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Game Studies: Digital Games and the American Gothic (Tanya Krzywinska)

Was denken Soziologen, Philosophen und Kulturwissenschaftler über Spiele? Über was wird in den Game Studies diskutiert? Ich habe diese Reihe mit Auf Abwegen - Folk horror, Videospiel und das Problem der Natur von Daniel Illger begonnen. Es gibt dazu unter Berichte eine eigene Kategorie, in der ihr alle bisherigen Beiträge über Game Studies findet.


Diesmal geht es um die literarische Gattung des so genannten American Horror, der man immer häufiger in Videospielen begegnet - bei mir war es z.B. das Point&Click-Adventure Black Mirror im Jahr 2003. Und ich möchte schonmal darauf hinweisen, dass ich morgen im Podcast ausführlich mit dem Anglisten Christian Wilken über die Ursprünge, die Entwicklung und bekannte Vertreter dieser unheimlichen Geschichten wie E.A. Poe und Ray Bradbury spreche.


Tanya Krzywinska, Professorin für Screen Studies an der Londoner Brunel-Universität, wo sie u.a. den Promotionsstudiengang „Digital Games: Theory and Design” leitet, geht in ihrem 2013 veröffentlichten Aufsatz Digital Games and the American Gothic: Investigating Gothic Game Grammar der Frage nach, inwiefern der American Horror in modernen Videospielen erkennbar ist.


Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung stehen das Action-Adventure Alan Wake von Remedy (2010), das mit seinem Thema u.a. von Stephen King inspiriert ist, und das Online-Rollenspiel The Secret World von Funcom (2012), das eher von H.P. Lovecraft und Geheimgesellschaften geprägt ist. Kleine Anmerkung dazu: Das MMO wurde 2017 aufgrund zu weniger Abonnenten eingestellt und durch einen Nachfolger auf Free-to-play-Basis namens Secret World Legends fortgeführt.


Secret World Legends ist der Nachfolger von The Secret World. Funcom, 2017.
Secret World Legends ist der Nachfolger von The Secret World. Funcom, 2017.

Ich zitiere an dieser Stelle nur einige Auszüge in deutscher Übersetzung, die vielleicht interessant sind.


Zunächst geht sie auf das "American" innerhalb des Begriffs ein:


"Spiele, die American Gothic einsetzen, werden nicht unbedingt von Amerikanern entwickelt, und das Amerika, das in solchen Spielen zu sehen ist, ist eine textuelle und fiktionale Eigenschaft, die aus einem Netz intertextueller und interkultureller Reflexionen und Brechungen gewoben ist. Darüber hinaus ist der nationale Akzent des American Gothic auch nicht der einzige Faktor, der einem Spiel seine Form und seinen Charakter verleiht. (...) American Gothic lässt sich vielleicht am besten als eine Variante des Gothic mit einem besonderen Akzent verstehen. Angesichts der Langlebigkeit der Gothic-Literatur ist es nicht verwunderlich, dass sie sich weiterentwickelt und verändert hat und dass es infolgedessen eine „Palette” möglicher Akzente und Varianten gibt, die den Gothic ausmachen. Wir können von nationalen Varianten sprechen, aber es gibt auch viele andere Varianten, die nicht so stark in der Nationalität oder Geografie verankert sind."


Krzywinska erklärt die Schwierigkeit einer klaren Definition, weil beliebte Themen und Motive in der Unterhaltung keine Grenzen kennen, quasi auswandern und zurückkehren können - wie etwa in Silent Hill:


"Die amerikanische Populärkultur mag weltweit allgegenwärtig sein, wird jedoch häufig in Spielen mit anderen Akzenten referenziert und neu kontextualisiert. Die Silent Hill-Reihe, die

in den USA spielt, aber von einem japanischen Entwicklerstudio produziert wird, ist ein gutes

Beispiel dafür. Es gibt viele Spiele, die von nordischen, britischen, kanadischen

und japanischen Entwicklerfirmen hergestellt werden, die einen amerikanischen Gothic-Akzent

neben traditionellen Gothic-Themen verwenden und die Handlung und das Geschehen

in einer Version der Vereinigten Staaten ansiedeln. Was ein „amerikanisches Gothic-Spiel” ausmacht, ist daher alles andere als einfach und wirft einige knifflige Probleme auf."


Und da ich auf Spielvertiefung des Öfteren über Brettspiele spreche, sei auch diese Unterscheidung von Krzywinska erwähnt: "Da die Regeln in digitalen Spielen für den Spieler nicht sichtbar sind und weitgehend unverhandelbar sind, unterscheidet sich das Spielerlebnis eines digitalen Spiels sehr stark vom Spielen eines Brettspiels. Bei einem Karten- oder Brettspiel muss sich mindestens eine Person

um die Spielregeln kümmern und möglicherweise den Punktestand notieren (was zu Streitigkeiten führen kann, aber auch Kreativität und Verhandlungsgeschick fördert). Es gibt sicherlich viele Brettspiele, Kartenspiele oder Tabletop-Rollenspiele mit Gothic-Thematik, zum Beispiel Call of Cthulhu (Chaosium Games, 1981), Arkham Horror (Fantasy Flight Games, 2005) und The Glooms (Atlas Games, 2004), aber unser Fokus liegt auf digitalen Spielen."


Aber jetzt zu Alan Wake, in dem sie klare Bezüge zur Autoren und Motiven des American Horror erkennt:


"Der starke amerikanische Akzent wird durch die geografische Lage deutlich, da der Großteil des Spiels in Bright Falls, Washington, einer fiktiven Kleinstadt, spielt. Er ist auch in den dichten Anspielungen auf Stephen King als Autor und seine Fiktion sowie in den Anspielungen auf amerikanische Gothic-Horrorliteratur aus den „hintersten Wäldern” präsent. Wie

auch in Geschichten amerikanischer Gothic-Autoren wie Poe, Melville und James sieht sich Wake mit einer Vielzahl unlesbarer Zeichen konfrontiert und zeigt regelmäßig eine „mangelnde interpretative Sicherheit”."


Dazu gehört auch die nebulöse Dunkelheit, die Helden in den Wahnsinn treiben kann:


"Von Anfang an erfahren wir, dass Wake ständig von „der Dunkelheit“ bedroht ist, die sich auf vielfältige Weise manifestiert und somit verschiedene Aktionen des Spielers erfordert. Diese böse Macht verwandelt gewöhnliche Menschen in mörderische Wahnsinnige, ein Stilmittel, das sich auf eine Reihe amerikanischer Gothic-Horror-Texte stützt, von Herschel Gordon Lewis' 2,000 Maniacs

(1964) und The Deliverance bis hin zu The Shining – Kings Roman (1977) und Kubricks Verfilmung (1980)."


Interessant ist, wie Krzywinski den Übergang zum American Horror im Online-Rollenspiel The Secret World über eine Frage der linearen oder offenen Spielwelt einleitet:


"Alan Wakes Variante des amerikanische Gothic greift nicht nur auf die atemlose Achterbahnfahrt-Handlungsstruktur von Stephen King zurück, sondern auch auf andere gotische Traditionen wie die grellen Inszenierungen und Manipulationen des Grand Guignol-Theaters und des Geisterzugs, wo Spannung erzeugt wird, indem das Publikum „auf Schienen” durch den Textraum geführt wird und somit nicht in der Lage ist, das Erlebnis zu verlangsamen und die Konstruktion zu untersuchen. Das soll jedoch nicht heißen, dass eine offenere Welt die Artikulation des amerikanischen Gothic in Spielen nicht unterstützen kann. The Secret World liefert ein Beispiel dafür, dass dies nicht nur möglich, sondern sogar äußerst produktiv ist."


Zunächst beschreibt sie die thematische Ausgangslage und die Situation des Spielers in The Secret World:


"Das Spiel dreht sich um das Thema Okkultismus. Übernatürliche Kräfte stehen in unterschiedlichem Ausmaß im Konflikt miteinander, einige sind organisiert und institutionalisiert, andere sind einfach nur chaotisch böse, aber alle sind unter normalen Umständen unsichtbar. Der

Spielercharakter erwacht und stellt fest, dass er seltsame Kräfte erworben hat und aufgerufen ist, diese Kräfte zu entwickeln, um gegen menschenfeindliche Kräfte zu kämpfen. Er wird

auf eine Mission zur Solomon Island vor der Küste Neuenglands geschickt, wo es in

geografisch passender Weise zu einem Ausbruch des Lovecraftschen Mythos kommt, der

nicht nur möglich, sondern sogar äußerst produktiv ist."


Im Unterschied zu Alan Wake erlebt man den American Horror hier freier: "Das Spiel ist jedoch viel offener als Alan Wake und die Spieler können frei Quests absolvieren, auf Entdeckungsreise gehen, einkaufen, sammeln oder gegen andere Fraktionen kämpfen. Der Schwerpunkt dieses Spiels liegt auf der langsam voranschreitenden Charakterentwicklung und dem Aufbau der Welt, was sich auf die Darstellung des amerikanischen Gothic auswirkt und eine Abgrenzung von der klassischen literarischen Einheit schafft, die Alan Wake bestimmt. Polyphonie wird durch das Zusammenführen zahlreicher gotischer Akzente erzeugt, um den Spielern ein starkes Gefühl von „worldness” zu vermitteln."


Außerdem ist das Rätselgefühl hier ein anderes, weil es einerseits das Erlebnis innerhalb der Welt prägt und teilweise in Quests direkt auf die Literatur zurückgreift:


"Durch die Kombination von American Gothic und magischem Realismus schafft The Secret World

eine unverwechselbare Mischung aus Fakten und Fiktion. Wie bei einer Verschwörungstheorie wird das Mythische innerhalb des Spiels real. Jedes Zeichen muss als Hinweis auf ein großes verstecktes, okkultes System gelesen und entschlüsselt werden. (...) Diese Quest ist ein gutes Beispiel dafür, wie The Secret World American Gothic in Spielform umsetzt. Nicht nur, dass der Goldkäfer zur Familie der Skarabäuskäfer gehört und somit für den ägyptischen Schauplatz relevant ist, sondern die Geschichte enthält auch ein Rätsel, ein kryptografisches Rätsel, das Poe seinen Lesern zum Lösen vorlegte."


Im Fazit heißt es: "Obwohl „American Gothic“ kein Begriff ist, der von Spielern häufig zur Kategorisierung von

Spielen verwendet wird, ist er dennoch ein nützliches Mittel, um die Natur zeitgenössischer

Spiele zu verstehen. Im Allgemeinen ist das Gothic in Spielen schwer zu fassen, da es so

viele Formen hat. Das American Gothic ist viel leichter zu lokalisieren. Es besteht aus einer Reihe von konventionalisierten Tropen, wobei die Kulisse eine wichtige Rolle spielt. Da so viele Spiele solche Tropen verwenden, ist American Gothic zu einem festen Bestandteil des Gaming geworden und hat sich in die globale Sprache der Spiele eingebettet. Diese Allgegenwärtigkeit macht jedoch eine nationalisierte Vorstellung von Gothic im Kontext von Spielen problematisch: Es ist nicht mehr eine Eigenschaft der objektiven, geografischen Realität, sondern hat sich stattdessen in die Grammatik der Spiele eingeschrieben und durch sie geprägt."


Weitere Artikel der Rubrik Game Studies findet ihr hier auf Spielvertiefung unter Berichte - dort könnt ihr danach filtern.


Ich heiße Jörg Luibl, bin freier Journalist und biete mit Spielvertiefung seit November 2021 ein unabhängiges Magazin an, in dem die Kultur und nicht der Klick relevant ist. Ich arbeite alleine und verzichte komplett auf Werbung, Kooperationen sowie über KI erstellte Inhalte. Diese Alternative zum Reichweiten-Journalismus ist nur dank der Unterstützer über Steady möglich. Vielen Dank an alle Abonnenten!

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