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Rezension: Cocoon (PC, PS4/5, XBS, SW)

Ein käferartiges Wesen landet wie ein Meteorit in einer exotisch futuristischen Einöde. Es erinnert an eine Zikade, aber wird nicht näher vorgestellt. Es gibt weder einleitende Texte noch Erläuterungen, was man eigentlich machen soll. Es gibt auch keine Hinweise auf die Steuerung oder das, was man überhaupt machen kann. Cocoon öffnet eine rätselhafte Welt, in der nur reines Ausprobieren weitere Wege öffnet. Und das ist wunderbar.




Insektoide Futuristik


Zwar gibt es heutzutage eine Fülle an Möglichkeiten, eine Spielwelt zu designen, aber meist werden etablierte Stile verwendet. Das führt dazu, dass man sofort eine Schublade öffnen und z.B. von viktorianischem Steampunk oder mittelalterlicher Fantasy sprechen kann. Zwar erinnert Cocoon mit seinen gedeckten Farben, seiner matten Buntheit sowie der Perspektive von schräg oben ein wenig an Tunic, zumal man hier zwar keinen Fuchs mit Schwert und Schild, aber als Käfer auch ein Tierwesen auf zwei Beinen spielt. Aber der erste Eindruck trügt.


Man beginnt als Käfer in einer roten Wüstenwelt.

Denn sobald man sich überraschend geschwind fortbewegt und die Umgebung erkundet, erkennt man keine irdischen Landschaften mit grünen Bäumen, sondern eine exotisch anmutende Science-Fiction. Das Organische trifft auf Hightech, denn man kann z.B. an Apparaten eine gummiartige Masse herausziehen, die sich immer weiter dehnt, bis irgendwo etwas ausgelöst wird. Man sieht selbst aus wie eine humanoide Zikade, einige Gebilde tragen gemusterte Chitinpanzer und Teleporter öffnen sich wie Käferpanzer, so dass eine Art von insektoider Futuristik entsteht. Und die wirkt angenehm frisch; mir würde jedenfalls auf Anhieb kein Spiel einfallen, das ähnlich aussieht.


Zwar ist das keine Kulisse, die sofort technisch begeistert. Sie fasziniert nicht so wie die magischen Sandwüsten eines Journey, als ich mit Gänsehaut durch tausende Partikel wanderte und mich wie in einer digitalen Märchenwelt fühlte. Cocoon fehlt vielleicht auch der knuffige Charme eines Tunic, der zusammen mit der Ähnlichkeit zu den alten Zeldas so anziehend war. Aber je länger man zwischen Canyons, Pflanzen und Anlagen unterwegs ist, desto öfter staunt man angesichts der stilistischen Vielfalt. Zusammen mit dem Synthi-Soundtrack entsteht eine markante futuristische Ästhetik, in der eine formenstarke Geomeotrie in einen tierischen Mikrokosmos verwoben wird.


Mit der roten Kugel materialisieren sich Brücken.

Man begegnet immer wieder Elementen aus der Welt der Pflanzen und Insekten, wobei das Tierische und das Industrielle, das Natürliche und das Abstrakte immer wieder eine Symbiose eingehen, die sich in skurrilen Formen und eindrucksvollen Mega-Maschinen zeigt. Manchmal erinnert das organisch-monströse Design an die Aliens von H.R. Giger, allerdings verliert Cocoon nie seinen comichaften Charme, kann zwar bedrohlich und fremd anmuten, aber wird nicht explizit alptraumhaft. Nur indirekt wird eine simple Geschichte erzählt, in der ein kleiner Käfer letztlich eine Welt von Bossen befreit. Wieso, weshalb, warum, bleibt ein Geheimnis.


Knobeln in der Draufsicht


Überhaupt verlässt Jeppe Carlsen hier sowohl visuell als auch spielerisch die Wege des unheimlichen Jump'n Runs mit tragischer Story, die er in Limbo (2010) und Inside (2016) so stimmungsvoll, meist in düsteren Tönen inszenierte. Hier ist man als Käfer nicht seitwärts scrollend, sondern in einer Draufsicht unterwegs. Es gibt keinerlei akrobatische Herausforderungen, denn man kann weder aktiv springen noch abstürzen. Zwar gibt es auch Situationen, die Timing erfordern, wenn man etwa einen Gegenstand rechtzeitig fallen lassen muss, wenn man gegen die Zeit rotierende Symbole treffen oder Bosse samt Ausweichen und Angriff besiegen muss. In diesen Arenen kommt es dann in zwei oder drei Phasen auf Hand-Auge-Koordination, Übersicht und Reflexe an, wobei das nie frustrierend ist.


Doch der Kern der Spielmechanik besteht aus einer Fülle an Rätseln von simpel über fordernd bis komplex, die man meist in aller Ruhe meistern kann. Schade wirkt zunächst, dass man die Kamera weder drehen noch zoomen kann. Aber letztlich ist das eine Konsequenz, die zum komplett reduzierten Spieldesign passt. Man wird hier weder von Kämpfen noch von Sammelkram gestört; es gibt keine Monster, keine Waffen, kein Inventar. Und weil die Regie komplett auf Hinweise zur Steuerung sowie mögliche Aktionen verzichtet, sorgen schon die ersten einfachen Entdeckungen für Freude.


Neben der Wüste gibt es auch eine grüne Wasser- und Pflanzenwelt.

So findet man durch das Ausprobieren heraus, dass man an kreisrunden Stellen mit Symbolen länger den Knopf drücken muss oder dass man bestimmte Pflanzen manchmal aufnehmen und irgendwo hin tragen kann. Alles fängt recht simpel an, indem man an Hebeln zieht, Bodensymbole oder Schwebeplattformen aktiviert, bis man weiter laufen kann. Dabei wird zwar recht geschickt eine Offenheit und Weite suggeriert, aber es gibt meist nur einen oder zwei Wege, die sich schnell wieder treffen. Das sorgt zusammen mit der festen Perspektive sowie dem hohen Tempo beim Laufen für einen angenehmen Spielfluss.


Bald weiß man, dass man Trampoline für weite Sprünge nutzen, Tore aktivieren oder Kugeln in Bahnen stecken kann, so dass sie in neue Areale rollen, wenn man denn die Kurven richtig einstellt. Und manche Mauern kann man nur mit einer Drohne beseitigen, die man an bestimmten Stellen als Begleiter findet. Meist geht es also um die Frage, wie man von A nach B kommt und Hindernisse überwindet. Dazu gehören sich verschiebende Barrikaden, die nur kurz eine Lücke offenbaren. Hinzu kommen akustische Rätsel, in denen man Töne in der richtigen Reihenfolge erklingen lassen muss, deren Symbole wiederum in der Umgebung versteckt sind.


Faszinierende Kugelwelten


All das kennt man als Puzzle-Fan, aber so richtig überrascht und zum kreativen Rätseln angeregt wird man, wenn man die verschiedenen Kugelwelten entdeckt. Denn die werden nicht nur in Rohren genutzt, sondern als Artefakte und Teleporter. Die rote Startwelt ist nur eines von mehreren Arealen, aus dem man sich in andere Gebiete teleportieren kann, sobald man deren Kugeln findet. Sie haben zudem spezielle Fähigkeiten, die beim Tragen aktiviert werden. Mit der roten Kugel materialisieren sich Brücken, mit der grünen Kugel kann man gasförmige Türme in feste verwandeln und sie so als Fahrstühle nutzen. Und mit der weißen Kugel kann man z.B. einen Lichtball verschießen, um entfernte Schalter zu aktivieren.


Irgendwann hat man mehrere miteinander kombinierbare Kugelwelten zur Auswahl.

Aber der Clou ist, dass man sie nicht nur als Teleporter einsetzen, sondern ineinander stapeln, mitnehmen und zur gegenseitigen Aktivierung einsetzen kann. Sprich: Man beamt sich in die rote Welt, während man die grüne Kugel trägt, in der wiederum die weiße sichtbar ist. Das bedeutet, dass man dort die grüne Fähigkeit besitzt, die Aggregatzustände an bestimmten Türmen zu ändern. Will man die weiße Fähigkeit einsetzen, muss man die Kugeln erstmal trennen, wofür es markierte Plätze gibt. So ergeben sich wunderbare Rätsel und Kombinationen. Das führt zu anspruchsvollen Herausforderungen und einer Gehirnverzwirbelei, bei der man so richtig um die Ecke denken muss.


Immer öfter fagt man sich Dinge, die so anfangen: Die wollen doch nicht etwa...? Die wollen doch nicht etwa, dass ich jetzt erst das Trampolin mit Kugel nutze, um sie dann mitten im Sprung fallen zu lassen, so dass sie einen Mechanismus öffnet, damit ich, falls ich sofort renne, noch rechtzeitig durch die sich schließende Tür komme? Oder die wollen doch nicht etwa, dass ich aus einer Welt in die andere schieße, indem ich die Kugel anvisiere, damit dort ein Schalter aktiviert wird, den ich vorher in die richtige Position gebracht habe? Doch, meist will Cocoon genau das. Man hat Jeppe Carlsen ja bei Inside manchmal vorgeworfen, dass die Rätsel nicht komplex genug waren, dass es mehr um Stimmung ging. Hier wird das Gehirn in einer faszinierend insektoiden Science-Fiction für fünf Stunden so richtig schön verzwirbelt. Und zwar pur, ohne Ballast, reduziert auf Mechanik.


Die simple Story wird ohne Worte erzählt - man besiegt letztlich insektoide Bosse.


Fazit


Wenn man eine mehrwöchige Party narrativer Dringlichkeit namens Baldur's Gate 3 hinter sich hat, auf der biografische und politische Schicksale in aller Breite diskutiert und orchestral begleitet wurden, auf der man mit sehr vielen Leuten sehr viel reden und sogar intim werden konnte, während man mit so viel Kram von der Nuss über die Schriftrolle bis zum Plattenpanzer vollgestopft wurde, dass man sich manchmal wie ein Gemischtwarenheld fühlte, der sowohl die epische Last der Geschichte als auch die chaotische Schwere des Rucksacks zu tragen hatte, dann ist Cocoon ein wunderbar klarer, herrlich reduzierter und hochprozentiger Rätselshot, der einem ohne Worte einfach nur spielerisch durch den Rachen jagt, dabei das Gehirn so kreativ verzwirbelt, dass man sich wie ein Planetenwanderer in einer organisch galaktischen Kugelbahn fühlt, die nach all ihren kreativen Drehungen, Teleportationen und Aha-Effekten auch noch ein derart insektoid futuristisches Aroma hinterlässt, dass man als Käfer eine ludologische Party mit DJ Jeppe Carlsen feiert, ohne überhaupt mal einen Punkt machen zu wollen.


(Cocoon, 25 Euro, Annapurna Interactive, eigene Bilder, PS5)

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