Wiktor Szulski sieht nicht besonders gut aus, als ihn russische Soldaten nach seinen schönen Stiefeln fragen. Sein bleiches Gesicht und die blutunterlaufenen Augen wecken zusammen mit seiner extravaganten Kleidung fast Erinnerungen an einen Grafen aus Transsilvanien. Tatsächlich teilt er einige okkulte Interessen mit Dracula und kann Menschen ähnlich manipulieren, wenn er genug über sie weiß. Aber er ist kein Blut saugender Vampir, sondern ein Dämonen jagender Thaumaturg. Und wie der griechische Begriff andeutet, kann er sogar kleine Wunder vollbringen. Aber im Polen des Jahres 1905 wird seine Hexerei fast so verabscheut wie die Schergen des Zaren.
Das alte Warschau
Es geht in diesem Rollenspiel also nicht um das Handauflegen oder Erweckungen wie in den Legenden über Nikolaus von Myra, der ebenfalls Thaumaturg genannt wurde. Der Name dieses Heiligen, der "Sieg des Volkes" bedeutet, passt trotzdem doppelt gut zur Geschichte dieses im Stile von Baldur's Gate inszenierten Abenteuers. In schräger Draufsicht erkundet man das alte Warschau des Jahres 1905 in gediegenen Farben und einer Fülle an architektonischen Details samt authentischer Fotografien. Zu den feinen Bezügen gehört auch die klassische Musik: Man kann z.B. Schallplatten von Frédéric Chopin finden, der auch in der Stadt lebte.
Die prächtige Kulisse im Stile des Historismus ist nicht weniger als eine sehr gut recherchierte Liebeserklärung an die Stadt an der Weichsel. Man begegnet vielen Wahrzeichen, darunter der 1792 errichtete Powązki-Friedhof, der auch Schauplatz für einige Quests ist, oder das 1825 erbaute Theater, das damals das größte in Europa war. Statt einer offenen Welt gibt es kompakte Areale, die über eine Stadtkarte verbunden sind, darunter repräsentative Bezirke mit ihren Hotels und verarmte Slums. Leider kann man die Kamera nicht drehen, also werden manche nicht sichtbaren Winkel erst später transparent. Aber man kann in die Gassen und Gebäude hinein zoomen, um sich eine eine Bar, eine Statue oder ein Plakat genauer anzusehen.
Man kann eine Kutsche oder die Straßenbahn für die Schnellreise nutzen oder die Tageszeit über eine kleine Pause an Bänken ändern, um zur richtigen Zeit an einem Ort zu sein. Das Leben in den Straßen wird über Zeitungsjungen, Verkaufsstände, Passanten und Gruppen dargestellt. Man schnappt hier und da Sprüche und Kommentare auf, aber es wirkt bis auf wenige Interaktionen recht statisch. Das Erlebnis besteht aus Erkundung, Rundenkämpfen sowie Dialogen bzw. Quests. Und das ist gut.
Die Frage der Revolution
Denn dieser Fokus ist ein Zeichen, dass das Studio gereift ist und aus den Fehlern all zu vielfältigen Spieldesigns gelernt hat. Außerdem passt diese Beschränkung auf das Wesentliche zum Schwerpunkt mit seinem historischen Szenario, denn man erlebt nicht nur eine visuelle, sondern auch erzählerische Zeitreise. Polen wurde ja schon gegen Ende des 18. Jahrhundert zum Spielball zwischen Preußen, Habsburg und Russland, die es unter sich aufteilten. Seit dem Wiener Kongress von 1814/15 gab es zwar ein Königreich Polen, aber das war erstens nur ein Teilgebiet und zweitens nur theoretisch unabhängig, denn der russische Zar Nikolaus II. herrschte in Personalunion - er hat auch früh einen Auftritt im Spiel.
Während die Industrialisierung durch Fabriken, Eisenbahnen & Co voranschritt, wuchs parallel mit der Arbeiterbewegung der Unmut gegen die russische Fremdherrschaft. Es folgten mehrere Aufstände, zehntausende Polen flüchteten in den Westen, gleichzeitig entwickelte sich Warschau zu einer prächtigen europäischen Metropole. Aber das Königreich Polen wurde nach einem erfolglosen Partisanenkrieg 1863/64 aufgelöst. Es wurde komplett von Russland annektiert und sollte sowohl auf preußischer als auch russischer Seite seiner Identität beraubt werden, indem man die Sprache aus der Öffentlichkeit verbannte und sogar die Bezeichnung Polen unter Strafe stellte.
All das wird im Spiel spürbar, wenn man am Bahnhof in Warschau ankommt und Schilder mit durchgestrichenen Namen sieht. Der Zar herrscht über die Stadt mit einem brutalen Gouverneur als Marionette sowie seiner Geheimpolizei, der so genannten Ochrana, die gegen politische Abweichler und potenzielle Rebellen vorgeht. Ihre Agenten haben einiges zu tun, denn es liegt etwas in der Luft, was das Spiel in kleinen Konflikten gut darstellt. Es beginnt ja 1905, genau in dem Jahr, aber noch einige Monate bevor die russische Revolution in St. Petersburg ausbrach. An ihr beteiligte sich zeitgleich die polnische Arbeiterbewegung und Bevölkerung, zumal der Zar auch Polen für den Krieg gegen Japan rekrutieren wollte.
Für einige gilt dieser von Rosa Luxemburg (1871-1919) vorausgesagte sowie Länder übergreifende Aufstand als der erste Dominostein, der das Zarenreich 1917 zu Fall brachte. Die in Polen geborene Politkerin wird wie andere Persönlichkeiten der Zeit, darunter Marie Curie (1887-1934), im Spiel erwähnt. Aber das ist alles andere als linear konzipiert und kann je nach Entscheidungen von Wiktor in eine ganz andere Richtung als jene einer sozialdemokratischen Revolution laufen.
Innere und äußere Dämonen
Alles ist in einem der etwa zwölf Enden möglich, in fast jeder persönlichen, politischen und historischen Konsequenz - das ist also keine heroische Einbahnstraße zur Befreiung Polens vom russischen Zaren. Man kann quasi komplett egoistisch spielen, gleich in einer der ersten Szenen eine Figur des Widerstands der Polizei ausliefern, Leute an die Presse verkaufen, Mörder decken und versuchen, sich aus der Politik rauszuhalten. So einfach ist das natürlich nicht, denn die rivalisierenden Fraktionen sind Teil der Quests. Und Wiktor wird im Laufe des etwa 20- bis 25-stündigen Abenteuers auch Bekanntschaft mit den russischen Agenten der Ochrana machen. Doch zunächst hat er andere, rein persönliche Probleme.
Es geht um die Zähmung seiner inneren und äußeren Dämonen, darunter seine Vergangenheit. Er hasst seinen Vater, hat sich von seiner Familie emotional entfremdet und seine Heimat Warschau als junger Mann verlassen. Nur der Brief seiner Schwester über den plötzlichen Tod seines Erzeugers lässt ihn fünfzehn Jahre später zurück nach Polen reisen. So wird die Neugier auf die biografischen Lücken und Konflikte einer Story geweckt, die mich in vielerlei Hinsicht positiv überrascht hat. Nicht nur weil sie Geschichte und Fiktion so geschickt verwebt, und bis zum Finale so angenehm offen ist, sondern weil sie auf fast romanhafte Art in aller Geduld erzählt wird.
Natürlich ist das nicht vergleichbar mit Klassikern der Literatur wie Tolstois Krieg und Frieden (1867) oder Dostojewskis Schuld und Sühne (1866). Vielleicht lasse ich mich auch durch Mode und Architektur des Historismus zu diesem Vergleich hinreißen. Aber ein wenig vom Geist der Klassiker wird aufgrund der detaillierten gesellschaftlichen Beobachtungen sowie Gedanken Wiktors spürbar und es entsteht eine gemütliche literarische Stimmung. Wenn er ein Objekt untersucht, analysiert er es fast poetisch, denn als Thaumaturg kann er den darin gespeicherten Gefühlen und Gedanken nachspüren, kann Aggressionen, Eifersucht oder Gier an einem Schal, einer Uhr oder einem verkohlten Balken entdecken.
Automatisierte Schlussfolgerungen
Die Schattenseite dieser Fülle an meist gut geschriebenen Texten und Notizen liegt darin, dass es den Entwicklern nicht gelingt, sie aktiv in das Rätseldesign einzubinden. Ich kann relevante Objekte nicht genauer untersuchen, also nichts drehen, wenden oder sonstwie inspizieren. Ich kann auch keine Schlüsselwörter oder Geheimnisse in Texten finden oder kombinieren. Sprich: Obwohl detektivisches Potenzial in dieser Suche nach Motiven oder von Dämonen besessenen Menschen liegt, muss ich nie selbst Indizien ordnen oder schlussfolgern.
Ich muss in relativ kleinen Arealen lediglich alle nötigen Spuren finden, indem ich die Sicht des Thaumaturgen einsetze, die alles in einem kreisrunden Radius um mich herum enthüllt. So werde ich meist offensichtlich dorthin geführt. Das ist nicht das Problem, aber wenn dann alles eingesammelt ist, gibt es automatisch die Zusammenfassung der Erkenntnis - und damit die Lösung einer Quest. Nur in wenigen Situationen, wenn man z.B. seinem Dämon durch entfernte Lichtkreise folgen soll, wird es ein klein wenig anspruchsvoller, aber nicht wirklich knifflig. Hier hätte ich mir mehr Puzzleflair gewünscht.
Das heißt nicht, dass man nicht nachdenken muss. Denn als Richter muss ich in vielen Situationen entscheiden, ob ich jemanden verrate oder decke. So entsteht also durchaus eine Qual der Wahl auf moralischer und erzählerischer Ebene. Und trotz der spielerischen Anspruchslosigkeit gerät man durchaus ins Grübeln und es öffnet sich nicht nur aufgrund der gut geschriebenen Texte ein atmosphärisches Tor in diese Epoche. Dazu tragen auch gekonnte filmische Überleitungen sowie richtig gute Dialoge bei, die zwar nicht immer exzellent sind, aber die in ihrer Gesamtheit über das Niveau gewöhnlicher Rollenspiele hinausgehen. Ich habe gerne zugehört und kommuniziert, weil sie vielfältig und glaubwürdig auftreten. Zwar sind die Bewohner der Stadt meist Statisten, die man nicht ansprechen kann.
Aber die relevanten Figuren reagieren auf das Gesagte. Man kann auch der Abneigung gegenüber seiner Familie freien Lauf lassen, seiner Schwester z.B. kalt und zynisch oder versöhnlicher begegnen. Man trifft enttäuschte Jugendfreunde, die man einfach so zurückließ, oder die Bäckerin, bei der man sich als Junge so einige Leckereien besorgte. Die Dialoge sind zwar nicht so ausführlich oder relevant wie in Planescape Torment oder Disco Elysium, es gibt keine taktische Dynamik über rhetorische Fähigkeiten samt Würfelproben. Doch die wichtigen Nebencharaktere wie seine Schwester merken sich Antworten, was sofort angezeigt wird, so dass sich später vielleicht einige Gesprächs- und Handlungsoptionen verschließen oder öffnen.
Salutoren in vier Kategorien
Noch wichtiger als die Geister der Vergangenheit sind die Dämonen einer spirituellen Parallelwelt, in der slawische Fabelwesen wie der Bukavac ihr Unwesen treiben. Weil diese von den Lastern der Menschen angelockt werden und sie so verstärken, dass eine ganze Gegend in Streit und Gewalt versinkt, kann man als Thaumaturg durchaus heilen - wenn man über das oben erwähnte Sammeln von Hinweisen ihren Wirt aufspürt und den Dämon aus ihm vertreibt. Übrigens hat dieser Aspekt des Exorzismus sowie der slawischen Mythologie eine gegenwärtige politische Dimension im katholischen Polen, denn Therapien gegen die Beherrschung vom Teufel sowie die Abwertung der vorchristlichen Mythologie und Folklore gehören zur konservativ-nationalistischen Weltanschauung.
Aber zurück zum Spiel: In den Schlüsselszenen kann Wiktor die Dämonen in einer Art Bosskampf besiegen und später zähmen, um seine Fähigkeiten zu nutzen. Jeder dieser Salutoren gehört einer von vier Kategorien an: Herz, Hand, Hirn oder Zunge. Es gibt keine klassischen Charakterwerte wie Stärke, Geschick & Co, man kann seine Erfahrungspunkte, die man fast nebenbei durch das Sammeln von Notizen, Objekten, Betrachten von Sehenswürdigkeiten oder im Kampf gewinnt, lediglich in die Entwicklung dieser vier Talente investieren. Sie können entweder die eigene Gesundheit oder den Fokus erhöhen und schalten neue Gefechtskarten samt Verstärkungen frei.
Animierte Kartentaktik
Apropos: Wie laufen die rundenbasierten Kämpfe ab? Es handelt sich um animierte Kartentaktik mit Spezialeffekten, ohne dass es eine Bewegung im Raum gibt. Aber dafür hat man all seine Salutoren dabei, mit denen man gezielt Widerstände brechen und attackieren kann. Es geht darum, die Lebenspunkte seiner Feinde zu dezimieren, indem man pro Runde eine Aktion von Wiktor sowie die Aktion eines Salutors möglichst effizient kombiniert. Man hat die Wahl aus schnellen oder langsamen Manövern und kann sehen, wann die Feinde agieren würden. Da man selbst verletzt wird, gilt es möglichst schnell den Widerstand der Gegner zu brechen, der ebenfalls an Herz, Hand, Hirn oder Zunge gebunden ist. Jeder Salutor kann eines dieser Elemente deaktivieren, so dass sie ihren Schutz oder ihre Spezialfähigkeit verlieren. Kann man ihre Fokuspunkte auf null bringen, brechen sie zusammen und sind offen für massive Angriffe, die ihnen meist den Garaus machen.
Diese Rundengefechte laufen angenehm flott ab und werden taktisch flexibler, sobald man nicht nur einen oder zwei, sondern vier Salutoren samt ihrer Spezialitäten zur Verfügung hat. Etwas seltsam sieht es aus, wenn ein Gewehr weniger Schaden macht als ein Fausthieb, oder wenn Zuschauer trotz der blutigen Auswirkungen klatschen. Überhaupt kann sich die Regie manchmal nicht zwischen Prügelei und Kampf auf Leben und Tod entscheiden und so manches Gefecht mitten in der Stadt wirkt daher wie ein Fremdkörper.
Aber die Salutoren sind ansehnlich animiert, es sieht cool aus, wenn sie sich wie Schlangendämonen von hinten nähern, wie Bestien aus der Hölle beißen oder wie schrille Vögel ins Ohr schreien. Allerdings laufen sie erstens recht ähnlich ab, zumal ich fast immer dieselbe Taktik verwenden konnte und auf der normalen Stufe selbst mit Bossen im Hintergrund kaum in Schwierigkeiten geriet. Zweitens waren sie irgendwann zu oft unausweichlich, obwohl man eine kommunikative Lösung hätte anbieten können. Sprich: Die Rundengefechte sind okay, aber können irgendwann langweilen. Auch das Kombinieren der Gefechtskarten mit Spezialfunktionen war nicht besonders reizvoll.
Interessanter ist, dass sich die Stufe der Talente auf mögliche Schlussfolgerungen und Dialogoptionen auswirkt, so dass man diese vielleicht erst mit Herz 2, Hirn 3 oder Zunge 4 auswählen kann. Wenn ich z.B. mehr Hirn gehabt hätte, dann hätte ich eine Situation während einer Séance eleganter lösen können. Aber diese Dialogoption war ausgegraut, also musste ich der Lady recht brüsk ihr intrigantes Verhalten vorwerfen und plump einen Skandal mit politischer Nachwirkung auslösen - immerhin ist das die Tochter des Gouverneurs, der als Schlächter von Warschau gilt. Es gibt so einige entscheidende Situationen, gleich zu Beginn es Spiels, die sich darauf auswirken, welches der etwa ein Dutzend möglichen Enden man erleben wird. Und das Schöne ist wie gesagt, dass alles im Finale möglich ist.
Als stolzer Thaumaturg startet man mit einem Fokus auf das dazugehörige Herz, dem wiederum ein Dämon namens Upyr zugeordnet ist. Das ist ein cool designter Totenkopf-Dämon mit Pelzmütze und Stock, den er im Kampf hinter seinen Feinden in den Boden rammt oder mit seinen Säbeln austeilt. Nur ist Wiktor zunächst so geschwächt, dass er die Verbindung zu ihm verloren hat. Also sucht er selbst im Kaukasus nach Heilung, und zwar bei keinem Geringeren als dem russischen Wanderprediger Rasputin, der von 1869-1916 gelebt hat und der mit dem Zaren Nikolaus II. befreundet war.
Auch das ist ein geschickter Kniff der Story, der die spannende Frage schwelen lässt, ob man ihm denn trauen kann. Denn nachdem Rasputin ihn tatsächlich mit seiner Hypnose heilt, so dass Wiktor wieder mit Upyr verbunden ist, reist er zusammen mit ihm nach Warschau. Und jedesmal, wenn man einen weiteren der acht Salutoren beherrschen will, braucht man Rasputins Hilfe. Aber irgendetwas an dieser charismatischen Gestalt bleibt selbst dem sonst so tief in Menschen blickenden Wiktor verborgen.
Seven: The Days Long Gone
Ich möchte abschließend nochmal auf die Entwickler Fool's Theory eingehen. Die Polen, darunter einige Witcher-Veteranen, feierten ja 2017 mit Seven: The Days Long Gone ihr Debüt. Dieses isometrische Cyberpunk-Rollenspiel hatte einige tolle Ansätze in der Schleichtaktik und ebenfalls ein frisches Szenario. Doch es wirkte mit seiner offenen Welt zwischen Magie und Lasern, zwischen Shadowrun, Thief und Assassin's Creed manchmal ebenso anziehend wie überfüllt und chaotisch. Ich schrieb damals:
"Zwischendurch gibt es immer wieder Highlights in einigen situativen Quests mit coolen Charakteren sowie den unterhaltsamen Dialogen, zumal der Mythos zwischen Altvorderen und Dämonen neugierig macht. Aber hier hat sich das ebenso talentierte wie überambitionierte Team mit viel zu vielen Features übernommen – es fehlt ganz einfach die Reife im Spieldesign. Man hätte sich auf weniger, aber dafür poliertere Inhalte konzentrieren und ganze Teile wie das Crafting und die Anleihen an modernen Open-World-Komfort wie eine mit Symbolen überladene Karte sowie Sammelreize streichen sollen."
Ich wurde noch solide unterhalten, was vor allem an der Story lag, die einige Spieldesignmängel kompensieren konnte. Die sorgten zusammen mit den Bugs auch international für durchwachsene Kritiken. Das war schade, denn das Potenzial war wie erwähnt erkennbar. Doch das Spiel servierte erst nach mehreren großen Patches sowie zwei Jahre später in der Enhanced Edition von 2019 ein harmonischeres Erlebnis - übrigens auch auf der PlayStation 4. Aber fünf Jahre später ist das Team offensichtlich gereift. Denn es beherzigt einige der Ratschläge und präsentiert ein zweites isometrisches Rollenspiel, das mit Warschau des 20. Jahrhunderts ebenfalls einen interessanten Schauplatz bietet, gleichzeitig deutlich reduzierter und fokussierter designt ist. Akrobatik, Stealth, Crafting & Co hat man komplett gestrichen. Und so kommen die erwähnten erzählerischen Stärken besser zum Tragen.
FAZIT
Dieses Rollenspiel ist eine akribisch recherchierte Liebeserklärung an das alte Warschau. Und es besitzt eine eigene erzählerische Melodie, die mich in ihrer Ruhe und Bedächtigkeit an die Erzählweise von Romanen des späten 19. Jahrhunderts erinnert hat. Auch hier wird die Biografie eines Helden sowie die Geschichte einer Familie überaus elegant mit den Ereignissen ihrer Zeit verwoben. Aufgrund der gesellschaftlichen Beobachtungen sowie Gedanken Wiktors entsteht eine gemütliche, fast literarische Stimmung, obwohl das Szenario überaus stürmisch ist und so manche Entscheidung brutale Konsequenzen nach sich zieht. Denn im Jahr der russischen Revolution entscheidet man mit seinen Handlungen darüber, welches Schicksal einem selbst, seiner Familie und dem Land blüht. Das ist also keine heroische Einbahnstraße zur Rettung Polens vor dem Zaren, denn am Ende der 20 bis 25 Stunden ist alles an persönlichen und historischen Konsequenzen möglich. Diese Offenheit hat mir ebenso gut gefallen wie die Dialoge, wohingegen mich das rundenbasierte Kampfsystem irgendwann taktisch gelangweilt hat und die thaumaturgische Hinweissuche leider ohne eigenes Kombinieren nahezu automatisch ablief. So wirkte es manchmal, als würde man als okkulter Detektiv auf einer all zu leichten Schnitzeljagd immer direkt zum nächsten Ziel geführt. Es gibt nur englische Sprachausgabe und deutsche Texte, aber ich mag sowohl die Stimme von Wiktor als auch die meisten anderen Sprecher. Trotz der spielerischen Defizite hat sich das Studio von Fool's Theory hier eindeutig entwickelt und nach dem überambitionierten The Days Long Gone ein reiferes Rollenspiel abgeliefert, das mich gut unterhalten hat. Das letzte Abenteuer, das diese eindringliche erzählerische Wirkung auf mich hatte, war das sehr empfehlenswerte Roadwarden von 2022, das übrigens auch aus Polen kommt.
(The Thaumaturge, Fool's Theory, 11bit Studios, PS5, eigene Aufnahmen)
PS: Damit die Diskussion an einer Stelle gebündelt wird, kann man nicht hier, sondern nur im Forum unter Kommentare zu Berichten kommentieren.
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