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Vertiefung: Zurück nach Morrowind

Autorenbild: Jörg LuiblJörg Luibl

So viele Spiele aus alten Zeiten kehren zurück. Man startet sie voller Erinnerungen an durchzockte Nächte, freut sich auf die Helden und Abenteuer von damals. Aber manchmal stellt man früher als einem lieb ist fest, dass sich etwas mehr verändert hat als nur die Technik. Was bleibt, ist ein wehmütiges Seufzen.


Man kann diesen besonderen Ort nicht mehr erreichen, er wirkt trotz der Modernisierungen wie ein versiegelter Lost Place: Man beschreitet dieselben Pfade, erkennt aber keine Zugänge, man schaut sich überall um, aber findet einfach nicht mehr diese früher so offensichtliche Tür hinein.


Man fühlt sich vielleicht wie James in Silent Hill 2, der vom Brief seiner verstorbenen Frau nochmal in diese Kleinstadt gerufen wird, in der man einen Urlaub verbrachte. Genauso wie er kann man nicht widerstehen. Also kehrt man zurück, obwohl man weiß, dass die schöne Zeit vorbei ist, obwohl man ahnt, dass dies ein Wiedersehen mit untoten Nebenwirkungen werden könnte. Ich bin gespannt, wie es sich anfühlt.





Das unvollendete Rollenspiel


In dieser Vertiefung soll es allerdings um einen anderen Lost Place gehen, um ein Rollenspiel aus alten Zeiten, zu dem ich mir ein Remake wünsche. Und das, obwohl mir die Spätfaszination in diesem Genre bisher nur sehr selten begegnet ist, weder in The Bard's Tale noch kürzlich auf der PS5 in Wizardry: Proving Grounds of the Mad Overlord. Natürlich haben es Abenteuer aus der Pionierzeit der 80er besonders schwer.


Doch selbst das erste Baldur's Gate, der große Meilenstein von BioWare aus dem Jahr 1999, wirkte nicht erst im Schatten von Baldur's Gate 3 so viel kleiner. Als ich 2019 in der Enhanced Edition auf der PlayStation 4 wieder losziehen wollte, verlor ich nach wenigen Stunden die Lust. Und mein Ich aus der Vergangenheit war entsetzt über die gefühlte Distanz - mehr dazu in der biografischen Vertiefung. Aber es wäre ohnehin das falsche Spiel für ein Remake.


Jetzt wird es vielleicht ein wenig pathetisch und naiv: Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass irgendwann ein Rollenspiel aus alten Zeiten zurückkehren und all die bösen Geister des Alters und des Zeitgeistes mit kreativer Macht vertreiben kann. Und zwar so beeindruckend, dass man nicht wie z.B. beim Comeback des sehr guten System Shock sagt "Hey, vorbildliches Remake!", sondern dass man voller Erstaunen feststellt:


Hurra, ich bin tatsächlich wieder da!


Nicht alle Spiele eignen sich dafür, auch nicht jene, die damals fast perfekt waren. Aber hinter den sieben Bergen der Videospielgeschichte gibt es einige unvollendete Gipfel, deren Präsenz bis heute nachhallt. Sie müssen für mich gewisse zeitliche Voraussetzungen erfüllen: Es darf nichts aus der zu nahen Vergangenheit des letzten Jahrzehnts sein, wie etwa ein The Witcher 3. Und es darf nichts aus der zu fernen Vergangenheit sein, wie die erwähnten Klassiker.


Außerdem sollte es, irgendwo in dieser chronologischen Mitte, einen so starken Eindruck hinerlassen haben, ein Gefühl von Vorortsein und Abenteuer, dass ich es bis heute vermisse - obwohl ich die Schwächen kenne. Doch gerade weil ich diese in der Rückschau noch deutlicher wahrnehme, gibt es bis heute diese Sehnsucht der späten Vollendung. Ich habe lange überlegt, welches Rollenspiel das sein könnte.


Jeder hat in seiner Vita diese besonderen Jahre des intensiven Spielens, die bei mir um die Jahrtausendwende durch den gerade ergriffenen Beruf als Redakteur prägend waren. Recht klar wurde, dass es um Spiele aus dieser Zeit gehen würde, also um Arcanum, Baldur's Gate 2, Gothic 2, Neverwinter Nights, Planescape Torment, Dark Age of Camelot, Star Wars: Knights of the Old Republic, Vampire: The Masquerade – Bloodlines etc. So einiges davon ist ja als Remake in Arbeit, nur leider nicht Arcanum.


Zurück nach Morrowind


Aber dann hab ich kürzlich im Rahmen meiner Recherche für Double XP#7, die Rollenspielgeschichte mit Jochen Gebauer, zum ersten Mal nach fast zwanzig Jahren wieder ein Lied gehört. Es war "Nerevar Rising" - und das war wie ein Ruf aus alter Zeit ... wow! Plötzlich waren sie da, all die Erinnerungen an The Elder Scrolls III: Morrowind, an seine violetten Hügel und bizarren Konflikte. Die Melodien von Jeremy Soule haben mich innerhalb weniger Akkorde an meinen Schreibtisch des Jahres 2002 zurückgebeamt.





Auch wenn es damals hier und da Kritik an seinem Soundtrack sowie den gefühlt endlosen Schleifen im Spiel gab, ist seine Musik so stark, dass sie dieses Tor öffnen kann. Ich hörte jedenfalls meinen Pentium III rattern, sah meine Töchter zocken, in Sitzsäcken vor dem GameCube, unterwegs in einem verrückten Taxi von Sega. Und ich saß gebeugt über einem 19-Zoll-Monitor, eine Karte von Vvardenfell an der Wand, ein Notizbuch auf dem Schoß - und war mal wieder kaum ansprechbar.


Nintendos Würfel erschien ja 2001, ein Jahr zuvor, zusammen mit dem GBA und der Xbox, für die Morrowind ebenfalls entwickelt wurde - das war Bethesdas erste und überaus riskante Konsolenproduktion. Für mich kam für ein Rollenspiel dieser Art damals nur der PC als System in Frage. Ich war jedenfalls für Wochen in dieser exotischen Wildnis im Nordosten Tamriels unterwegs, in der Rolle eines zunächst namenlosen Gefangenen. Ich wurde gerade befreit, im Namen des Kaisers Uriel Septim VII, um irgendjemandem eine Botschaft von vermuteter Wichtigkeit zu überbringen.


Den Faden wieder aufnehmen


Und kaum lief ich los, war es um mich geschehen. Aber der rote Faden zerfranste bald genauso wie meine Notizen. Und nach einigen Stunden fragte ich mich nicht mehr, worum es dem Kaiser eigentlich ging, obwohl sich da einiges an düsteren Wolken über Morrowind zusammenbraute. Doch warum konnte man als Spieler so abschweifen? Erstens, weil man so viel anderes Interessantes zu tun hatte, und zweitens, weil die Hauptgeschichte nicht zwingend genug erzählt wurde und daher so vor sich hin plätscherte.


Wie gesagt: Es geht um einen unvollendeten Gipfel mit einigen Schwächen, auch im Storytelling sowie der Dialogführung, die es weder mit Baldur's Gate 2 oder gar der moralischen Entscheidungsspannung eines Star Wars: KotOR aufnehmen konnte. Und selbst viel später in der Kampagne, als ich die Dringlichkeit meiner Aufgabe verstanden hatte, schien sich die Story selbst auf die Schippe zu nehmen, wenn sie diese im Angesicht des Untergangs fast relativierte.


Hörte man da etwa die Götter des Spiels über Pläne von Menschen lachen? Oder wollte jemand tatsächlich, dass ich mir für meine Erkenntnis noch Zeit ließ? So manchen Wink im Subtext hatte ich damals nicht verstanden, weil ich das Puzzle an der Oberfläche eines schrecklich konfusen Tagebuchs ständig sortieren musste und hoffnungslos in den Nebenquests der Diebesgilde versank. Denn eines der wesentlichen Merkmale von Morrowind waren ja die vielen Möglichkeiten abseits der Hauptquest. Schon die Charaktererschaffung folgte dem Prinzip: "Stand up... there you go. You were dreaming. What's your name?"


Du bist frei.


Das klingt im Zeitalter der offenen Welten so banal, aber Morrowind definierte sich, ganz in der Tradition von Wizardry sowie eines Pen&Paper-Rollenspiels, konsequent über diese Freiheit. Also eher über die Simulation einer Welt, die man als Fremder ohne Vorwissen erkunden muss, ohne dass man von einem Erzähler so geführt wird wie in einem Adventure. Und ohne, dass man dem Helden einen roten Teppich samt funkelnder Beute am Rande ausrollt.


Es ging also mehr um ein offenes System als nur eine frei begehbare und überaus ansehnliche Kulisse. Über die staunte ich zusammen mit dem Rest der Spielepresse, vor allem über die fantastischen Wassertexturen, die plötzlichen Wetterwechsel und die einzigartige Architektur von Morrowind. Bethesda nutzte erstmals die über Direct3D laufende NetImmerse-Engine, die deutlich besser mit Licht und Schatten umgehen sowie 32-Bit-Texturen darstellen konnte - damals war GeForce 4 das Zauberwort für alle, die das sehen wollten. Hier mal der offizielle, fünfzehn Jahre alte Trailer:




Aber auch unter der Oberfläche wurde es interessant. Mir gefielen die wie Hügelgräber gestalteten Dungeons, die zwar recht klein waren, aber dafür überaus stimmungsvoll samt einiger Überraschungen. Je nachdem, welcher Clan hinter dem Grab steckte, gab es mehr oder weniger zu finden, bis hin zu gar keiner Beute. Und genau das war wichtig, denn so fühlten sich die Orte echter und natürlicher an als später in Oblivion oder Skyrim. Man merkte, dass sie nicht am Reißbrett oder prozedural, sondern in einem Kontext entstanden sind. Daher sammelte man nicht einfach alles ein, sondern war aufmerksamer für kleine Hinweise und freute sich, wenn man tatsächlich einen geheimen Weg oder Schatz finden konnte.


Im tiefen Keller des Weltdesigns


Denn selbst wenn Morrowind keine ausufernden oder gar komplexen Labyrinthe hatte, und in dieser Hinsicht von Skyrim überflügelt wurde, fühlten sie sich hier wie harmonisch gewachsene Bereiche der Welt an. Denn die hatte einen mehrere Etagen tiefen Keller, in den man sich hinab lesen musste, fast wie in einem Planescape Torment. Und das hatte Bethesda vor allem einem Architekten zu verdanken, der ihn entwarf: Ken Rolston. Zwar war Todd Howard der Director, aber die kreativen Fäden liefen bei diesem für Design und Story verantwortlichen Meister zusammen, der schon 1985 den H. G. Wells Award für seine Mitarbeit am Regelwerk des dystopischen SciFi-Rollenspiels Paranoia erhielt.


Das war also ein erfahrener Autor für Pen&Paper-Systeme, der schon für Avalon Hill, Games Workshop und Chaosium aktiv war, wo er federführend am Revival von RuneQuest beteiligt war. Dann stieß er Mitte der 90er zu Bethesda, wo er zunächst für die zwei Elder-Scrolls-Ableger Battlespire (1997) sowie Redguard (1998) schrieb, allerdings nicht in leitender Funktion. Das war vielleicht sogar hilfreich. Denn nachdem Bethesda eine kleine Boomphase erlebte und Mitte der 90er neben LucasArts sowie Interplay zum drittgrößten privat geführten PC-Publisher mit 25 Millionen Jahresumsatz aufgestiegen war, erwiesen sich beide Spiele als kommerzielle Flops. Und das brachte Bethesda an den Rand des Ruins.


Aber die Investition in Rolston sollte sich auszahlen, als man mit Morrowind quasi alles auf eine Karte setzen und zwingend erfolgreich sein musste. Wie wertvoll das sein kann, genau diese Veteranen in das Design von digitalen Rollenspielen zu integrieren, wussten übrigens auch die Larian Studios, als sie ihre Crew für die Story von Baldur's Gate 3 zusammen stellten und Lawrence Schick als "Expert Writer" engagierten. Der machte über zwanzig Jahre Karriere bei TSR als Autor von Abenteuern und war seit 2009 bei Bethesda verantwortlich für die erzählerischen Hintergründe von The Elder Scrolls Online, bevor er zu den Belgiern stieß..


Aber zurück zu Ken Rolston: Was ich zum Zeitpunkt meiner Rezension nicht wusste war, dass ich ihm damals tatsächlich in Morrowind begegnet bin: Und zwar in der Gestalt von Socucius Ergalla, einem Bretonen und leitenden Agent der Steuerbehörde. Von ihm bekam man seine unterschriebenen Entlassungspapiere und konnte später in Akrobatik, Schleichen sowie leichte Rüstung ausgebildet werden.


Zwar war Rolston auch später für Oblivion und Skyrim als Narrative Designer aktiv, aber wie er in einem Interview verriet, musste er im Laufe der Jahre immer mehr Kompromisse eingehen - Bethesdas Studio wuchs, es gab Zielgruppenanalysen, eine viel stringentere Hauptquest und all den Kram von der immer komfortableren Benutzeroberfläche bis hin zu prozeduralen Systemen sowie dem automatischen Mitleveln der Gegner.


Es ist nicht so, dass Rolston das alles ablehnte, und manches davon war vielleicht zwangsläufig, aber für Morrowind konnte er Story, Dialoge und Geschichte noch fast im Alleingang verantworten. Als Spieler ahnte man zunächst nichts von all den mythischen, religiösen sowie politischen Verstrickungen, die sich hinter der Haupthandlung verbargen. Und die sogar schon in der einfachen obigen Frage steckte, ob man vielleicht träumte. Denn eine Krankheit und seltsame Träume plagten die Bevölkerung der Insel nicht ohne Grund.


Fantasy zwischen Ägypten und Dune


Als Spieler wusste man zunächst nur, dass ein Imperium dieses Land der Dunkelelfen namens Morrowind besetzt hatte, die sich selbst Dunmer nannten. Das klang vertraut, erinnerte an das Römische Reich und ließ ähnliche Konflikte vermuten. Und obwohl es wie in Daggerfall einige typische Motive europäischer Mittelalter-Fantasy gab, beschritt Bethesda hier zum ersten Mal innerhalb der Reihe künstlerisches Neuland. Daran hatte natürlich auch Artdesigner Matthew Carofano einen großen Anteil, der übrigens die tolle Inselwelt in Fallout 4: Far Harbor konzipierte.


Alte Geister und Dämonen gab es auch in Morrowind, aber ein angenehmer Hauch des Exotischen umwehte diese Welt, die auf ästhetischer Ebene sowohl Erinnerungen an das alte Ägypten als auch Dune wecken konnte. Zwar gab es keine Sandwürmer, aber man konnte gegen Gebühr auf außerirdisch anmutenden Riesenflöhen zwischen Siedlungen reisen, vorbei an violetten Hügeln, fast wie auf schwankenden Kamelen. Und es ging ähnlich wie bei den Pharaonen um mehr als irdische Macht.


Es gab weit mehr Fraktionen als Besatzer und Besetzte, mehr Völker und Kulturen als die einheimischen Dunmer. Sprich: Man konnte ganz andere Wege als jene des Kaisers einschlagen und sich schlimm darin verirren. Auch im wahrsten Sinne des Wortes, denn alles Sichtbare war auf das Wesentliche reduziert. Man hatte zwar eine Art Minikarte samt Kompassnadel, aber es gab keine GPS-Benutzeroberfläche mit Teleports, nur wenige Ortsschilder und in Quests nur vage geografische Hinweise - ich fühlte mich fast so wie heutzutage in der Wildnis des kleinen, aber feinen Independent-Rollenspiels von Roadwarden.


Die kleine offene Welt


Diese Reduzierung fiel Anfang der 2000er noch nicht so stark auf wie heute, zumal Assassin's Creed erst ein halbes Jahrzehnt später startete. Aber schon ab etwa 2011 änderte sich das Spielverhalten parallel zum Erfolg des wesentlich komfortableren Spieldesigns von The Elder Scrolls V: Skyrim. Es gibt Anekdoten von Skyrim-Veteranen, die von den alten Geschichten angelockt zurück nach Morrowind reisten, nur um dann mit einem regelrechten Kulturschock zu fliehen, weil sie sich dort derart verloren fühlten.


Dabei war dieses Morrowind mit seinen knapp zehn Quadratmeilen nicht nur im heutigen Vergleich klein: Elden Ring kommt z.B. auf 30 und The Legend of Zelda: Tears of the Kingdom, die größte aktuelle Spielwelt, auf 46 Quadratmeilen. Aber auch gemessen an bisherigen Spielen von Bethesda, also Arena (1994) und Daggerfall (1996), die mit ihren prozedural generierten Dungeons entweder ganz Tamriel oder mehrere Gebiete abbildeten, ging es hier nur um die recht kleine Insel Vvardenfell innerhalb der Provinz Morrowind.


Bethesda folgte damals der weisen Einsicht, auch bedingt durch die technischen Limitierungen, dass man so besser verdichten kann. Und man platzierte quasi alles per Hand. Auch wenn das nicht dazu führte, dass sich die Spielwelt besonders lebendig anfühlte, denn da lag Gothic vorn. Man wurde selten in der Wildnis überrascht, die Tierwelt beschränkte sich auf wenige Arten und so manche Wanderung durch die Natur konnte sich so steril anfühlen wie auf einem Mond. Auch in den Städten war es nicht viel besser, es gab kaum ein Kommen und Gehen.


Immerhin hatte fast alles Konsequenzen, denn für das Stehlen und Morden bekam man ein Kopfgeld. Und die NSC konnten sehr ungehalten bis hin zu offener Verachtung auf Kriminelle reagieren. Man fühlte sich dann wie eine Persona non grata, wollte sich sogar selbst anzeigen, um endlich wieder vorstrafenfrei zu interagieren. Aber was manchmal richtig gut klang, konnte schamlos ausgenutzt werden. Denn Händler schimpften zwar, aber niemand folgte einem fliehenden Dieb aus einem Raum nach draußen. Man konnte später einfach wieder bei seinem erbosten Opfer einkaufen. Und für weitere Brüche im Spielerlebnis sorgten bewachte Räume von Lords, die man einfach so an den Wachen vorbei mit gezückter Waffe betreten und durchsuchen konnte. Lediglich bei Diebstahl schritten sie dann erbost ein.


Bücher, Bücher, Bücher


Aber letztlich war es weder die Landschaft noch die Interaktivität, weder der Kampf noch das Questdesign, sondern vor allem die historische und kulturelle Tiefe, die zusammen mit der Musik sowie der Spielwelt eine Art atmosphärische Kuppel erzeugen konnte, unter der viele Schwächen so kompensiert wurden, dass sich dieses frühe 3D-Rollenspiel so stimmungsvoll verwachsen anfühlen konnte wie ein uraltes Reich. Man musste so einiges mit seiner Fantasie ausgleichen, aber dafür hatte man so viel Quellmaterial wie in fast keinem anderen Spiel zur Verfügung.


Ken Rolston und sein Team erschufen ein Labyrinth aus über 300 Büchern über vergangene Kulte, Schlachten und Halbgötter. Man konnte über Zauberei, Vampirismus, Kräuterkunde, Götzendienst lesen – sogar Gedichte und Tagebücher waren dabei. Das war nach Planescape Torment und Baldur's Gate 2 die umfangreichste Lektüre überhaupt in einem Videospiel. Vieles was auf diesen über 1200 Seiten in Morrowind zu lesen war, hat Bethesda dann später für Oblivion und Skyrim wiederverwertet. Überhaupt entstand aus Morrowind so etwas wie ein Baukasten für alle späteren Abenteuer.


In den Büchern des Charakters Vivec gab es schon kryptische Verweise auf das Spieldesign samt Modding; wie schon angedeutet stellen einige Nebenfiguren die Realität des Helden selbst in Frage. Hier betrat man zudem eine Welt mit einem dutzend aktiver Fraktionen, die sich meist auf diese Geschichte bezogen. Sprich: Es gab vertikale Zusammenhänge, zurück in eine mythische Vorzeit, ähnlich wie heute in Elden Ring - mehr dazu in der Vertiefung. Und ähnlich wie in FromSoftwares Abenteuer musste man selbst aktiv werden, um das Rätsel der Weltzusammenhänge zu lösen - allerdings war es damals tatsächlich viel leichter, weil es deutlich mehr als Fragmente zu lesen gab.


Nur ging das damals im Angesicht der grafischen Begeisterung oft unter, zumal viele erzählerisch eher verwirrt waren. Schon der Name aus dem wunderbaren Lied von oben, Nerevar, führte direkt in den mythischen Keller der Story: Denn Indoril Nerevar zog als einer der berühmtesten Fürsten der Chimer, der Vorfahren der dunkelelfischen Dunmer, in die Schlacht am Roten Berg gegen das uralte Volk der Dwemer, das mit seiner Handwerkskunst sowie Magie an klassische Zwerge erinnert. Und auch ein mächtiger Ring spielte eine Rolle. Morrowind knüpfte überaus kreativ an Tolkien'sche Motive an und überzeugte im Weltbau mit einer eigenständigen Kultur.


Um die Bezüge zu Elden Ring rückblickend zu entdecken, reicht schon ein kurzer Abriss der erzählerischen Dimension, die ebenfalls Realpolitik und Übernatürliches verband: Denn ein göttliches Tribunal zog seine Strippen gegen einen abtrünnigen Halbgott namens Dagoth Ur und sein sechstes Haus. Er hatte sich unsterblich gemacht, und wollte das vom Imperium des Kaisers besetzte Morrowind befreien, die Heimat der Dunkelelfen, die sich selbst Dunmer nennen. Und zu Spielbeginn stellten sich nicht nur einige Kultisten die brisante Frage der Folgen einer Wiedergeburt.


Inspiriert durch Glorantha


Das war kein Fantasy-Kitsch, es gab eine innere Dynamik mit Gilden, Sekten und Geheimbünden, mit Drogen, Ausländerhass, dunklen Riten und religiösem Fanatismus, also eher düsteren Erzählstoff. Auch deshalb war das damals Erstfaszination pur, zumal ich Daggerfall nicht gespielt hatte. Aber das wirkte gegen das im wahrsten Sinne des Wortes üppig illustrierte und verwobene Morrowind wie ein steriler Dungeon-Crawler. Wie konnte dieser Sprung in der Entwicklung der eigenen Reihe gelingen?


Rolston orientierte sich bei der Konzeption an einer der bis heute dichtesten Pen&Paper-Welten: Glorantha. Der Amerikaner Greg Stafford (1948-2018) erfand diese mythisch geprägte Fantasy, die im Gegensatz zu Dungeons&Dragons nicht an die Tradition der Wargames, sondern an jene das fantastischen Erzählens anknüpfte. Auch dieser interessante Bezug war mir damals, als ich Morrowind besprach, nicht bewusst.


Stafford beschäftigte sich bereits Mitte der 60er Jahre an der Uni in Wisconsin mit alten Kulturen sowie den Werken von Mircea Eliade (1907-1986) und Joseph Campbell (1904-1987). Letzterer beschrieb ja die so genannte Heldenreise, in dem er eine Quest als zeitlose Wiederkehr sowie strukturierte Entwicklung von Motiven darstellte, der eine Figur nicht nur in Mythologien, sondern auch in Literatur, Film und Spiel folgt. Um es auf drei abzukürzen (denn manche nennen 17): Reise, Verwandlung, Rückkehr.


Die Welt von Glorantha öffnete ihre Tore offiziell 1978 im Pen&Paper-Rollenspiel RuneQuest, für das Ken Rolston später schreiben sollte. Das beeinflusste übrigens auch Hidetaka Miyazaki im fernen Japan, bis hin zur Konzeption von Elden Ring. Was war das Besondere? Vor allem die Vielfalt der Kulturen, die an die europäische Bronzezeit erinnerten, aber auch nichtmenschliche Völker wie Echsenwesen oder Geister sowie die enge Beziehung der Charaktere zu ihren Göttern und Kulten prägten die Spielwelt.


Jene gewinnen dort mehr Einsicht und damit runenmagische Kräfte, die im Kultrang aufsteigen. Reiternomaden, Schamanen & Co erinnerten auch eher an die Sword & Sorcery im Stile eines Conan als an Tolkiens Fantasy. An dieser Stelle fehlt die Zeit, das ebenfalls sehr kreative Charakter- und Kampfsystem von RuneQuest vorzustellen. Es ordnete sich z.B. nicht so strikt einem Levelsystem mit XP unter, erlaubt Magie bzw. die Verbindung zu Runen für alle und nicht nur Zauberer und nutzt Trefferzonen für einen realistischen Kampf.


Die Karriere in Morrowind war ja auch angenehm frei, denn alles regelmäßig Praktizierte vom Feilschen bis zum Kurzschwerteinsatz verbesserte sich. Zwar gab es auch Stufenaufstiege, aber erst wenn man sich in zehn Fähigkeiten um einen Punkt verbessert hatte – egal ob Akrobatik oder Kampfmagie, also reichte das Draufkloppen für XP nicht aus. Apropos: Das war leider auch eine Schwäche des Spiels, denn man war zu früh viel zu stark - die Probleme mit der Balance sollten schon in Oblivion dazu führen, dass man automatisches Mitleveln integrierte. Aber zurück zur Spielwelt, denn ähnlich wie in Glorantha konnte man Gilden bzw. Fraktionen beitreten und dort im Ansehen steigen: vom kleinen Laufburschen bis hin zum ranghohen Mitglied. Schon damals war RuneQuest in der Berichterstattung über Morrowind kein Thema.


Und heute, in Zeiten von D&D, Pathfinder, Warhammer & Co, ist Glorantha eine fast vergessene Welt, es gab ja weder Kinofilme noch große Videospiele. Aber dafür kleine, aber überaus feine Spiele, an denen Stafford sogar mitwirkte: King of Dragon Pass von 1999 (PC, iOS), den Nachfolger Six Ages: Ride Like The Wind von 2018 (iOS, PC) und das aktuelle Six Ages 2: Lights Going Out (PC, iOS), das ich seit gefühlt zwei Jahren besprechen will, denn es ist super - verflixt! Falls ihr ein erzählendes Strategie-Rollenspiel sucht, kann ich das wärmstens empfehlen. Ähnlich wie man in Paradox-Spielen die Geschichte einer Nation erlebt, ist es hier quasi jene eines Clans.


FAZIT


Ich hatte zu Beginn dieser Vertiefung von einer Rückkehr in alte Zeiten gesprochen, und dass man beim Spielen eines Remakes auch immer sein jüngeres Ich beobachtet. Daher lese ich jetzt mal mein Fazit von damals aus meinem Test vor:


"Morrowind bietet die derzeit ansehnlichste 3D-Grafik, das derzeit innovativste Skill-System und die derzeit komplexeste Fantasy-Welt. Aber Morrowind ist nicht der erwartete Überflieger. Das Team von Bethesda hat an wesentlichen Punkten das vorhandene Hit-Potenzial verschenkt: Gerade im Bereich der NPCs zeigen sich deutliche Schwächen. Anstatt realistischer Wassereffekte hätte ich mir mehr realistisches Verhalten gewünscht. Und der hervorragenden Story fehlt der letzte dramaturgische Kick filmischer Zwischensequenzen. Auch die Grafik kann trotz der Landschafts- und Wetter-Highlights nicht restlos begeistern; hinzu kommen die hohen Hardwareanforderungen. Trotzdem: Wenn Ihr in einer erfrischend fremden Fantasy-Welt versinken wollt, die vorbildlich ins Deutsche übersetzt wurde, solltet Ihr Euch von Morrowind verzaubern lassen. Denn selbst mit einigen Inkonsequenzen kann die Dunkelelfen-Saga mehr als nur kurzfristig fesseln. Es ist ein faszinierender Tauchgang in die Untiefen einer düsteren, von Intrigen und Machtkämpfen gezeichneten Welt. Wer Geduld mitbringt und kleine Fehler mit einem Schuss Fantasie ausgleicht, wird mit dem derzeit atmosphärisch dichtesten Rollenspielerlebnis belohnt. Gothic 2 wird es schwer haben."


Zur Erklärung: Damals gab es nur einen Award ab 90 Punkten. Am Ende sollte Gothic 2 in meiner Gunst etwas besser abschneiden und den Award erhalten. Gerade das Figurenverhalten, die Dialoge und das Kampfsystem waren besser. Es gab zwar weniger, aber dafür belebtere Siedlungen und die Leute in der Lagern folgten einem Tagesablauf, wohingegen sie in Morrowind statisch verharrten. Doch dem Spiel von Piranha Bytes fehlte rückblickend Geschichte und Vielfalt als Welt. Außerdem traf es trotz seiner Anziehungskraft und der Verdienste für die Weiterentwicklung des digitalen Rollenspiels einfach nicht diesen epischen Nerv, der auch zum Nachdenken über Questziele, Waffen oder Magie hinaus anregte.


Ganz anders erging es mir in Morrowind: Während des Spielens reflektierte ich irgendwann, als ich die Zusammenhänge endlich begriff, über Mythologie und Geschichte, wie chaotisch, tragisch und launenhaft sie ist, wie schnell der Mensch trotz all seiner Analysen und Forschungen immer wieder in dieselben Abgründe stürzen und dieselben Kriege führen kann. Und über all dem schwebte dieses wehmütige, natürlich auch von der markanten Musik getragene Atmosphäre. Deshalb wünsche ich mir ein offizielles Remake von Morrowind, zumal es in meiner spielhistorischen Gunst ganz klar vor Skyrim und Oblivion rangiert. Allerdings waren die kommerziell deutlich erfolgreicher, auch weil sie weniger Ecken und Kanten hatten. Nicht nur deshalb ist es unwahrscheinlich, dass Bethesda diesen wichtigsten Gipfel des Studios vollenden wird. Denn das konnten die beiden Erweiterungen Tribunal (2002) und Bloodmoon (2003) ebensowenig leisten wie The Elder Scrolls Online, das seit 2014 als MMORPG läuft und mich nach einem Besuch recht schnell wieder flüchten ließ.


Mit diesem Wunsch nach einer Rückkehr in eine komplett neu errichtete Welt der Dunkelelfen stehe ich trotzdem nicht alleine da. Es gibt ein überaus leidenschaftliches, nicht kommerzielles Modding-Projekt namens Skywind, das The Elder Scrolls III: Morrowind von grundauf mit der Skyrim-Engine nachbaut. Allerdings braucht man da recht viel Geduld, denn Freiwillige werkeln schon seit 2012 daran, ohne dass es bisher einen festen Termin gibt.


Und wer weiß, vielleicht ist The Elder Scrolls VI vorher fertig. Todd Howard & Co entwickeln und spielen bekanntlich schon diesen sechsten Teil, der frühestens 2026 für PC und Xbox erscheinen soll, auf Grundlage der Creation Engine 2, die ja in Starfield ihre Premiere feierte. Damit wolle man nicht weniger als "the ultimate fantasy-world simulator" erschaffen.


Hört, hört...


Zum Abschluss dieser Satz von Dagoth Ur, dem Bösewicht aus Morrowind:


"What a fool you are. I'm a god. How can you kill a god? What a grand and intoxicating innocence. How could you be so naive? There is no escape. No Recall or Intervention can work in this place. Come. Lay down your weapons. It is not too late for my mercy."


PS: Ab sofort befindet sich Morrowind in meiner Schatzkiste, als einziges Spiel der Elder- Scrolls-Reihe.

21 comentarios


Stefan84
05 nov 2024

Ich kann mich noch erinnern als ich Morrowind damals angespielt habe. Lange gezockt habe ich es nicht.


Morrowind hatte einfach im Vergleich zu Gothic/Gothic2, das mit seiner dreckigen "Du blöder Arsch - Mentalität" glänzte, keine Chance mit seiner sterilen und weitgehend leeren Welt und der aristokratischen Sprache. Das sind aber alles Kritikpunkte, die ich an jedem ElderScrolls-Titel auszusetzen habe. Oblivion gefiel mir aus ähnlichen Gründen nur begrenzt. Erst mit Skyrim wurde ich mit der Serie warm.


Klar, heute weiß ich um die Qualitäten eines Morrowind im Vegleich zu vielen modernen Titeln. Damals hab ich das jedoch, leider, schnell zur Seite gelegt.

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alex.strellen
12 oct 2024

Nach Lektüre dieser Vertiefung finde ich es nun richtig schade das ich Morrowind nur 1x kurz angespielt hatte. Ich fand es tatsächlich sehr interessant, hatte es dann aber aus den Augen verloren. Die Gründe sind mir nicht mehr bekannt. Wahrscheinlich gab es in dem Jahrgang jede Menge andere, auch gute Spiele.

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godsinhisheaven
godsinhisheaven
09 oct 2024

Da drücke ich dir lieber Jörg alle Daumen, dass du dein Remake bekommst.


Als JRPG-Enthusiast durfte ich mit der Xenoblade Definitive Edition bereits erneut in einen meiner All-Time-Favourites eintauchen. Das Original war 2011 für mich persönlich die Wiedergeburt des JRPG. Final Fantasy war gerade (für mich) am Tiefpunkt und die Trails Reihe war im Westen noch nicht bekannt und dessen Epos nicht absehbar. Dies entspricht mit 9 Jahren Abstand zwar nicht den zeitlichen Voraussetzungen deines Aufsatzes aber ich habe mich tatsächlich auf dem Bionis wieder wie zu Hause gefühlt. Ein Gefühl, das zum Beispiel das hervorragende Resident Evil 2 Remake nicht auslösen konnte.


Und erneut konnten mich in Xenoblade die Symbiose aus Geschichte und Weltdesign, samt unendlich kreativ, vertikal designten…


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Jörg Luibl
Jörg Luibl
09 oct 2024
Contestando a

Nein, nein, Xenoblade wird zurecht gelobt.;)

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Labrador Nelson
Labrador Nelson
09 oct 2024

Dann werd ich wohl schauen, was für Mods Morrowind einigermaßen optisch und spielerisch heutzutage erträglich machen und mal wieder reinspielen. Mal sehen obs mich wieder packt. Selbst damals musste ich mich für jede Spielsession ein wenig zwingen, kam dann aber immer gut rein. Durchgespielt hab ichs trotzdem nie.

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bronto
bronto
09 oct 2024

Ausnahmsweise kann auch ich mal auftrumpfen:


Damals wurde Fantasy durch die Herr der Ringe Verfilmung quasi endgültig bei einem breiteren Publikum salonfähig gemacht, Fellowship of the Ring schlug ja ein wie eine Bombe. Und man sehnte sich etwas Vergleichbares selbst (digital) erleben zu können und da kam Morrowind zur richtigen Zeit, wie auch andere extrem erfolgreiche Titel später. So war halt mein Eindruck.


Und diese Liebe zum Detail, wie die Karte in der wunderbaren Box war pures haptisches Glück. Sowas geht heute ab und kommt auch nie wieder, auch das Ins-Geschäft-Gehen, Sehen, Kaufen, langwierige Installieren - dieses zeitraubende Vorspiel hatte seinen gewissen Charme. Das ab circa 2010 gängige schnelle Klicken und Downloaden erleichterte die Distribution ungemein, aber ließ die Welt…


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Jörg Luibl
Jörg Luibl
09 oct 2024
Contestando a

Ach, was schön - da ist sie ja, die Karte! Danke dafür, ich hätte mich erstmal durch den Keller kämpfen müssen. Und ja, ein Remake müsste radikal sein.;)

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