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Rezension: The Forgotten City

Manchmal reifen auch Spiele wie guter Wein. Die Geschichte von The Forgotten City beginnt im Jahr 2011, als The Elder Scrolls V: Skyrim erschien. Dank des Creation Kit des Rollenspiels konnte man auf Grundlage der Engine eigene Spiele erschaffen. Damit begann auch Nick Pearce und erschuf ein historisches Abenteuer, das von einer ambitionierten Modifikation zu einem außergewöhnlichen Erlebnis reifen konnte.



Ein Fluch der Kaiserzeit


Das Besondere an The Forgotten City ist sein Tiefgang - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Man betritt als Fremder eine antike Stadt unter Tage, in der ein Fluch wirkt: Sobald jemand gegen die dort herrschenden Goldenen Regeln verstößt, müssen alle Menschen sterben. Und dann beginnt das Leben wieder von vorne. Wer hat diese Kollektivstrafe aus welchem Grund erlassen? Kann man dem tödlichen Kreislauf entfliehen? Abseits der großen Schicksalsfrage geht es aber auch um kleine Kriminalfälle: Warum wird z.B. die Tochter des Magistrats vermisst? Wer verleumdet mit bösen Graffiti einen Nachbarn? Wer stiehlt Medikamente?


Was hat es mit der Zeitschleife auf sich?

The Forgotten City fühlt sich an wie eine Mischung aus Rollenspiel und Adventure. Man spielt einen investigativen Zeitreisenden und lernt in Egosicht über 20 Menschen kennen, die in der Zeit des römischen Kaisers Nero (9 - 68 n. Chr.) gefangen sind. Die meisten kamen über den Fluss Tiber hierher, in der Nacht vom 18. bis 19. Juni 64 n. Chr., als ein großer Brand in Rom wütete - für den damals die Christen verantwortlich gemacht wurden. Auch diese Religionskonflikte werden im Spiel souverän aus der Perspektive der Zeit thematisiert, als diese Anhänger eines Gottes nur eine Sekte waren.

Und täglich grüßt der Regelbruch…


Als Spieler kann man diese Unterwelt nicht einfach verlassen, sondern muss ihre Geheimnisse in mehreren Anläufen lüften, um den Fluch zu brechen. Aber auf welche Art will man das tun? Will man einfach nur weg oder will man alles wissen? Auch das bleibt einem selbst überlassen. Nach jedem Versuch werden die erreichten Fortschritte übrigens auf clevere Art gespeichert, so dass man nicht mit jedem Bewohner erneut sprechen oder alles Erreichte nochmal erledigen muss.


Das Problem ist, dass diese Stadt in einer endlosen Schleife gefangen ist, in der sich die Ereignisse eines einzigen Tages nach einem speziellen Ablauf wiederholen - und irgendjemand verstößt irgendwann immer gegen eine Regel. Auch der Spieler kann z.B. töten, lügen oder stehlen und erlebt dann am eigenen Leib, wie er plötzlich gejagt wird und die kleine Welt untergeht.


Gute englische Sprachausgabe, natürliche Animationen - die Gespräche wirken glaubhaft.

Hier entsteht gerade in den ersten Phasen einiges an Nervenkitzel, denn man hat nur eine Chance: schnell wegrennen! Man muss rechtzeitig, teils über Seilwinden abkürzend, ein Portal erreichen, um von dort aus eine neue Erkundung zu starten. Zunächst kann man nur an der Oberfläche kratzen und lernt langsam die fragile Hierarchie sowie die sozialen Probleme der Bewohner kennen - inkl. Eifersucht, Mobbing, Gewalt & Co. Trotz der Goldenen Regeln liegt einiges gesellschaftlich im Argen. Man blickt hinter die Kulissen und entdeckt manchmal eine all zu menschliche hässliche Fratze.


Der Tiefgang entsteht aber nicht nur durch die gegenwärtigen Probleme, sondern auch durch die historischen Bezüge: Je mehr man in Dialogen recherchiert und je mehr Tunnel sowie Katakomben erkundet, desto mehr erfährt man nicht nur über die Gesellschaft und Götter der Römer, sondern auch über jene der Griechen sowie Ägypter. Man entdeckt quasi mythologische Schichten, in denen sich Namen von Göttern je nach herrschender Kultur über Jahrhunderte veränderten: Aus der ägyptischen Satis wurde z.B. die griechische Hera, aus der wiederum die römische Juno wurde.


Es gibt später auch Kämpfe, in denen man einen Bogen führt.

Warum ist das wichtig? Weil man den Fluch nur brechen und eines von vier Enden erleben kann, wenn man sich seiner Quelle nähert - und seinen Zusammenhang versteht. Dazu gehören an der Oberfläche auch kleinere Quests, die einem bei der Lösung das Vertrauen der Person schenken oder weitere Hinweise freischalten.


Die Gespräche werden dabei angenehm natürlich inszeniert und auf einem richtig guten Niveau (auf Englisch mit optionalen deutschen Untertiteln) eingesprochen, so dass die Charaktere visuell ansehnlich und akustisch glaubwürdig wirken. Außerdem sollte man sich seine Antworten gut überlegen, denn das ist kein schnell durchschautes Multiple-Choice mit offensichtlicher Wahl. Es gibt Smalltalk mit wütenden Reaktionen, einige heikle persönliche Fragen und sehr intelligente philosophische Konversationen. Es macht richtig Spaß, sich auf diese Menschen einzulassen, die man nicht immer sofort durchschaut.


Moralische Entscheidungen…


Ein Leitmotiv des Abenteuers ist das seit Jahrtausenden prägende Verhältnis zwischen Menschen und Gesetzen. Es gibt einige sehr interessante philosophische Gespräche, in denen juristische und moralische Standpunkte nicht nur deutlich, sondern auch hinterfragt werden. All das wird nicht pädagogisch oder akademisch trocken präsentiert, sondern immer im Augenkontakt mit den Menschen, so dass man sie immer besser kennenlernt. Manche findet man sympathisch, andere eben nicht.


Aufgelockert wird das Erkunden durch Funde, denn man kann gewisse Dinge auch durch Tausch oder Geld erwerben. Und das Schöne an The Forgotten City ist, dass es sich nicht nur auf seine erzählerischen Stärken verlässt, sondern auch einige unheimlich verblüffende Momente sowie schöne Rätselsituationen und sogar Action inklusive Kampf inszeniert - falls man denn diese Option wählt.


Was Erstere betrifft, möchte ich auf keinen Fall etwas verraten, aber man kommt an einige Stellen, wo man sich fragt: Die wollen doch nicht wirklich, dass ich jetzt? Doch, hier lohnt sich auch mal die außergewöhnliche Handlung. Zur teils unheimlichen Stimmung tragen auch Kleinigkeiten bei: die goldenen Statuen flüstern nicht nur, sie drehen sich auch um, wenn man an ihnen vorbeigeht - eine kleine, aber für die Atmosphäre großartige Idee, die übrigens eine erzählerische Bedeutung hat. Auch der Soundtrack trägt viel zur Stimmung bei.


Im Zentrum stehen die Dialoge, die auch mal zum Nachdenken anregen.

Die Rätsel sind meist logisch aufgebaut, es gibt auch mal Holen und Bringen sowie ein Inventar für eingesammelte Dinge, aber man kann dort keine Gegenstände kombinieren. Recht hilfreich ist eine Art Tagebuch, in dem man die aktuelle Quest markieren und so evtl. den Weg dorthin anzeigen lassen kann, denn es gibt leider keine Karte - gerade zu Beginn kann man sich mal verirren oder eine bestimmte Person länger suchen, denn sie bewegen sich zu verschiedenen Zeiten an Orte und die Stadt selbst ist recht weitläufig sowie verwinkelt, inklusive der Katakomben.


The Forgotten City hat auch seine Ecken und Kanten, außerdem spürt man das betagte Gerüst von Skyrim. Etwas hakelig und manchmal nervig ist die Akrobatik: Zwar ist es schön, dass man Abkürzungen über Seilwinden nehmen und klettern kann - später führt das sogar zu neuen Abschnitten, die zunächst nicht erreichbar sind. Aber Letzteres wird recht holprig inszeniert und verlangt einiges an Geduld. Der nur in bestimmten Abschnitten verfügbare und teils optionale Kampf wird etwas flüssiger inszeniert, lässt Tritte und vor allem Schüsse mit dem Bogen zu, was immerhin solide in Egosicht funktioniert.


Fazit


Das Besondere an The Forgotten City ist sein Tiefgang - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: spielerisch, erzählerisch, historisch. In dieser Mischung aus Rollenspiel und Adventure taucht man nicht nur in eine verfluchte Stadt ab, die aus mehreren mythologischen Schichten besteht, sondern in ein Milieu mit Persönlichkeiten. Das Wissen über die Antike wird fast nebenbei über Quests und Dialoge vermittelt, in denen man es mit glaubwürdigen Charakteren zu tun hat. Man führt keine 08/15-Gespräche mit offensichtlichen Antworten, sondern wird zum Grübeln und Nachdenken animiert - das Spektrum reicht von Religion, Sexualität, Eifersucht, Rache, Liebe, Ausgrenzung bis hin zu Politik und Philosophie. Neben der Glaubwürdigkeit der Charaktere begeistert das Spiel mit seinen kleinen und großen Überraschungen: Es gibt unheimliche, dramatische sowie komplett verblüffende Situationen, die immer wieder für bemerkenswerte Momente sorgen. Hinzu kommen schöne Rätsel und ein komfortables Speichersystem. Auch wenn die Akrobatik etwas steif abläuft und eine Karte fehlt: Ich konnte mich diesem Abenteuer irgendwann kaum noch entziehen. Ich musste einfach wissen, wie ich diesen Fluch brechen kann. Ein klasse Spiel, geistreich, stimmungsvoll und spannend bis zum Schluss! (Bilder: Offizielle Webseite; The Forgotten City ist für PC, PS4, PS5, One, XBS und Switch erhältlich)

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