien weiß? Will man ihr einfach vertrauen? Aufgrund der tollen Charakterisierungen wird man dazu animiert, nicht den effizienteren, sondern vielleicht den sympathischeren Gefährten mit auf eine Mission zu nehmen. Selbst wenn es dort einen Fehlschlag gibt, erfährt man später evtl. mehr über dessen Geschichte.

Es entstehen jedenfalls einige emotionale Situationen und interessante Beziehungen an Bord, die an TV-Serien wie Firefly sowie gute Science-Fiction-Romane erinnern. Martin nennt als Inspiration zum einen "Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten" von Becky Chambers, wo an Bord der Wayfarer ebenfalls eine Geschichte über ein Raumschiff und dessen Crew erzählt wird; ihre Abenteuer wurden über vier Bände abgeschlossen und 2019 mit dem Hugo Award als Beste Serie ausgezeichnet.
Außerdem nennt er Sam J. Miller, dessen Roman Blackfish City aus dem Jahr 2018 von der Kritik gefeiert und für einen Nebula Award nominiert wurde. Es geht darin um Konflikte in einer im Polarmeer schwimmenden Mega-Stadt, die nach einem Klimakrieg so etwas wie die letzte, aber langsam in sich zusammen bröckelnde Hoffnung der Menschheit ist. Auch auf dieser philosophisch-apokalyptischen Ebene hat Citizen Sleeper 2 so einiges zu erzählen, das zum Nachdenken enregt.
FAZIT
Der Egoist in mir hat einen Wunsch: Dass Gareth Damian Martin das Budget für ein Triple-A-Rollenspiel samt kompletter künstlerischer Freiheit erhält. Denn Citizen Sleeper 2 demonstriert nicht nur im Zwischenmenschlichen eine erzählerische Stärke, die Mass Effect nie hatte. Es inszeniert über knapp zehn Stunden allerfeinste Social-Science-Fiction, die zum Nachdenken anregt. Schon der Vorgänger war in meiner Top 9 der besten Spiele des Jahres 2022. Und dieser Nachfolger ist noch besser. Zwar knüpft er in abstrakter Mischung aus Abenteuer-Spielbuch und Brettspiel direkt daran an. Aber er öffnet die Spielwelt und erweitert die Würfeltaktik, so dass sich diese Reise durchs All freier und aufgrund der positiven sowie negativen Würfeleffekte anspruchsvoller anfühlt. Die drei Klassen sind markanter, der Stress erhöht die Spannung und das Ressourcen-Management ist relevanter. Hinzu kommt das eigene Raumschiff samt der Crew, denn damit wird die ohnehin tolle Story um markante Charaktere und Konflikte an Bord bereichert - und man fühlt sich wie ein Captain. Was wiederum bedeutet, dass einem Entscheidungen mitunter schwerer fallen. Es geht dabei sowohl um Einzelschicksale als auch philosophische und gesellschaftskritische Themen. Und ich muss den Schreibstil ausdrücklich loben, denn hier entstehen ähnlich wie bei der Lektüre eines Neuromancer umgehend Bilder, die auch das Diffuse und Unheimliche des Digitalen einfangen. Martin gelingt dabei das Kunststück, sowohl knisternde Szenen als auch stille Momente zu erschaffen und gleichzeitig das richtige Tempo zu finden, so dass ein wunderbarer Lesefluss entsteht. Wer Brettspiele, Rollenspiele und gute Geschichten mag, sollte den Sleeper wecken. Ich würde mich sehr freuen, wenn das nicht das letzte Abenteuer in diesem Universum war.
(Bilder: Citizen Sleeper 2: Starward Vector, PS5, eigene Aufnahmen)
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