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Vertiefung: Berserk - ein Meisterwerk der Fantasy

Der japanische Kunst-Student Kentaro Miura (1966 -2021) veröffentlichte im Jahr 1988 ein 48-seitiges Konzept namens Berserk: The Prototype. Darin wütete ein Held namens Guts, mit Augenklappe, Riesenschwert und Armprothese, in martialischen Kampfszenen wie ein Conan mit Igelschnitt. Miura, gerade mal Anfang 20, gewinnt damit einen Manga-Preis und macht kurz darauf seinen Doktor an der Nihon-Universität in Tokio. Aus dem Konzept entwickelte er über 30 Jahre eines der Meisterwerke der Comicliteratur, das weltweit Künstler, Regisseure und Spieldesigner inspirierte - selbst in Elden Ring ist es spürbar.




Drei Jahrzehnte in fünf Kapiteln


In dieser Vertiefung geht es um eine Spurensuche, um Einflüsse und Bezüge, die mir bei der Reise mit Guts durch den Kopf gingen. Sein Abenteuer ist so dunkel, labyrinthisch und okkult wie der Kerker eines Hexenmeisters. Gerade folgt man seitenweise staunend unmöglichen Schwerthieben, watet knietief durch Blut und Leichen, dann wird es zwischen Burgen und Wäldern fast idyllisch und man versinkt grübelnd in einem Gespräch über Schicksal und Freiheit. Berserk ist in jeder Hinsicht extrem: Es schwankt zwischen Kitsch und Kunst, zwischen brutalen Exzessen und tiefgründiger Philosophie - daher möge man mir ein gewisses Chaos in den folgenden Gedanken verzeihen.


Das ist keine strukturierte Interpretation des Mangas, der letztes Jahr mit Band 41 abgeschlossen wurde, als Kentaro Miura viel zu früh im Alter von 54 Jahren verstarb. *** Aktualisierung, 6. Juni 2022: Der japanische Verlag meldete heute die Fortführung des Mangas. *** Eine ausführliche Analyse würde den Rahmen sprengen, denn die Geschichte erstreckt sich über fünf große Kapitel, in denen Lebensabschnitte, Figuren und Konflikte verwoben werden. Natürlich werde ich auf einige Aspekte der Story und Charaktere eingehen, vor allem was den Einstieg sowie das Trio Guts, Kjaskar und Griffith betrifft. Außerdem muss ich gewisse Wendungen erwähnen, so dass ich all jene Leser und Zuhörer an dieser Stelle lieber verabschieden würde, die Berserk ohne Vorwissen erleben möchten. Die lange Reise mit Guts hat mir auch aufgrund der Überraschungen sehr viel Freude bereitet. Also: Ich wünsche euch verflucht viel Spaß in Midland!


Horror-Fantasy und Gewaltorgien


Für alle, die jetzt noch dabei sind, kann die Spurensuche starten. Denn Midland klingt fast so wie das nordische Midgard oder Tolkiens Mittelerde, in dem ja viele Einflüsse aus alten Sagas spürbar sind. Auch Guts trifft auf Zwerge und Elfen, aber Berserk ist keine klassisch gemütliche Fantasy im Stile des Oxforder Professors, sondern eher die exzessive Clive-Barker-Variante. Obwohl Miura die Gebrüder Grimm als Quelle der Inspiration erwähnt, beginnt sein Abenteuer nicht märchenhaft in einem Auenland oder mit "Es war einmal", sondern mit "Aaaah...Guuut..." und Gestöhne in einer bizarren Sexszene, deren weibliche Figur von H.R. Giger stammen könnte: Der Held erwürgt mit bloßen Händen eine Dämonin, die kurz vor dem Höhepunkt ihre monströse Aliengestalt zeigt. Guts scheint das nicht besonders zu beeindrucken, denn er sieht im Akt des Todes selbst aus wie ein Dämon.


In seinem Auge lodert der Hass, er trägt ein blutendes Brandmal und muss später gegen Untote kämpfen, die ihn heimsuchen. Er ist immer noch ein Mensch mit Moral, denn nur kurze Zeit später befreit er einen winzigen Elfen namens Puck, der in einer Taverne von einer Bande gequält und fast erschossen wird. Aber Guts ist kein Robin Hood: Er durchsiebt die Gesichter der Rüpel mit Armbrustbolzen, spaltet sie mit wuchtigen Hieben in zwei Teile und hinterlässt die Botschaft, dass der Schwarze Ritter in der Stadt sei. Er versucht nach dem Blutbad gar nicht erst, sich zu verstecken. Er sucht scheinbar den Tod. Dann verschwindet er wie Graf Dracula in einen schwarzen Umhang gehüllt und ignoriert den geretteten Elfen, der ihm vollkommen verblüfft folgt. Genauso wie der Leser fragt er sich: Wer ist dieser Mann?

Nach diesem bildgewaltigen, aber verwirrenden ersten Kapitel namens "Der Schwarze Ritter", in dem Guts als verfluchter Dämonenjäger mit seinem Sidekick Puck unterwegs ist, gibt es im zweiten Kapitel einen klärenden Rückblick in die Vergangenheit. In das "Goldene Zeitalter", das einige vielleicht als Startpunkt der mehrteiligen Anime-Verfilmung von 2012 kennen, taucht man trotz einiger idyllischer Szenen und monumentaler Burgen ab in eine trostlose Kindheit unter Söldnern. Sein rücksichtsloser Ziehvater misshandelt und verkauft ihn, man erlebt das Trauma des vergewaltigten Waisenjungen, versteht seine Panik vor Berührungen und begleitet seinen Weg zum hasserfüllten Krieger. Unter der plump wirkenden, meist brutalen und manchmal sadistischen Oberfläche von Guts zeichnet Miura das Bild eines vielschichtigen Charakters, auf den schwere Schicksalsprüfungen und unfassbare Abenteuer warten.

Die Ursprünge der Berserkers


Aber wie kommt ein japanischer Künstler mit Anfang 20 dazu, seine Welt gerade Berserk zu nennen? Was ist das überhaupt für ein Wort? Es taucht im Deutschen erst im 18. Jahrhundert auf, aber ist über tausend Jahre alt. Berserkr stammt aus dem Altnordischen, der Sprache der Wikinger, und bedeutet so viel wie Bärenfell oder Bärenhemd. Darunter verstand man besonders starke Krieger, die in wilder Raserei kämpften, dabei in ihre Schilde bissen und weder von Eisen noch Feuer verletzt werden konnten. Laut der Quellen waren sie dem Odin geweiht, schützten als Elite den König oder streiften als gefürchtete Banditen umher.


Zeichnung einer Plakette aus Schweden, Vendelzeit (550-800), gemeinfrei.

Neben der Bezeichnung Bärenhemden gab es auch jene der Wolfshäute. Aufgrund bildhafter Darstellungen von Tiermasken-Kriegern vermutet man, dass es schon vor der Wikingerzeit eine germanische Tradition mit kultischen Merkmalen gab, in der Krieger symbolisch in die Haut eines Tieres schlüpften. Raserei im Kampf und Gestaltwechsel sind auch von den Kelten überliefert; bei den Iren z.B. von den Kriegerbünden der Fianna, deren heilige Tiere übrigens Bär und Wolf waren. In beiden Kulturen dürften Fliegenpilze oder zumindest sehr viel Alkohol einen großen Anteil daran gehabt haben, dass sie für einige Zeit aus der Haut fahren und schmerzunempfindlich kämpfen konnten. Auch im aktuellen Sprachgebrauch ist das immer noch eine Beschreibung für einen Wutausbruch. Was heute jedoch negativ als Kontrollverlust betrachtet wird, galt in einigen vorchristlichen Traditionen auch als Quell übernatürlicher Kraft - hinter dem Namen Odin bzw. Wotan verbirgt sich wortwörtlich die Wut.

Beast of Darkness


Aber selbst wenn Guts fast alle Kriterien eines Berserkers erfüllt, in einer Welt namens Midland unterwegs ist, was wie Midgard klingt, und einäugig sogar an Odin erinnert, ist er in seiner Biografie keinem germanischen Helden nachempfunden. Miuras Sprache ist modern und sein Charakter ist komplexer als der eines Beowulf, Ragnar Lodbrok oder Siegfried. Die Geschichte zeigt zwar eine entfernte Verwandtschaft zu alten Sagen, aber sie ist nicht heroisierend und pathetisch, sondern entlarvend und bissig - vor allem was Fürsten, Könige und Kirche betrifft. Darin steckt vermutlich auch Kritik an einer japanischen Gegenwart, in der extremer Gehorsam gegenüber Autoritäten, Leistungsdruck und strenge Disziplin in Schulen viele Generationen an Jugendlichen so stark belastete, dass die Selbstmordraten stiegen.


Die Geschichte von Guts orientiert sich hinsichtlich der Bildsprache nicht an Heldenliedern, sondern eher an den Schrecken des 30-jährigen Krieges - oder ganz einfach: an der Bestie Mensch. Das Wort Berserker taucht übrigens erstmals am Ende des Kapitels "Der schwarze Ritter" auf, als der Elf Puck sichtlich erschrocken Guts hinterher sieht, der über einem Hügel voller Leichen verschwindet. Dieser gutherzige Sidekick erkennt in diesem Moment das Wesen des Helden, der eine blutrünstige Seite in sich trägt. Vor allem wenn er später die gleichnamige Berserker-Rüstung anlegt, werden Hass und Wut noch verstärkt und im "Beast of Darkness" sogar sichtbar, das ihn zu verschlingen droht. Dieses dämonische Wesen erinnert vielleicht entfernt an den Fenris-Wolf, und die Berserker-Rüstung wurde von einem Zwerg namens Hanarr geschmiedet, der tatsächlich im Eddalied Völuspa vorkommt.


Aber auch wenn Guts und seine Geschichte einige Bezüge zur germanischen Mythologie aufweisen, kam der größte Einfluss laut Miura aus Japan. Und zwar von der seit 1979 bis 2009 veröffentlichten und leider unvollendeten Fantasy-Romanreihe Guin Saga von Kaoru Kurimoto: In diesem "Herr der Ringe aus Japan" geht es um einen Helden mit Leopardenmaske, der seine Vergangenheit nicht kennt und übernatürliche Kräfte besitzt; die Musik der 2009 produzierten Animeserie wurde übrigens von Nobuo Uematsu (Final Fantasy) komponiert. Apropos: Nicht ohne Grund ehrten tausende Spieler Miura nach seinem Tod in digitalen Trauerfeiern online in Final Fantasy 14 - als Dunkelritter mit Riesenschwert. Spätestens seit Final Fantasy 7 (1997) waren die Einflüsse von Berserk im Rollenspiel von Square auf der PlayStation spürbar, wenn Cloud wie Guts mit seinem übergroßen Buster Sword loszog. Und der elegante Sephiroth erinnerte durchaus an Griffith, den wichtigsten Charakter neben Guts.

Guts, Griffith & Kjaskar


Im zweiten Kapitel von Berserk kommt es zur schicksalhaften Begegnung mit diesem engelgleichen Hauptmann der so genannten Falken, einer gefürchteten Söldnergruppe - einige davon hat Miura seinen Freunden aus der Schulzeit nachempfunden. Der Star unter ihnen ist Griffith: Er ist in seiner androgynen und grazilen Art das komplette Gegenteil des Muskel bepackten Guts. Als charismatischer Anführer ist er kein unbeherrschter Wüterich, sondern intelligent und philosophisch. Außerdem hat er als einfacher Soldat ohne adlige Abstammung ein scheinbar vollkommen verrücktes Ziel: sein eigenes Königreich zu erschaffen. Dieser ehrgeizige Griffith sieht allerdings irgendetwas in diesem Guts und will ihn besitzen - nach einem spektakulären Duell, in dem letztlich ausgefeilte Kampftechnik über die unfassbare Willenskraft siegt, in der Guts sogar in ein Schwert beißt, tritt er schließlich in seine Dienste ein.


Das weckt wiederum die Eifersucht der Söldnerin Kjaskar, die den neuen Günstling zunächst hasst, aber die bald seine verborgene Seite entdeckt. So entwickelt sich eine Dreiecksbeziehung mit einigen Wendungen, Verrat und Verlust, die über viele Kapitel tragische Kreise ziehen wird. Dabei zeigt Miura ein Gespür für gesellschaftlich relevante Themen von Sexualität bis Machtmissbrauch. Aber während sich sein Zeichenstil über Jahrzehnte verfeinerte, so dass man klare Verbesserungen hinsichtlich Licht, Schatten und Charakterdesign erkennt, wird die Welt mit ihrer okkulten Magie selbst immer apokalyptischer und verwinkelter, brutaler und surrealer - ein Sinnbild dafür ist die labyrinthische Darstellung einer Parallelwelt, in der Miura die paradoxe Perspektive von M.C. Escher nachahmt. Dort trifft man auch auf die so genannte God Hand, deren fünf Finger jeweils einem dämonischen Gott entsprechen - das sind quasi die teuflischen Bosse, unter deren Führung die Apostel auf Erden die Menschen knechten, quälen und fressen.

Ein Spiegel der Gewalt


Es gibt zwar auch viele alltägliche und sogar idyllische Momente, manchmal wird es sogar heiter, aber Blut, Folter und Gewalt kennzeichnen dieses düstere Abenteuer. Es sind allerdings nicht nur Motive aus Horrorfilmen der 80er eingeflossen, wie etwa Hellraiser mit seiner über ein Artefakt erreichbaren Parallelwelt, oder Evil Dead mit seinen Untoten, sondern auch der Schrecken der Realität. Miura hat nach eigenen Angaben immer wieder die Nachrichten in seinem Manga verarbeitet, darunter Verbrechen, Kriege oder ganz konkret den Völkermord in Ruanda von 1994. Er hat gerade zu Beginn wie ein Wahnsinniger gezeichnet, teilweise zwölf Stunden täglich, ohne Urlaub und weitgehend isoliert, nur über das Fernsehen mit der Außenwelt verbunden. Schon mit 18 Jahren war er zeichnerisch so gut, dass ihm sein Meister George Morikawa nichts mehr beibringen konnte.


Auch wenn man geneigt ist, auf die Nähe von Wahnsinn und Genie zu verweisen, hat aus künstlerischer und erzählerischer Sicht Letzteres überwogen. Die Details und die Dynamik der vielen Gefechte, die sich über mehrere Seiten aus zig Blickwinkeln erstrecken, sind erstaunlich. Der Fokus auf einzelne Waffen wie das Riesenschwert oder die Armprothese, aus der Guts meist in letzter Sekunde einen Feuerball verschießen kann, ist ein Merkmal von Miuras Zeichenstil: Er gehörte der "Schule von Hokuto" an, in der die Akribie hinsichtlich des Figurendesigns gelehrt wurde. Zwar überwiegt gerade mit den spektakulären Bosskämpfen gegen Dämonen und Götter eindeutig eine gewisse Videospielästhetik. Und wenn sich Guts durch eine ganze Kompanie an Rittern metzelt, ist von Realismus keine Spur. Aber trotz der totalen Überzeichnung, trotz fliegender Köpfe und abgetrennter Gliedmaßen en masse, entstehen zumindest teilweise nachvollziehbare Kampfszenen mit taktischen Finessen und Kontern. Laut Miura sollten sie extrem, aber gleichzeitig einigermaßen authentisch wirken - zumindest kann man in Elden Ring auf ähnliche Art mit einem Riesenschwert wüten.


Kunsthistorisches Patchwork


Miura verwendete sehr viel Zeit für die Recherche von Rüstungen, Kleidung, Frisuren, Waffen: Er nutzte sowohl Filme wie Excalibur oder Der Name der Rose als auch Bilder, um seine Szenen glaubhaft zu gestalten. Also streift man durch verwinkelte Gassen samt Fachwerk oder stürmt an der Seite von schwer gepanzerten Rittern mit Klappvisier, Lanze und Wappen wie im Hundertjährigen Krieg (1373 - 1453) vorwärts. Nicht von ungefähr wird genau dieser Begriff für eine Epoche des Mangas gewählt, außerdem erinnern Namen wie Tudor an das englische Adelsgeschlecht, es gibt rivalisierende Häuser und Intrigen wie in den Rosenkriegen zwischen Lancaster und York. Menschen, Gebäude und Landschaften wirken weitgehend europäisch. Selbst die Folterinstrumente von der eisernen Jungfrau bis zum Rad entsprechen realen Vorbildern.


Zwar handelt es sich letztlich um ein kunsthistorisches Patchwork: Architektur und Mode des europäischen Mittelalters fließen plötzlich in die Renaissance - gerade ist man mit Guts in einer kargen Burg unterwegs oder watet durch die Folterkeller der Inquisition, dann lässt der höfische Prunk von Versailles grüßen. Zwischen Halskrausen, Palästen und Kanonendonner fühlt man sich plötzlich wie im Barock des 17. Jahrhunderts. Aber Miura wollte diese Stile zusammen fließen lassen und war sehr interessiert daran zu erfahren, wie diese letztlich unhistorische Mischung aus westlicher Perspektive wahrgenommen wird. Ob Amerikaner oder Europäer das eher befremdlich finden? Wenn man berücksichtigt, dass weltweit etwa 50 Millionen Mangas verkauft sein sollen, kann man diese Frage mit Nein beantworten.


Philosophische Fragen


Seine Kulisse ist ja auch mehr als eine Bühne für mittelalterliche Gefechte. Unter der Oberfläche der extremen Gewalt geht es auch um Schicksal und Freiheit, den Sinn des Lebens sowie das Wesen des Menschen - also letztlich um philosophische Fragen. Und genau das macht aus Berserk mehr als eine bildgewaltige Orgie, sondern ein episches Abenteuer. Nur was heißt episch? Heutzutage ist das schnell gesagt und wird auf fast jedes Rollenspiel mit Story übertragen. Aber das drei Jahrzehnte gereifte Berserk ist sowohl hinsichtlich seines Umfangs als auch der Konzeption ein Epos par excellence.


Guts verändert sich natürlich auf seiner langen Reise, erhält je nach Entwicklung Beinamen wie Hundert-Mann-Schlächter oder Schwarzer Ritter. Charaktere können aber auch weitere Bewusstseinsebenen erreichen und sich so verwandeln wie der zunächst strahlende Griffith in den ikonischen Dämon Femto, der als Teil der dämonischen God Hand auch ein Feind von Guts wird. Es gibt also mehr als Lebende und Tote, mehr Orte als eine Hölle und ein Paradies, sondern eine vielschichtige Welt, in der mächtige Kräfte hinter den Kulissen des Sichtbaren walten und Dämonen in Menschengestalt die Bevölkerung knechten.


Nicht nur Figuren, auch das Universum selbst verändert sich irgendwann, und zwar so radikal, dass die bis dahin meist getrennten Welten der Menschen, Geister, Fabelwesen und Toten verschmelzen. Aus einer historisch anmutenden Low-Fantasy, in der man nur an speziellen Orten oder in der Nähe besonderer Menschen in andere Welten gelangen konnte, wird eine üppige Dark-Fantasy, in der sich Untote, Oger und Drachen gemeinsam aufhalten. Es gibt Burgen, Katakomben und Verliese, Magie, Artefakte und Bosse, Dämonen und Halbgötter. Im Zentrum dieser neuen Welt namens Fantasia steht ein riesiger Baum. Das klingt fast so wie der erste Prototyp von Elden Ring.


Viel Berserk in der Soulsreihe


Denn jetzt kommen wir nach Final Fantasy zu den noch konkreteren Einflüssen auf die Rollenspiele von From Software. Bei all dem, was George R.R. Martin an Charakteren, Abstammungen sowie mythologischem Fundament für Elden Ring konzipiert hat, erkennt man hier bereits zwei Motive, die vermutlich Hidetaka Miyazakis große Wertschätzung für Berserk ausdrücken: das Gold als Farbe einer scheinbar glorreichen Vergangenheit, ein Weltenbaum als Mittelpunkt, die Finger als Symbole für göttliche Mächte. Man darf die Chronologie nicht vergessen, denn 1000 Jahre vor Guts hat ein Kaiser namens Geiserich das Reich gegründet, das dann von den vier Engeln zerstört wurde, die als Dämonen der God Hand wiedergeboren wurden - ähnlich der Halbgötter in Elden Ring. Auch in diesem Fundament bediente sich Miura übrigens der germanischen Überlieferung, denn Geiserich (389 -477) war ein vandalischer König der Völkerwanderungszeit.


Dark Souls, Cover des DLC Artorius, From Software.

Hinter der Fassade der realen Welt lauert jedenfalls das Böse sowie Macht und Verrat, außerdem gibt es teilweise grotesk überzeichnete Waffen und Kreaturen - auch wenn das eher indirekte Ähnlichkeiten zur Soulsreihe sein mögen, die auf andere Werke ebenso zutreffen: From Softwares Fantasy steckt voller direkter Bezüge, die sich in Artdesign, Konzeptionen und Bossen zeigen. Man denke an Artorius of the Abyss, den eindrucksvollen König aus Dark Souls und schaue sich die Kreatur an, die mit ihrem riesigen Schwert auf dem Berserk-Cover von Band 28 hockt - mehr künstlerische Hommage geht nicht. Das Darksign der Soulsreihe erinnert als verfluchtes Symbol an Guts Brandmal, denn es raubt bei Benutzung die Menschlichkeit. Da ist der Schmied Godot, der Guts mächtiges Schwert Dragon Slayer herstellt, das es im dritten Teil als Großschwert gibt. In Dark Souls 2 ist der Sanctum Repeating Crossbow mit seinem oben aufgesetzten Kasten quasi eine direkte Nachbildung von Guts Repetierarmbrust - mehr dazu in dieser Erkundung. Und es gibt noch weitere Bezüge, die eine größere Liste füllen würden.


Auch andere Spiele bedienten sich offensichtlich an Berserk, mal in Form einer Hommage, mal hinsichtlich des Spiel- und Artdesigns: Guts' Rüstung taucht in Dragon's Dogma auf und der Entwickler von Devil May Cry 5 gab offen zu, dass er sich direkt von Berserk inspirieren ließ - zwischen Dante und Guts gibt es einige Parallelen und die Videospielästhetik spiegelt letztlich auch die Extreme des Mangas.


Der Einfluss von Sword & Sorcery


Aber zurück zu den Inspirationsquellen von Miura, den man als Kind seiner Zeit und der Unterhaltungskultur der 80er und 90er betrachten muss - der also einiges unbewusst einfließen ließ. Vermutlich gehören auch H.P. Lovecraft und der Cthulhu-Mythos dazu, wenn man bedenkt, dass die Menschen auch in Berserk für die Dämonen letztlich nur Futter sind, dass es einen Meeresgott mit Tentakeln und weitere Ähnlichkeiten gibt. Aber neben der erwähnten Guin Saga nennt Miura konkret Filme wie Excalibur, Hellraiser, Der Name der Rose, The Evild Dead oder Conan der Barbar, die er als Vorlage nutzte. Er wollte eine düstere heroische Fantasy mit westlichem Hintergrund zeichnen, von der es zu seiner Studienzeit bis auf Bastard!! von Kazushi Hagiwara recht wenig in Japan gab. In Amerika und Europa lief hingegen in den 80ern ein Subgenre namens Sword & Sorcery zur Hochform auf: Es wurde im Wesentlichen von Robert E. Howards Figuren wie Conan oder Kull in Pulp-Magazinen der 30er Jahre wie Weird Tales definiert - mehr zur Geschichte des Magazins in dieser Erkundung.

Auch Fritz Leibers Duo Fafhrd und der Graue Mausling oder Michael Moorcocks Elric gehören dazu. Gegenüber der High-Fantasy steht hier meist ein Schwert schwingender, moralisch ambivalenter Held im Mittelpunkt, der sich durch eine Welt der Magie und Gefahr kämpft. Auch im europäischen Comicbereich wurde ab 1983 ein Muskel bepackter Barbar populär, den man der Sword & Sorcery zurechnet und der auf viele Arten an Guts erinnert: Slaine von Pat Mills. Er konnte ebenfalls wie ein Berserker in einen Blutrausch verfallen, lässt ebenfalls Köpfe en masse rollen, kämpft ebenso wild und wurde vom irischen Helden Cú Chulainn inspiriert. Spätestens unter der genialen Feder von Simon Bisley entwickelte sich Slaine seit 1989 in Der gehörnte Gott zu einem Meisterwerk, das Miura nicht entgangen sein dürfte. Ich werde diesem Comic und der inselkeltischen Mythologie ebenfalls eine Vertiefung widmen.

Götz von Berlichingen und Rutger Hauer


Götz von Berlichingen, Fotografie eines Glasbildes, 1567, gemeinfrei.

Obwohl Slaine in der berühmten britischen Comicreihe 2000 AD erschien, erwähnt er ihn nicht als Inspiration. Die bisherigen Beispiele sowie Motive in Berserk deuteten ja eher auf germanische Bezüge. Und wie so einige Japaner in der Videospielwelt scheint ihn Deutschland im weitesten Sinne interessiert zu haben, so dass er Namen und Begriffe einfließen ließ. Selbst der Name seines Helden gehört dazu: Er nannte ihn deshalb Guts, weil das hart und deutsch klang - das gefiel ihm rein akustisch. Dass es mal einen fast genauso klingenden Ritter namens Götz gab, nämlich Götz von Berlichingen (1480-1562), hat Miura angeblich erst später erfahren - was ein bizarrer Zufall wäre. Denn es gibt mehr Ähnlichkeiten zu Guts als nur den Vornamen: Götz trug ebenfalls eine Armprothese und daher den spätestens seit Goethes Drama von 1773 populären Beinamen "mit der eisernen Hand". Er war ebenfalls als Söldner in viele blutige Fehden verwickelt und könnte in seiner heute noch erhaltenen Rüstung umgehend in Berserk auftreten - mehr zum fränkischen Reichsritter in dieser Erkundung.



Aber zu einer Spurensuche gehören auch Fährten, die im Sande verlaufen - oder die vielleicht zu viel Einfluss an falscher Stelle vermuten. Denn Miura nennt weder Slaine noch Götz von Berlichingen, sondern einen anderen fiktiven Söldner als direkte Inspiration, nicht für den Charakter, aber für das Aussehen von Guts: und zwar den Söldner Martin aus dem Film Flesh and Blood (1985), gespielt von Rutger Hauer. Diesen Historienfilm, der zwar Anfang des 16. Jahrhunderts in Italien spielt, aber der tatsächlich genau die Mischung aus mittelalterlichen Motiven zeigt, die man im Manga sieht, hat Miura sehr gefallen - und vor allem Rutger Hauer hat wohl zu Guts Aussehen beigetragen. Wobei Miura übrigens weiter ins Detail geht und in einem Interview erläutert, dass er sogar Evander Holyfields spezielle Bauchmuskulatur auf Guts übertragen hat.

Angst vor Ash und eine Spur von Dracula


Wie auch immer: Was Vorbilder angeht, machte sich Miura eher Sorgen, dass eine Filmfirma in Guts vielleicht zu viele Ähnlichkeit mit Ash aus The Evil Dead finden würde. Als er in der 80ern im Kino saß und Bruce Campbell sah, der sich mit Kettensäge am Arm und Schrotflinte auf dem Rücken durch Zombies metzelte, musste er sofort an seinen eigenen Helden denken. Aber es gab nie eine Klage von Regisseur Sam Raimi, den Miura ebenfalls sehr schätzte.


Noch eine berühmte Gestalt hat ihn sehr fasziniert und es zumindest in den Prolog geschafft, mit dem als Student alles anfing: Der historische Fürst Vlad III. (1431-1477), der Bram Stoker vielleicht als Vorbild für seinen Dracula (1897) diente. Auch der Ire hat seinen für die Gestalt des Vampirs so prägenden Roman letztlich wie ein Patchwork aus Historie und Fiktion, Realismus und Legende konzipiert. Beiden verdanken wir eindrucksvolle Charaktere und zwei einflussreiche Schätze der Literatur.


Berserk ist ein Kind der Moderne, der Manga-, Fantasy- und Filmkultur der 80er und 90er, ein bildgewaltiges Abenteuer voller Gegensätze: authentisch und bizarr, blutig und philosophisch, obszön und gesellschaftskritisch, faszinierend und tragisch. Wer diesen Manga liest, wird eine dämonische Achterbahnfahrt erleben, die lange in Erinnerung bleibt. Und einen Helden kennenlernen, in dem viel kulturhistorische DNA steckt, aber der selbst zu einem prägenden Archetyp der Fantasy werden sollte.


Ich wünsche allen, die Berserk noch vor sich haben, verflucht viel Spaß!


PS: Da waren ja noch drei Spiele...


Allerdings hat diese großartige Vorlage nicht ausgereicht, um wirklich eindrucksvolle Videospiele zu designen, deshalb gibt es nur diesen kurzen Nachtrag. Es gab auch lediglich drei Umsetzungen, die erste erschien 1999 in Japan auf Dreamcast: In Sword of the Berserk: Guts' Rage konnte man sich in Schulterperspektive à la Devil May Cry durch Feinde metzeln und ab und zu Reaktionstests meistern. Dabei führte man als Guts das Riesenschwert mit Kombos und traf auf bekannte Charaktere: Den Elfen Puck konnte man übrigens hören, wenn man die Visual Memory Card in das Dreamcast-Gamepad steckte. Die Geschichte folgte allerdings nicht dem Manga, sondern erzählte recht frei. Das Spiel von Yuke's war ansehnlich, aber letztlich ein simples Hack'n Slay, das nur in einigen Bosskämpfen etwas forderte. Die Produktionsqualität war jedoch recht hoch: Es gab sehr viele Videosequenzen, dazu prominente Synchronsprecher. Außerdem war es bei seiner Veröffentlichung im Westen noch blutiger als im japanischen Original. Es war recht kurz und erhielt mittelmäßige bis gute Kritiken.


2004 folgte mit Berserk Millennium Falcon Arc die zweite Umsetzung in Japan, ebenfalls von Yuke's, aber für PlayStation 2. Diesmal orientierte man sich konkret an der Story, engagierte Miura als Autor und die originalen Sprecher der japanischen TV-Serie. Das Spieldesign blieb dem Hack'n Slay treu, wurde aber um Helfer, Zielfixierung, Konter sowie eine rudimentäre Charakterentwicklung erweitert. Damit hielt man zumindest die Qualität des Vorgängers, bevor sie zwölf Jahre später in Berserk and the Band of the Hawk eher sank. Die Dynasty-Warriors-Macher von Omega Force erweiterten 2016 zwar die Heldenauswahl, so dass man auf PS4 neben Guts noch andere Figuren spielen konnte, aber sie gingen komplett Richtung Musou-Action: also Massenschlachten gegen hunderte Klongegner, ohne taktischen Anspruch. Das passte zwar theoretisch zu Berserk, außerdem freuten sich Fans über stimmungsvolle Filmsequenzen aus dem Anime, so dass man zumindest einen Hauch der Faszination nachempfinden konnte. Aber das Spieldesign war sehr monoton, selbst innerhalb des Musou-Subgenres, so dass die Kritik zwischen Verriss und maximal soliden Wertungen schwankte.


Für die Videospiele gab es zwar keine Awards, aber 2002 gab es eine wichtigere Auszeichnung für Berserk und Kentaro Miura: und zwar den renommierten Osamu-Tezuka-Kulturpreis in der Kategorie Exzellenz.


Literaturhinweise:

Berserk, Manga, Kentaro Miura, deutsche Version, Panini Berserk, Manga, Kentaro Miura, englische Version, Dark Horse Berserk, Manga, Kentaro Miura, japanische Version, Young Animal Berserk: The Golden Age, Anime, Studio 4C, Rialto Entertainment

Kentaro Miura, Sammlung von Interviews (1996 -2019), Berserk Wiki, Fandom Lexikon der germanischen Mythologie, Rudolf Simek, 2006 Sláine, Comic, Pat Mills, englische Version, 2000 AD Sword & Sorcery, SFE: The Encyclopedia of Science Fiction The Guin Saga, englische Webseite, Vertical


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