Vertiefung: Death Stranding - Wirkung & Welt
- Jörg Luibl
- 11. Juni
- 25 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Juni
Am 26. Juni geht die Reise für Sam Porter Bridges und Baby Lou in Death Stranding 2: On the Beach weiter. In dieser Vertiefung packe ich meinen Rucksack mit Erinnerungen an den Vorgänger, um mich darauf einzustimmen. Gleich vorweg eine Warnung: Das ist ein recht ausführlicher Rückblick, bei dem ich zunächst auf die Wirkung des Spiels eingehe. Danach geht es nicht nur um relevante Begriffe, Ereignisse sowie Charaktere, sondern auch um Geheimnisse sowie den Ausgang der Geschichte. Wer es kürzer mag, wartet einfach auf die Veröffentlichung, denn im Hauptmenü des Spiels gibt es eine Zusammenfassung der Handlung, vorgelesen von Deadman. Huch, da ist er ja schon, der erste Tod! Also dann mal los, zurück an die Strände der Apokalypse.
Phönix aus der Asche
Bevor ich auf die komplexe Story eingehe, die in einem alternativen Amerika des Jahres 2050 mit historischen Bezügen von Trump bis Columbus spielt, möchte ich über die Zeit der Veröffentlichung sprechen. Denn Death Stranding war ein außergewöhnliches Abenteuer, das mich 2019 in vielerlei Hinsicht mit seinen Wendungen bis zum mehrstündigen (!) Finale beeindrucken konnte. So stark, dass ich die höchste Wertung vergab. Die verlieh ich über zwanzig Jahre als Redakteur nur Shenmue und Shadow of the Colossus - sie bilden das Trio, das in der Schatzkiste die Videospiele anführt.
Nicht selten schmunzel ich mit dem heutigen Abstand über den eigenen Jubel, denn er war oft zu euphorisch. Aber in diesen drei Fällen würde ich ihn verteidigen. Rückblickend würde ich sogar hinzufügen, dass damals aus spielhistorischer Sicht ein Phönix aus der Asche stieg, der mittlerweile prächtige Aussichten hat und die Welt der Videospiele bereichert. Nach Death Stranding steuert er den Horror OD in Kooperation mit den Xbox Game Studios an. Dann folgt die "Action Espionage" namens Physint exklusiv für PS5. Und es gibt schon ein weiteres Spiel, an dem getüftelt wird.
Aber man darf nicht vergessen, dass die Trennung von Konami 2015 für reichlich verbrannte Erde sorgte. Es qualmte nicht nur in den Medien, sondern so stark hinter den Kulissen, dass der Name Kojima sogar aus Spielen gestrichen wurde, die er designt hat. Der weitere Erfolg für sein 2005 gegründetes Studio Kojima Productions war alles andere als selbstverständlich. Auch wenn ein über viele Jahre hoch bezahlter Spieldesigner bessere Voraussetzungen hat als ein Newcomer, stand er vor dem Nichts und dachte nicht ohne Grund "alles verloren" zu haben.
Erstens hatte er keinerlei Rechte an seiner eigenen Schöpfung, der weltweit populären Metal-Gear-Reihe. Zweitens verglüht das Feuer vieler prominenter Spieldesigner irgendwann - vor allem wenn sie so lange im Geschäft sind, den kreativen Anschluss verlieren oder in ihrer Hybris zu viel versprechen. Und drittens bekam Kojima aufgrund seiner Leidenschaft für Film und Schauspiel über all die Jahre nicht nur Applaus. Während Hardcore-Ludologen immer öfter die Nase rümpften, entwickelte er sich immer mehr zum Regisseur.
Jetzt muss man dazu sagen, dass längere Filmszenen in Spielen gerade in Japan nichts Besonderes und dort auch weitgehend akzeptiert sind - von Final Fantasy, Xenosaga über Yakuza bis Star Ocean konnte man schonmal zwanzig bis vierzig Minuten zuschauen. Aber Hideo Kojima brach Rekorde: Metal Gear Solid 3: Snake Eater begann 2004 mit einer Cutscene von fast einer halben Stunde und mündete in ein Finale von einer Stunde. In Metal Gear Solid 4: Guns of the Patriots von 2008 lief die Kamera im Epilog satte 71 Minuten. Und in Death Stranding gab es sieben Stunden Cutscenes, wobei das Finale mit zwei Stunden sogar Spielfilmüberlänge hatte. Da brauchte man viel Popcorn. Und ich würde sagen, dass er es übertrieben und abschließend zu viel erläutert hat.
Ein umstrittenes Abenteuer
Aber dieser nochmal gesteigerte cineastische Fokus hätte sein erstes Spiel komplett als L’art pour l’art in aufgesetzter Filmkunst zermalmem können. Es hätte durchaus sein können, dass Kojima nach dem Flop dieser Premiere als Regisseur von Independent-Filmen in den kalifornischen Sonnenuntergang schleicht. Ich erinnere mich, dass nach den Trailern zu Death Stranding einige genau das prophezeiten. Ich hörte des Öfteren, er sei jetzt vollkommen abgedreht, zumal dieses Spiel in offener Welt in keine Genre-Schublade passte und auf künstliche Art extravagant wirkte: mit bekannten Schauspielern als Buddys und Geoff Keighley als Fanboy auf der Showbühne.
Außerdem experimentierte Kojima viel radikaler als in der Vergangenheit mit Hollywood, dem Drehbuch sowie der Ästhetik seiner Spielwelt. Sprich: Er ging nicht auf Nummer sicher, versuchte nicht die eigenen Wurzeln der Stealth-Action zu reproduzieren, sondern stürmte weiter nach vorne. Und vom Baby als Waffe in der tragbaren Gebärmutter bis zum realen Energy Drink verstörte er auf unterschiedliche Art über die Branche hinaus. Selbst die Spielmechanik rund um den Paketboten sorgte für Fluchtreflexe. Und die Wertungen der Kritiker schwebten nicht wie sonst bei einem Metal Gear kollektiv in allerhöchste Sphären.
Trotzdem kann mich an kaum ein Spiel in meiner Zeit als Redakteur erinnern, das die Leute um mich herum so neugierig gemacht hat, selbst lange nach Release hinaus - passender als GTA III ist eher ein Vergleich mit Black & White aus dem Jahr 2001, denn dort kam es ebenfalls zu dieser Gleichzeitigkeit von Spieldesignlegende und Spielwagnis, dem man das Potenzial für eine tatsächliche Innovation zutraute. Wobei ich damals in Molneyx' Göttersimulator als großer Freund von Echtzeit-Strategie eine ähnliche Ernüchterung erlebte wie andere im so genannten DHL-Simulator.
Manche stiefelten nach Release am 8. November 2019 ein paar Stunden mit Sam Porter Bridges los, nur um dann entgeistert abzubrechen, weil ihnen als Paketbote mit Hightech-Ausrüstung einfach kein Halleluja entweichen wollte. Ich kann das verstehen, denn man muss ganz schön was auf sich nehmen, fühlt sich stellenweise wie in einem Jenga für Zehnkämpfer. Das kann je nach Spielertyp eine Strapaze mit zu vielen skurrilen Hürden sein. Fest steht: Auch wenn sich Death Stranding gut verkaufte und bis April 2025 weltweit über 20 Millionen Spieler gefunden hat, war das damals kein klassisches Triple-A-Abenteuer für jedermann.
Ein einzigartiges Abenteuer
Ich trauerte ja selbst Solid Snake und der Tactical Espionage Action nach, schüttelte ebenfalls den Kopf über die dumme Produktplatzierung. Ich freute mich zwar auf die grotesk anmutende Welt, aber ich war gar nicht so sicher, ob Hideo Kojima diesmal meinen Nerv treffen würde. Zumal ich es nicht mag, wenn eine Story erst mit einem Mysterium neugierig macht und dann in den Nebel flieht. Doch dann saß ich irgendwann gebannt vor dem Bildschirm und marschierte mit Sam und Lou durch Wind und Wetter von der amerikanischen Ost- an die Westküste, von verdammt vielen Flüchen, aber noch viel mehr Faszination bis zu einem bemerkenswerten, wenn auch zu langen Finale begleitet.
Nicht alles war grandios, gerade aus der Perspektive eines Rollenspielers: Sam kommentierte recht vieles auf ähnliche Art, seine Charakterentwicklung in Sternform wirkte auf lange Sicht aufgesetzt und er konnte bis zum Ende nichts entscheiden. Aber der Weg dorthin war ein Erlebnis: Die Präsenz in der Landschaft, geformt aus spürbarer Physikalität und sichtbarer Naturgewalt war herausragend, in ihrer Wirkung nur mit Red Dead Redemption 2 zu vergleichen, das ein Jahr zuvor erschien. Und ähnlich wie dort wurde man als Spieler zur Entschleunigung animiert, musste auf seine Bewegungen achten und konnte nicht Beute greifend durch die Landschaft spurten. Im Zusammenspiel mit der Musik entstand ein Sense of Wonder mit einigen Gänsehautmomenten, wenn man gerade einen Hügel erklomm und die Akkorde parallel zum Blick ins Tal aufspielten.
Und es war tatsächlich wieder der Wilde Westen, wieder diese Weite und diese Terra incognita auf dem nordamerikanischen Kontinent, die schon Lewis & Clark im Jahr 1804 im Namen des US-Präsidenten Thomas Jefferson auf ihre zweijährige Expedition in die Wildnis lockte. Das war wie so vieles an der Story sehr clever, denn so wehte ein Hauch von sich wiederholender Geschichte durch das Spiel. Die Wiederkehr ist ja auch ein zentrales Motiv der apokalyptischen Geschichte mit ihren Zyklen.
Hinzu kamen, neben der optionalen Vernetzung einer gemeinsam veränderbaren Online-Welt, die vielen spielmechanischen Déjà-vus aus Metal Gear. Überall im Menü- sowie Art- und Steuerungsdesign spürte man die alte DNA, auch in den kleinteiligen Bewegungsabläufen vom Sprühen nach hinten auf den Rücken bis zum Werfen von Behältern mit physikalischem Schwung, vom leichten Sprung mit dem Truck oder dem Greifen nach einem Halt, wenn einen die Strömung mitreißt. Nicht zu vergessen eine unglaublich gute Progression, die selbst nach dutzenden Stunden noch mit technischen, akrobatischen oder erzählerischen Überraschungen aufwarten und einem das beständige Gefühl von Hightech-Fortschritt mit coolen Gadgets vermitteln konnte.
Das war kein schnödes Wandern mit Paketsammelei, sondern Erkundung und Routenplanung, Aufbau und Forschung, Schleichen und Kampf, Flucht und Täuschung, Physik und Akrobatik. Selbst das Baby Lou, das zu Beginn nur ein bizarres Werkzeug zu sein scheint, entwickelte sich als Charakter, zu dem man eine Beziehung aufbaute. Gleichzeitig erlebte man den Niedergang der alten Erde sowie die Isolation der Menschen in einem unheilvollen Spiegel unserer Gegenwart, wenn man die gestrandeten Wale sah oder Leute in hermetisch abgeriegelten Bunkern mit Pizza belieferte, nur weil sie sich dann freuten.
Kojima gelang tatsächlich das große Kunststück, im Geiste all seiner bisherigen Spiele und all seiner filmischen Inspirationen ein neues Niveau zu erreichen. Da schließe ich neben Metal Gear ganz bewusst das Cyberpunk-Adventure Snatcher aus dem Jahr 1988 mit ein: Schon dort ist ein anarchistisch-philosophisches Flair spürbar, schon dort bemerkt man Kojimas Hang zum Rätselhaften und zu Kontroversen. Dazu gehört auch seine Gesellschafts- und Amerikakritik, mit teils sehr vorausschauendem, einige Entwicklungen wie Hurra-Patriotismus und mächtige Söldneragenturen vorweg nehmenden Blick. Das zeigte sich bereits in Metal Gear, bevor es so etwas wie Anti-Kriegsspiele à la Spec-Ops: The Line oder Valiant Story gab. Er wollte sowohl die Gewalt als Stilmittel einsetzen, Grenzen ausloten als auch Bezüge zur Popkultur von Akira bis Blade Runner integrieren und traf dabei oft den Zeitgeist der Gegenwart inklusive gesellschaftlicher Ängste.
Und all das feierte 2019 in Death Stranding ein Comeback auf der PS4 in XXL. Fast so wie ein über 30 Jahre in der Flasche gereifter Geist, der ohne den Metal-Gear-Korken endlich entweichen und sich frei entfalten konnte. Auch hinsichtlich der Kritik an Amerika, die sich aber nicht einseitig verliert, sondern zu einer Aufforderung wird, über die Fehler, Ansprüche und Mythen der Vergangenheit nachzudenken. Als Deadman darüber sinniert, ob Columbus oder Vespucci die Ehre der Entdeckung gebührt, kommt er zu dem Schluss:
"Aber wenn Sie mich fragen, ist das eigentlich egal. Keiner von ihnen hat Amerika „entdeckt“. Das hat niemand. Es war schon immer da und beherbergte bereits eine große Anzahl von Menschen. Die Vorstellung, dass ein Europäer diesen Ort - oder irgendeinen anderen Ort - „entdeckt“ hat, ist die größte Lüge von allen, meinen Sie nicht auch?
Kojima baute ja nicht nur Donald Trump in die Story ein. Er beschreibt den großen Konflikt zwischen der Vision einer auserwählten Nation, die in ihrer Einheit mal wieder die ganze Welt retten will, und den Problemen einer ideologisch zersplitterten Gesellschaft, in der viele Individuen ihrem Ego und ihrer Gier folgen oder einfach in ihrer Angst gefangen sind. Zunächst wirkt das wie ein Abgesang auf die Idee der Gemeinschaft oder gar des Staates. Sam Porter Bridges antwortet auf die Frage, ob er helfen wolle, eine neue Nation aufzubauen:
"America is finished."
Er war zu Spielbeginn noch viel mehr Anarchist als ein Solid Snake, fast schon ein Nihilist, der weder an Politiker, Länder, Visionen oder gar Wunder glaubt. Aber da steckte als Rebell und Mensch etwas in ihm, eine Loyalität und Hoffnung, die durchaus an Solid erinnerte - obwohl Sam als Charakter von Anfang an wesentlich verwundbarer ist. Ich hatte Kojimas seltsames Talent erwähnt, seiner Zeit manchmal voraus zu erzählen. Dieses Spiel erschien ja kurz vor Ausbruch der Corona-Epidemie und thematisierte genau die Angst vor Isolation und Untergang, die damals umging. Viele Menschen dachten über den Tod der Erde ebenso nach wie über den eigenen oder jenen ihrer Verwandten.
Death Stranding war aber kein düsterer Abgesang. Es zelebrierte auch nicht melancholisch die Einsamkeit wie ein Shadow of the Colossus. In Gestalt von Sam trafen sich ebenfalls Trauer und Vereinsamung, sogar bis hin zur Berührungsangst, die ihn in eine Therapie und dort zu seiner Frau führte. Aber die Story erzählte davon, dass man Isolation gemeinsam überwinden kann. Sie erzählte von Zusammenhalt, Kooperation und Hoffnung im Angesicht einer Katastrophe. Dazu gehört auch der Klimawandel, der sich in der totalen Mutation der Erde, dem Aussterben der Tiere sowie im Bosskampf gegen einen Geisterwal zeigte, bei dem ich mich ähnlich hin und her gerissen fühlte wie beim Kampf mit Wander gegen die Kolosse.
Das Spiel übertraf damit nicht nur die Ausdruckskraft all seiner Spiele unter Konami deutlich, sondern die der meisten, die ich bisher gespielt hatte. Vor allem, weil es in seiner metaphorischen Verzahnung und Symbolik weit über das hinaus ging, was die Science-Fiction bis dahin in digitalen Abenteuern zu bieten hatte. Egal ob Wasteland, Fallout, System Shock oder Mass Effect: Sie alle konnten mich auf ihre Art wunderbar unterhalten, an ihre Welt sowie Helden binden und ich würde sie alle als Meilensteine bezeichnen. Aber sie zitierten letztlich etwas Bekanntes, das mich weder als Spieler auf diese angenehme Art verstören noch als Freund der Phantastik auf lange Strecke so verblüffen konnte. Hier ließen nicht nur Kafka und Shelley grüßen, hier wurde unsere Gesellschaft kritisch gespiegelt und die Zukunft auf so kreative Art verzerrt, dass einem dieser fiktive Strang fast glaubwürdig erschien.
Dafür braucht es gerade auf diesem Produktionsniveau den Mut, den Geschmack der Masse zu ignorieren und damit das Risiko, schon im Vorfeld kontrovers diskutiert zu werden. Aber eben nicht über das simple Schockieren einer brutalen Szene oder schwer wiegende moralische Entscheidungen für Held und Welt, sondern über das Verblüffen im Angesicht des kompletten Designs, das nur in seiner Universalität für eine derartige Faszination sorgen kann. Welches Triple-A-Spiel steht heutzutage wie ein monumentales Fragezeichen im Raum, um das man langsam herum spaziert, um es abzutasten?
Das unterscheidet es z.B. auch von einem Demon's Souls, das mich ähnlich beeindrucken, aber mit King's Field im Hintergrund viel vertrauter wirken konnte. Death Stranding war genauso wie Shenmue und Shadow of the Colossus eine kreative Neuschöpfung, die man nicht sofort mit einem Klassiker oder Vorbild vergleichen konnte. Und Kojimas Abenteuer weckte, trotz seiner auf den ersten Blick bizarren Welt, mit kleinen Bezügen, Hinweisen und Codes die Ahnung des Vertrauten. Also wollte man einfach näher heran gehen und all das entziffern.
Man begegnet z.B. dem von Kafka gebrauchten, von Sigmund Freud entlehnten Begriff des “Odradek” (aus der Kurzgeschichte “Die Sorge des Hausvaters”) für das digitale Hilfsmittel, das Sam auf Knopfdruck aufrufen kann. Kojima zündete also keine hübsch klingenden Nebelkerzen, sondern inszenierte surreales Brainfucking mit Fundament, das den Spieler an einer ständig laufenden Recherche teilhaben ließ.
Der Strand als Symbol
Das erforderte nicht nur eine einzigartige Welt mit Symbolen, sondern eine nicht sofort durchschaubare Story. Death Stranding wird ja mit einem Zitat des mehrfach ausgezeichneten Schriftstellers Abe Kobo (1924-1993) eingeleitet, der als japanischer Kafka gilt und in dessen doppeldeutigen Geschichten es häufig um den vereinsamten modernen Menschen geht:
„Das Seil soll das Gute zu uns heranziehen, der Stock das Schlechte fernhalten.“
Aber bevor ich näher auf die Geschichte des Spiels eingehe, verharre ich kurz beim wichtigsten Symbol: dem Strand. Noch bevor das Spiel erschien, geisterte ja der Begriff "Strandlikes" in Anlehung an "Soulslikes" durchs Netz. Damit hatte Hideo Kojima angeblich ein neues Genre angekündigt. Aber das hatte er so nie gesagt, sondern 2019 diese Beschreibung getwittert:
"Death Stranding ist kein Stealth-Spiel. Es ist ein brandneues Actionspiel mit dem Konzept der Verbindung (strand). Ich nenne es Social Strand System, oder einfach Strand Game."
Wie wir mittlerweile wissen, wurde daraus ohnehin nichts. Es gibt kein neues Genre. Selbst wenn sich Independent-Spiele wie Witch Strandings (2022) auf abstrakte Art daran anlehnten und sogar ein Trio aus Verbinden, Transportieren und Körperlichkeit als Merkmale definierten. Wichtig ist, dass der Strand natürlich nicht ohne Grund im Titel steht, denn er prägt als Wort sowie übernatürlicher, aber physikalisch begehbarer Ort das gesamte Abenteuer. Er steht im weitesten Sinne als Metapher für eine Art von Verbindung sowie Übergang - selbst der Held und seine präsidiale Familie sowie Verträge zwischen Spielern und das interne Social-Media-System tragen ihn.
Der Strand taucht laut Kluges etymologischem Lexikon in unserer Sprache als Wort irgendwann vor dem 14. Jahrhundert auf, wurde aus dem Mittelniederdeutschen "strant" übernommen und geht vermutlich auf einen altnordischen Ursprung zurück. Doch bis auf den Namen eines mythischen Flusses in einem Lied der Edda spielt der Strand in der Sagenwelt der Wikinger kaum eine Rolle. In der Fantasy und Science-Fiction gehört der Strand ebenfalls nicht zu den gewöhnlichen Symbolen, während er kulturwissenschaftlich als Zwischenbereich von Meer und Land, als Schwelle zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein sowie Leben und Tod natürlich schon länger betrachtet wird.
Außerdem ist er als Ort ein wichtiger Teil unserer Evolution. Archäologen gehen davon aus, dass der Mensch nicht nur viele hunderttausend Jahre vor allem an den Küsten von Muscheln und Meeresfrüchten gelebt hat, sondern sie als Fernreiserouten genutzt hat, um z.B. von Afrika nach Europa zu kommen. Während der Strand in Antike und Mittelalter meist ein Arbeitsplatz für Fischer war und erst im 19. Jahrhundert als Ort der Erholung sowie des Urlaubs entdeckt wurde, gilt er bei den Buddhisten sowohl als ein Ort der Täuschung und des Verlangens als auch des Opferns und der Erleuchtung.
Trennung von Seele und Körper
Dieser doppeldeutigen und trügerischen Rolle wird der Strand im Spiel überaus gerecht, obwohl er mit Sand und Wasser recht gewöhnlich aussieht. Noch stärker als der Buddhismus hat die ägyptische Mythologie die Vorstellungen von Death Stranding inspiriert, denn dort gab es drei Seelen - das Ka, das Ba und das Ach. Das Ka ist das "Ego des Lebenden", das während der Schwangerschaft von einer Gottheit erschaffen wird, aber dann wie eine Art geisterhafter Doppelgänger ohne Körper existiert. Nach dem Tod verlässt es den Körper und lebt weiter.
In das Spiel haben es zwei davon als duales Prinzip geschafft, das Ka für die Seele und das Ba für den Körper, das hier Ha genannt wird. Und wie fast alle Namen in Death Stranding hat auch der von Amelie eine Bedeutung, denn im Französischen steht "Ame" für "Seele" - warum sie diese quasi personifiziert, erkläre ich gleich. Sams wissenschaftlicher Ratgeber Heartman spricht jedenfalls über die mythologischen Ursprünge und zieht einen Vergleich zu Nahtoderfahrungen:
"Die Seele ist das, was sich mit dem Kind im Mutterleib verbindet und dem Körper Leben gibt. Sie ist auch das, was den Körper beim Tod verlässt. Ergo ist der Körper nur ein Gefäß. Kehrt die Seele in ihn zurück, wird er wieder lebendig. Genau das wird bei Nahtoderfahrungen beobachtet: eine Seele, die, wenn auch nur kurz, von ihrem Körper getrennt ist. Die Ägypter glaubten, dass der Tod kein sofortiger Zustandswechsel ist, sondern ein Prozess - ein Prozess, bei dem die Seele von einem Reich in ein anderes übergeht."
Also nicht augenblicklich, sondern auf einer Reise aus der Welt der Lebenden in jene der Toten, von der Naht über den Strand. Und diese hat sich in der Welt von Death Stranding mit einer gefährlichen Option auf Wiederkehr verändert, wie Deadman erläutert:
"Wenn der Tod eintritt, verlässt die Seele normalerweise den Körper und geht in die Naht über. Von dort geht sie in den Strand und erst dann in die Welt der Toten über. Doch nach der Strandung kann eine Seele, die bereits zum Strand gereist ist, versuchen, in dieser Welt zu ihrem Körper zurückzukehren. (...) Deshalb ist es zwingend erforderlich, dass wir die Körper der Toten verbrennen. Der Körper muss zerstört werden, um die Verbindung zur Seele zu trennen. Erst dann ist die Seele frei für die Reise in die jenseitige Welt."
Im Spiel ist der Strand eine übernatürliche, aber begehbare Zwischenstation. Fast jeder Mensch landet nach seinem Tod an einem persönlichen Strand, an einem von eigenen Vorstellungen und Erlebnissen geprägten Ort, an dem die Zeit nicht vergeht, bevor er ins Jenseits kommt. Ich sagte fast, denn der eingangs erwähnte Deadman, der als Arzt für die Präsidentin, BB-Experte sowie ebenfalls Sams Ratgeber fungiert, bezeichnete sich als Frankensteins Monster. Er wurde nicht von einer Mutter geboren, sondern aus der Retorte über Stammzellen gezüchtet und hat weder Familie noch eine Seele, und damit keinen persönlichen Strand. Er ist vom Tod besessen, aber schafft es im Verlauf des Spiels tatsächlich, über die wachsende persönliche Bindung zu Sam und Lou, an andere Strände zu reisen.
Diese real existierenden Strände bergen zudem das Wissen von 4,6 Milliarden Jahren an Erdgeschichte, so dass man sie erforschen kann. Außerdem sind sie wie ein übernatürliches Multiversum miteinander vernetzt, so dass man sie ebenfalls verbinden oder zwischen ihnen reisen kann. Dabei kann so einiges schief gehen, sowohl für einzelne Menschen als auch die ganze Spezies. Und dass diese jenseitige Welt überhaupt offen und zugänglich ist, ist, wie schon durch die Verbrennung angedeutet, der Anfang vom Ende. Also blicke ich jetzt mal darauf, wie die Geschichte beginnt.
Der Tod strandet
Im Intro wird die Weltschöpfung skizziert, die sich an der realen Entwicklung unseres Planeten orientiert. Nach der Entstehung von Raum und Zeit sowie der Erde aus dem Urknall und der Geburt des Lebens strandet nämlich mehrmals der Tod auf der Erde. Dieses Massensterben löscht fast alle Arten aus, aber lässt immer neues Leben entstehen. Tatsächlich gehen Wissenschaftler davon aus, dass es fünf mal in der Erdgeschichte ein derartiges Ereignis gab: vor 440, 365, 250, 210 und das letzte Mal vor 65 Millionen Jahren. Das war am Ende der geologischen Periode der Kreidezeit, als die Dinosaurier ausstarben und das so genannte Tertiär begann, in der sich die uns bekannte Tier- und Pflanzenwelt entwickelte.
Das scheint ein ewiger Kreislauf zu sein, wobei das sich wiederholende Verderben im Spiel "Death Stranding" genannt wird und zu Beginn des Jahres 2050 schon seit über 30 Jahren wütet. Zwar galoppierten keine vier Reiter aus der Hölle. Aber als sich die Pforten aus dem Jenseits öffneten, wurde eine global vernetzte Menschheit zunächst von gigantischen Detonationen getroffen; die erste schon im Jahr 2017, als Donald Trump das erste mal Präsident war.
Sie ereigneten sich, als man einen Kaiserschnitt bei einer hirntoten Frau durchführte und die Nabelschnur durchtrennte, um das Kind zu retten. Der Chirurg wurde überrascht, als er plötzlich die Totenseele sah, mit ihr in Kontakt kam und alles explodierte. Es folgten im Jahr darauf weitere, u.a. in Manhattan, bei der Trump starb und seine Vize-Präsidentin Bridget Strand das Amt übernahm. Sie empfängt zu Spielbeginn als sterbende greise Lady ihren Adoptivsohn Sam im Weißen Haus, der Amerika und die Welt retten soll, denn es ist längst viel schlimmer geworden.
Die weltweiten Detonationen waren Vorzeichen, aber erst danach, ab etwa 2019, begann dann das eigentliche Death Stranding. Also genau vor 31 Jahren, ausgelöst durch Sams unnatürliche Rückkehr aus dem Reich der Toten. Dazu komme ich später, auf jeden Fall sorgte seitdem ein so genannter Zeitregen dafür, dass Menschen, Tiere, Pflanzen und Gebäude rapide altern, so dass alle vor dem gefährlichen Niederschlag in Städte oder Bunker flohen und die Erde über die kommenden Jahrzehnte in eine lebensfeindliche Wildnis mit außerirdisch anmutender Ödnis verwandelt wurde.
Die Zivilisation brach weltweit samt ihrer Nationen, Gesellschaften sowie Kommunikation zusammen - kein Flugzeug kann seitdem abheben und es gibt weder Internet, Fernverkehr noch andere Arten des Reisens, weil es zu gefährlich ist. Und mit der Zeit entwickelte sich der Mensch zu einem misstrauischen, nahezu asexuellen Wesen voller Phobien und Zwänge. Ohne Verbindungen zur Außenwelt konnte man in Isolation allerdings nicht überleben. Deshalb florierten spezielle Kurierdienste wie das von der US-Präsidentin Bridget Strand gegründete Unternehmen Bridges sowie die konkurrierende Privatfirma Fragiles, die Waren transportieren.
Sie belieferten die Enklaven der wenigen Menschen, die in einer neuen apokalyptischen Realität einer deformierten Erde hausten. Aber ihre Boten wurden mit den Jahren liefersüchtig und mutierten zu so genannten MULEs – Banditen, die jede Fracht orten und rauben müssen. Sie bauten eigene Lager und lauerten in der Wildnis auf Wanderer. Außerdem gibt es dort skrupellose Terroristen, die teilweise Städte beherrschen und übersinnliche Fähigkeiten der Totenseelen nutzen, um jegliche Wiedervereinigung oder gar Rückkehr zur alten Gesellschaft zu verhindern.
Einige sehr wenige wie Sam, Fragile oder der maskierte Terrorist Higgs entwickelten eine Fähigkeit namens DOOMs, die neben Ausschlägen und Alpträumen je nach Stufe übernatürliche Supertalente wie eine Form der Teleportation oder das Beschwören von Totenseelen ermöglicht. Das ist sowohl eine mentale Öffnung für die Zwischenwelt der Strände als auch eine starke Allergie gegen das neue Chiralium.
Das Element mit seinen bizarren Kristallen in Doppelhandformen wurde mit Death Stranding sichtbar, exisstierte aber als dunkle Materie schon seit dem Urknall und kann den Menschen stark beeinflussen. Ähnlich wie bei den fünf erdgeschichtlichen Phasen des Aussterbens stecken hinter diesem Element der Story auch Fundamente aus unserer Realität: Das Wort stammt vom Griechischen "Hand" und Chiralität bedeutet in Chemie & Co, dass Atome in einem Molekül z.b. keine Drehspiegelachse besitzen und ähnlich wie linke und rechte Hand nicht deckungsgleich gespiegelt werden können - und man rätselt darüber, warum es so ist. Dazu Deadman:
"Dies ist das Wesen der Chiralität: der Zustand, in dem das Spiegelbild einer Form nicht mit dem Original übereinstimmt. Es wurde die Theorie aufgestellt, dass GDs „Spiegelbilder“ von uns selbst sind. Würden wir am selben Punkt in Zeit und Raum existieren, würden sich unsere „Formen“ nicht sauber überlappen, es sei denn in der Spiegelung. Und wenn unsere Teilchen auf ihre Gegenstücke treffen, entsteht eine Leere."
Die Menschen sind also umgeben von tödlichem Wetter, marodierenden Banditen sowie aggressiven Seelen aus dem Totenreich, die physikalisch so gefährlich sind wie kleine Atombomben. Sie kommen mit dem Zeitregen, wenn sich alles verdüstert und ziehen ihre Opfer in einen schwarzen Abgrund. Diese "gestrandeten Dinge", die man GDs nennt, sind für die meisten unsichtbare Geister, können jedoch von manchen Menschen mit BBs geortet werden und vielerlei Gestalt bis hin zum riesigen Monstrum annehmen. Sie bestehen in ihrem Inneren aus Antimaterie und beim Fressen eines Menschen explodieren sie in einem so genannten Leeresturz, der einen riesigen Krater hinterlässt. Deshalb müssen gestorbene Menschen innerhalb von 48 Stunden in Krematorien verbrannt werden, sonst verwandeln sich die Seelen der Toten in GDs aus Antimaterie, die teerähnliche Spuren hinterlassen.
Es gibt also wahrlich keine Gründe für einen gemütlichen Spaziergang von der Ost- zur Westküste. Es sei denn, man hat spezielle DOOMs-Talente wie Sam, der rebellische Adoptivsohn von Präsidentin Bridget Strand. Der muss zwar u.a. mit der Phobie leben, keinerlei menschliche Berührung zu vertragen, aber hat viel Erfahrung als Kurier mit der Wildnis sowie den GDs gesammelt, kann sie mit seinem neuen BB orten und als so genannter Rückkehrer nach einer Niederlage und seinem potenziellen Tod sogar einen Weg vom Strand zurück ins Leben finden.
Nur kündigte er seinen Job bei Bridges schon im Jahr 2040, als sich seine Frau Lucy umbrachte und ihre ungeborene Tochter mit in den Tod nahm, die sie Louise nennen wollten. Der 21-jährige verbitterte seit einem Jahrzehnt in Schuldgefühlen, denn die Alpträume und der Selbstmord seiner schwangeren Frau hatten mit seinem Blut, seiner Rolle als DOOMs sowie dem nahenden Weltende zu tun, was Lucy nicht verkraften konnte.
Doch seine im Sterben liegende Präsidentin und Adoptivmutter will ihn nach zehn Jahren davon überzeugen, das Land zu vereinen, indem er alle Städte bis zur Westküste mit einer Art neuem Internet verbindet. Durch die Öffnung des Jenseits kann man die Strände sowie die das Wesen der Chiralität nutzen, um eine neue Form der sofortigen Kommunikation über ein chirales Netzwerk aufzubauen. Dazu Deadman: "Die neue Form der Kommunikation, die wir entwickelt haben, nutzt Strände, die wie Spiegel sind, die diese und die andere Welt reflektieren, daher der Begriff „chirales Netzwerk“."
Zunächst hat er keine Lust erneut den Boten oder gar den Retter Amerikas zu spielen. Erst als er erfährt, dass seine Adoptivschwester Amelie Strand, die künftige Präsidentin, auf einer Expedition mit ähnlichem Ziel scheiterte und von Terroristen als Geisel gefangen gehalten wird, änderte der 31-jährige seine Meinung und zog im Jahr 2050 los - denn sie hatte ihn quasi großgezogen und ihm schon als Kind geholfen, wenn er Alpträume hatte und sich in der Zwischenwelt der Strände verirrte. Also verbindet er sich mit einem BB, einem 28 Wochen alten Säugling in einer Glasgebärmutter, mit dem er Totenseelen in der Luft schweben sieht.
Die große Lüge
Ab jetzt wird es kompliziert und mysteriös. Denn Sam und der Spieler wissen bis hierher gar nichts - und sie werden erst im letzten Akt komplett von den wahren Hintergründen überrascht. Bis dahin sieht es fast so aus, als würde ein Held mal wieder eine Prinzessin in Nöten befreien, diesmal eine blonde Lady in Red, viele böse Schurken besiegen, darunter natürlich der Terroristenanführer Higgs, und ein bedrohtes Königreich im Namen der Freiheit retten. An dieser Stelle kommt der Humor nicht zu kurz, als Sam zu Amelies Hologramm sagt:
„Toll, ich bin also Mario und du bist Prinzessin Peach.“
Aber schon die eigene Familie besteht nicht nur aus Lügen, sondern sogar aus dem Auslöser und Antreiber der Katastrophe. Hinter Death Stranding stecken weder Meteore noch das Klima, weder Gott noch Satan oder Aliens, sondern ein zeitlos existierendes Wesen namens Extinktionsentität (EE), das bei seinem sechsten Auftreten in Menschengestalt wiedergeboren wurde. Und zwar in Bridget Strand, die deshalb schon als kleines Kind in den 80er Jahren apokalyptische Alpträume vom Weltende hatte und schließlich Präsidentin wurde. Sam ist also von Anfang an für seine Mutter unterwegs, um die Menschheit auszulöschen.
Allerdings ist Bridget Strand als Charakter nicht das klassische ultimative Böse, sondern dazu bestimmt, Death Stranding auszulösen - sie trägt eine Art Code der Vernichtung in sich, aber wird ebenfalls von Alpträumen der Vernichtung geplagt. Als sie das erkennt, kämpft sie verzweifelt dagegen an, sucht als junge Präsidentin nach Wegen die Auslöschung zu verhindern, studiert die Strände samt ihrer Geschichte und chiralen Energie. Dann erkrankt sie als junge Frau an Gebärmutterkrebs, was sie als Bestrafung der in ihr verankerten Extinktionsentität ansah, weil sie gegen diese rebellierte.
Damit nicht genug, spaltete sich bei der Operation ihre Persönlichkeit: ihre Seele und ihr Körper wurden voneinander getrennt, wobei ihr Körper in Amerika blieb und ihre Seele am Strand aufwachte, also dem Ort zwischen der Welt der Lebenden und der Toten, und dort ewig jung bleiben würde. Beide Teile derselben Person wissen voneinander und dass nur eine von ihnen körperlich altern würde. Also erschuf Bridget als Ausrede eine jüngere Tochter namens Amelie, die im Spiel als Hologramm und Lady in Red auftaucht.
Sam hat also gar keine Schwester, sondern nur eine Mutter in zwei Altersklassen, die zwar versuchte ihrem Schicksal zu entgehen, aber letztlich alles um sich herum für das Weltende manipulierte. Bridget und Amelie entwickelten sich als Charaktere etwas unterschiedlich - die eine in Einsamkeit in der Zwischenwelt des Strandes, die andere als Präsidentin in der Öffentlichkeit. Zwar wehrten sie sich auf gewisse Art gegen ihre Bestimmung, recherchierten nach Lösungen und experimentierten über die so genannten Brückenbabys (BB) mit dem Leben und dem Tod.
Das waren Versuche mit Embryos in Kapseln, die zwischen der Welt der Toten und der Lebenden existieren und damit als Schlüssel für die Geheimnisse von Death Stranding betrachtet wurden. Zur angeblichen Rettung der Menschheit will Bridget mit dem ungeborenen Kind von US-Captain Cliff Unger (Mads Mikkelsen) und seiner Frau Lisa experimentieren, die nach ihrem Hirntod künstlich am Leben gehaltenen wird. Das Baby wurde in einer tragbaren Kapsel mit Fruchtwasser ohne weitere Entwicklung konserviert, während Cliff es BB nannte, ihm Geschichten erzählte und etwas vorsang.
Und genau das war Sam. Diese Ereignisse vor 31 Jahren legen den Grundstein für seine Geburt und Ängste sowie Death Stranding. Eine gesunde Vater-Kind-Beziehung war nicht das Ziel der Experimente, denn die BBs sollten als Werkzeuge und Verstärker für den Aufbau des chiralen Netzwerks dienen, für das man sie quasi opfern wollte. Als die Kapsel verlegt werden sollte, wurde Cliff von seinem ehemaligen Militärkameraden bei den US Army Special Forces, John Blake Mc Clane aka Die-Hardman, der am Ende von Death Stranding der Präsident der United Cities of America ist (UCA), davor gewarnt.
In der Nacht der Flucht eskaliert alles, denn Cliff tötet seine Frau, flieht mit BB, aber wird von Wachen mehrfach getroffen, während er seinem Babysohn noch sagt, dass die Familie immer wichtiger sei als die Pflicht - und das hallt tatsächlich 31 Jahre später in Sam nach. Als Bridget sieht, dass Cliff ihn aus der Kapsel genommen hatte, befiehlt sie Die-Hardmann ihn sofort zu erschießen. Der zögerte jedoch und als Bridget die Geduld verlor und eingriff, erreichte der Schuss versehentlich Cliff und das Baby, welches stirbt und am Strand landet.
Dort erfuhr Amelie von dem Unglück. Mittlerweile besaß sie so viel Macht, dass sie das Baby wiederbeleben und in die Welt der Lebenden zurückschicken konnte. Aber das war alles andere als natürlich oder gar ein Happy End, sondern der Anfang vom potenziellen Ende - denn genau durch dieses Ungleichgewicht wird das Stranden des Todes um etwa 2019 herum herbeigeführt. Und gleichzeitig kommt der Held namens Sam ins Spiel, der aus diesem Baby erwächst.
So wird Sam Porter bei Präsidentin Bridges als erster so genannter Rückkehrer aus dem Reich der Toten großgezogen. Vornehmlich von Amelie, die sich intensiv um ihn kümmert, wenn er sich in den Alpträumen seines Strandes verirrt, so dass er im Gegensatz zur viel beschäftigten Präsidentin eine starke emotionale Bindung zu ihr aufbaut. Sam ahnt noch nicht, dass er irgendwann gegen seinen leiblichen Vater Cliff kämpfen muss, der auf der Suche nach seinem Kind in der Kapsel als rastlose Totenseele in Menschengestalt in seiner eigenen düsteren Zwischenwelt gestrandet ist, die an die Bunker des Ersten Weltkriegs erinnerte. Er griff Sam später an, weil er ihn nicht als seinen Sohn erkannte und dessen Baby Lou mit seinem BB verwechselte.
Last Stranding
Bridget bzw. Amelie erkennen irgendwann die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens, den tödlichen Zyklus aufzuhalten. Und dann beschließen sie, den bisherigen Kreislauf von Death Stranding durch ein finales Aussterben namens Last Stranding so schnell wie möglich zu beenden. Aus Amelies Sicht wäre das quasi ein Ende mit Schrecken, statt ein Schrecken bzw. Leiden ohne Ende. Die Vereinigung Amerikas über das chirale Netzwerk würde alle dafür nötigen Zündschnüre gebündelt zusammen bringen: die Strände aller Menschen. Amelie könnte dann von ihrem Strand aus, der als zentrale Schnittstelle dient, gleichzeitig durch alle anderen Strände ihre Antimaterie jagen - das wäre die sofortige, so genannte letzte Auslöschung.
Sam führte also wie Amelie ein paar Jahre zuvor die Expedition nach Edge Knot City in den Westen fort, um das chirale Netzwerk zu verbinden und die Kommunkation der Städte herzustellen. Dafür nutzte er das Q-Pid, eine Kette aus dem Kristall Chiralium, mit dem sich die Terminals in den Siedlungen aktivieren lassen. Und er ahnte nicht, dass seine Visionen nicht etwa von Baby Lou aus der Kapsel vor seinem Bauch kamen, sondern aus seiner eigenen Erinnerung, denn er war ja selbst ein BB. Auf seiner Reise half ihm die junge Frau Fragile, die der gleichnamigen Transportfirma Fragile Express angehörte und die als postapokalyptische Mutation wie Sam übernatürliche Fähigkeiten bzw. den Fluch des DOOMS besaß, nur noch ausgeprägter als er. Auf dem Weg zum Ziel wird u.a. an Sams Blut geforscht und e serweist suich als effizientes Mittel gegen GDs, aus dem Munition hergestellt wird - Sam wird der erste Mensch, der eine Totenseele damit vernichtet.
Und tatsächlich sollte er seine Schwester Amelie aus den Fängen der separatistischen Terrorgruppe Homo Demens befreien, ohne zu wissen, dass das alles Teil ihres Plans war. Ihr Anführer war der maskierte Higgs Monaghan, der selbst mal für Fragile Express arbeitete und von Amelie verführt wurde, die ihm die Macht des DOOMs sowie über GDs und eine Puppe verlieh, die ihn zwar zu ihrem Strand brachte, aber mit der sie ihn und andere letztlich wie Spielzeuge benutzen konnte. In ihrem Auftrag sorgte er für die Unabhängigkeit von Edge Knot City im Westen der USA. Er war der erste und hartnäckigste Antagonist des Spielers, in dessen Fixierung und Eifersucht sich die neurotische Beziehung zu Sams Mutter Amelie zeigte. In der Nähe von Capitol Knot City kam es gegen riesige GDs zum finalen Gefecht mit Higgs, bevor Sam mit Hilfe von Fragile endlich den Strand seiner Schwester erreichte, wo sie - Überraschung - mit einem knienden Higgs sprach.
Als Sam ihn besiegte, erklärte sich Amelie samt ihrer Lügen, denn sie war nie eine Geisel und wollte ihn die ganze Zeit über zur Reise zwingen. Sie erklärte ihm, dass die Menschheit ja ohnehin aussterben würde, ob jetzt oder in tausend Jahren. Aber die starke Beziehung zu Sam ließ sie zweifeln, ob das jetzt geschehen müsse. Außerdem konnte sie auf seiner Reise beobachten, wie er tatsächlich eine Gemeinschaft mit Deadman & Co bildete, Verbindungen und Hoffnungen schuf. Aber warum wollte er weiter in einer sterbenden Welt leben?
Schließlich überließ sie ihm die Entscheidung: Er konnte mit ihr zusammen ihren sowie den Untergang der Menschheit beobachten, der ihr Leid sofort beenden würde, oder sie mit dem Revolver töten, um die Verbindung zwischen ihnen zu trennen und die Auslöschung zu verschieben. Man hatte allerdings keine Wahl als Spieler, musste das Finale auf eine Art einleiten, wenn man Amelie schließlich umarmte und ihr sagte, dass Menschen selbst in schwierigsten Situationen zusammenhalten und gegen jeglichen Widerstand überleben wollen. Das sorgte dafür, dass sie allein am Strand verharren wollte und alle Verbindungen opferte, um das immer noch unausweichliche Aussterben wenn nötig tausende Jahre zu verschieben - dann verbannte sie Sam für immer von ihrem Strand. Schließlich sieht man fünf Gestalten am Himmel, ebenso wie Amelie Extinktionsentitäten, und zwar aus den früheren Zyklen.
Sam erlebte auf der Erde wie Die-Hardmann als neuer Präsident der UCA darüber spricht, dass jetzt alle zusammen eine schöne neue Welt aufbauen können. Sein letzter menschlicher Akt im Spiel besteht darin, das Baby Lou nicht etwa im Krematorium zu verbrennen, sondern - genauso wie es sein Vater mit ihm machte und für ihn wünschte - aus der Kapsel zu befreien und als eigenes Kind großzuziehen. Es hat zwar nur eine geringe Chance zu überleben, aber genau die gibt ihm Sam - genauso wie der Menschheit.
Epilog
Man konnte dieses Finale also nicht so beeinflussen wie jenes von Clair Obscur: Expedition 33, denn es gab nur dieses eine Ende. Und das konnte man angesichts der unausweichlichen Auslöschung vielleicht als das maximal gute bezeichnen, weil es allen etwas mehr Zeit schenkte.
Zumindest für Sam als Vater sowie einige Generationen wurde die Hoffnung auf eine bessere Zukunft geweckt. Außerdem gibt es in den Vereinigten Städten von Amerika jetzt automatischen Lieferservice, Mega-Server an Stränden, ein Plattentor verbindet Kontinente. All das klingt nach Aufbruch und Fortschritt.
Doch genau diese heroische Vernetzung der Menschen birgt einen Fluch in sich, es entstehen mysteriöse Kulte, der Tod zeigt ganz andere Gesichter, die Zivilisation ist erneut bedroht ...
... und Death Stranding 2: On The Beach wird mit der Frage eingeleitet:
Hätten wir uns verbinden sollen?
Auf diese Frage geht Hideo Kojima direkt in einem Interview ein:
"Ich denke, dass jede einzelne Person selbst entscheiden sollte, welche Verbindungen man eingehen möchte. (...) Aber im Internet oder auf Twitter, kann man mit anderen verbunden werden, ohne dies direkt zu beabsichtigen. Am Ende vernetzt man sich mit Fremden, selbst dann, wenn man niemals annehmen würde, dass man sich mit ihnen vernetzt hat. Deshalb frage ich mich, ob eine Gefahr darin besteht, dass alles auf diese Weise etwas zu sehr miteinander verbunden ist, und ich denke, das wird am Ende unglaublich wichtig werden."
Interessant ist vielleicht noch zum Abschluss und als Hintergrund für Death Stranding 2, dass er dessen Geschichte aufgrund der Erfahrungen durch Corona umschrieb. Hier seine Erläuterungen aus einem Interview:
"Es ist dasselbe wie mit dem 11. September. Fiktion ändert sich, wenn etwas von diesen Ausmaßen geschieht. Wenn etwas geschieht, von dem niemand dachte, dass es möglich sei, sind fiktive Arbeiten, die zuvor geschrieben wurden, als Unterhaltung weniger effektiv. (...) Man kann nicht so tun, als sei etwas Großes nie geschehen. Während die Spiele auf Charaktere setzen, die nicht unserer Realität entspringen, haben die Spieler*innen selbst die Pandemie miterlebt, und eine Geschichte, die vor dieser Erfahrung geschrieben wurde, würde niemals auf dieselbe Weise mit ihnen resonieren, egal, ob es sich um eine Fantasy- oder eine Sci-Fi-Geschichte handelt. (...) Ich denke, was uns dazu bewegt, uns als Menschen weiter zu entwickeln, ist die Summe all dieser Art unvorhersehbarer, zufälliger Erlebnisse. Deshalb denke ich, dass es ein wenig fehlgeleitet wäre, panisch ins Metaverse zu fliehen oder in Doraemons Anywhere Door, nur weil wir eine Pandemie hatten. (...) Verbindungen zu erschaffen, war die richtige Handlungsweise in Death Stranding, und es gibt sehr viele isolierte Menschen, die überleben konnten, weil Verbindungen zustande kamen, als die Pandemie dann wirklich aufkam. Ich frage mich nur, ob wir das allein im Internet tun sollten."
[Death Stranding erschien am 8. November 2019 zuerst für PS4, wurde im Juli 2020 für PC, im Juli 2021 als Death Stranding Director's Cut mit mehr Missionen, Ausrüstung sowie Hilfen in der Routenplanung für PS5 und im November 2024 für XBS veröffentlicht.]
PS: Damit die Diskussion an einer Stelle gebündelt wird, kann man nicht hier, sondern nur im Forum unter Kommentare zu Berichten kommentieren.
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