Death Stranding 2, die Niederlande und der Kolonialismus
- Jörg Luibl

- 19. Juni
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 20. Juni
Hinter Death Stranding (zur Vertiefung) steckt bekanntlich ein niederländisches Fundament: Das Spiel wird von der Decima Engine befeuert, die 2013 von Guerilla Games in Amsterdam entwickelt wurde. Das ist das ehemalige Studio von Hermen Hulst, dem aktuellen Chef der PlayStation Studios, das sie erstmals 2015 im Shooter Killzone: Shadow Fall auf der PS4 einsetzte. Seitdem bildet sie die technische Grundlage für Spiele wie Horizon: Zero Dawn sowie Horizon: Forbidden West (zur Rezension) und Until Dawn.
Zwar ist sie längst nicht so weit verbreitet wie Unity, Unreal Engine & Co, aber aufgrund der prominenten Exklusivspiele von Sony recht bekannt. Sie hatte über fast drei Jahre jedoch nicht einmal einen Namen bei Guerilla. Erst als 2016 die Kooperation mit Hideo Kojima für Death Stranding zustande kam und man sie vermarkten wollte, wurde sie Decima getauft. Und hier beginnen die interessanten Verbindungen zwischen Japan und den Niederlanden, die bis Death Stranding 2: On the Beach (zur Erkundung) reichen.
Decima, Japan und die Ostindien-Kompanie
Decima klingt ja zunächst nach Latein, zumal es dort u.a. als Zahlwort für "der Zehnte" steht. Aber der Name wurde nach dem Japanischen "Vorinsel" gewählt. Er beruht auf einer Schreibweise der Edo-Zeit für das im Stadtkern von Nagasaki integrierte Dejima. Man erkennt es heute nicht mehr als Insel, aber die Stadt bemüht sich seit 1996 um eine historische Rekonstruktion, die irgendwann das Wasser über neu angelegte Kanäle zurückbringen soll.

Denn im 17. Jahrhundert war Decima eine künstliche Insel in der Bucht. Man schüttete sie für westliche Kaufleute auf und errichtete eine Art Wasserburg, mit einer Mauer um etwa 20 Gebäude und einem bewachten Zugangstor. Ab etwa 1641 war die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC), oder Niederländische Ostindien-Kompanie, für über 200 Jahre exklusiv und finanziell extrem lukrativ dort aktiv. Sie betrieb in der Edo-Zeit der kulturellen und politischen Abschottung die einzige Schnittstelle zum Westen.
Trotzdem reichte dieses kleine Fenster für frische Impulse aus. Zwar gab es sehr strenge Regeln für die Niederländer, die nicht alleine durchs Land reisen und nur in Begleitung ihre Kontakte treffen durften. Aber die VOC sorgte im 18. Jahrhundert nicht nur für die Einführung von Bier oder Schokolade: Sie importierten auch Sprache, Literatur, Medizin und Technik aus Europa - und das Interesse der Japaner sorgte für die so genannte "Hollandkunde" (Rangaku).

Wenn man so möchte, ist die im Spiel von Hideo Kojima eingesetzte Decima-Engine eine Fortführung dieses kulturellen Austausches, denn aus Europa kamen auch wissenschaftliche Instrumente. Und in Death Stranding 2: On the Beach wird diese ferne Beziehung zwischen Spiel und Engine, Japan und Holland, vielleicht noch um eine interessante Verflechtung innerhalb von Story und Artdesign ergänzt, die auch die Schattenseiten dieser Beziehung zwischen Europa und Fernost einfließen lässt. Denn bis zum frühen 19. Jahrhundert brachten die Niederländer auch den Sklavenhandel nach Japan, mit Menschen aus Asien und Afrika. Sie waren zwischen 10 und 40 Jahre alt, wurden in den Schiffsregistern als "zwarte jongen" bezeichnet, wie Vieh behandelt und waren bei ihrer Ankunft auf Dejima oft so verzweifelt, dass in den Diensttagebüchern von Flucht und Selbstmord berichtet wird. Auf japanischen Holzschnitten der Edo-Zeit sind sie als kleine Schirmträger zu erkennen.
Mit dem Sklavenhandel kannte sich die VOC als weltweit führende private Firma seit dem 17. Jahrhundert bestens aus. Sie transportierte etwa fünf mal so viel Tonnage wie die britische Konkurrenz, verfügte über 200 Schiffe, 10.000 Soldaten und 50.000 Angestellte. Sie rekrutierte wie ein heutiger Großkonzern aus aller Welt ihr Personal, darunter auch Deutsche, die sich ebenfalls als Aktionäre beteiligten - die Blütezeit der Fugger und Welser, die über Hamburg verschifften, war längst vorbei.

Die Niederländische Ostindien-Kompanie mit Hauptsitz Amsterdam und Middelburg hatte fast bis zu ihrem Bankrott im Jahr 1799 ein Monopol im weltweiten Transport, kolonisierte und eroberte Land wie ein eigener Staat. Und damit komme ich zur Automated Public Assistance Company (APAC), die in Death Stranding 2: On the Beach als Privatfirma eine ähnliche Macht hat. Denn sie kontrolliert den voll automatischen Lieferservice mit Robotern im Auftrag der United Cities of America (UCA).
Zwei Logos, eine historische Verbindung?
Und wenn man sich das Logo dieser fiktiven amerikanischen Company mal anschaut und es mit dem Siegel der VOC vergleicht, dann hat sich das Team von Hideo Kojima vielleicht an jenem der historischen niederländischen Kompanie orientiert - zumindest erinnert die Anordnung der Buchstaben daran:

Und der Kompass deutet in alle Richtungen, umfasst quasi die ganze Welt, was den Kolonialismus als ein Thema von Death Stranding 2: On the Beach auch nochmal symbolisch verstärkt. Er war ja schon im Vorgänger präsent, als es um die Geschichte und Eroberung Amerikas ging. Als Deadman sinnierte, ob Columbus oder Vespucci die Ehre der Entdeckung gebührt, kommt er zu dem Schluss:
"Aber wenn Sie mich fragen, ist das eigentlich egal. Keiner von ihnen hat Amerika „entdeckt“. Das hat niemand. Es war schon immer da und beherbergte bereits eine große Anzahl von Menschen. Die Vorstellung, dass ein Europäer diesen Ort - oder irgendeinen anderen Ort - „entdeckt“ hat, ist die größte Lüge von allen, meinen Sie nicht auch?"
Hideo Kojima weitet diese nationale Frage quasi international aus und hinterfragt den Kolonialismus auch auf digitaler Ebene der Daten sowie der Macht von KI; darin steckt eine Form der Kritik der Digitalisierung (siehe Erkundung). Damit knüpft er an seine Gesellschaftskritik an, die sich nicht nur an Amerika, dessen Identität und Außergewöhnlichkeit (siehe Erkundung) richtet. Das ist jedenfalls ein weiterer, schöner kulturhistorischer Bezug, der das Thema der Wiederkehr und Zyklen innerhalb der Story verstärkt, zumal sich die Geschichte und Motive der beiden Privatfirmen ähneln.
Ähnlich wie VOC die Fugger, die Briten und Portugiesen verdrängt bzw. überholt hat, hat sich APAC gegen die Privatfirmen aus Death Stranding namens Bridges und Fragiles durchgesetzt, weil sie den Mensch als Boten ersetzen konnten. Wobei ihnen nicht nur das technische Know-how automatischer Lieferroboter half, sondern die Macht der gesammelten Daten all jener im chiralen Netzwerk. Und die ist so groß, dass der US-Präsident gar nicht mehr klassisch gewählt, sondern auf Datengrundlage bestimmt wird.
Die APAC will ihr chirales Netzwerk auf andere Teile der Welt ausweiten, darunter Mexiko und Australien. Angeblich zum Wohle der Menschheit und ohne politische oder gar nationale Eroberungsabsichten der UCA. Sondern weil die Leute in isolierten Städten mit schwächerer Technologie noch mehr unter dem gestrandeten Tod leiden und weil die APAC mit einer digitalen Vereinigung der ganzen Welt diesen vielleicht besiegen könnte. Sam hat da so seine Zweifel ...
Aber er lässt sich vom "Präsidenten" von APAC und seiner guten alten Freundin Fragiles überreden. Sie hat mit ihrer neuen Firma namens Drawbridge bereits den Auftrag von APAC erhalten, Mexiko ins chirale Netzwerk zu bringen - dafür braucht sie Sam. Also steigt er in ihr Raum-Flaggschiff namens DHV Magellan, mit dem der Spieler um die ganze Welt reisen kann. Und mit diesem letzten historischen Bezug zum portugiesischen Seefahrer (1485-1521), auf dessen Expedition sie von 1519 bis 1522 erstmals umsegelt wurde, beende ich diese Erkundung.
Moment: Falls Drawbridge mit einem "portugiesischen" Schiff im Auftrag der "niederländischen" Firma APAC unterwegs ist, müsste es doch rein "historisch" von dieser Konkurrenz bekämpft, überholt und verdrängt werden?
Mal abwarten, die Rezension zu Death Stranding 2: On the Beach gibt es nächste Woche.
Ich heiße Jörg Luibl, bin freier Journalist und biete mit Spielvertiefung seit November 2021 ein unabhängiges Magazin an, in dem die Kultur und nicht der Klick relevant ist. Ich arbeite alleine und verzichte komplett auf Werbung, Kooperationen sowie über KI erstellte Inhalte. Diese Alternative zum Reichweiten-Journalismus ist nur dank der Unterstützer über Steady möglich.












Bei Ostindien-Kompanie und Dejima musste ich direkt an den Roman "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet" von David Mitchell denken. Ein großer Teil von diesem Roman spielt auf der Insel Dejima. Wie viel historisches im Roman steckt und wie viel Fiktion ist, kann ich nicht sagen. Es geht aber auch um die Beziehungen zwischen Niederländer und Japaner.
Immer diese interessanten Background Appetizer aber auch. Was wird aus meinem digitalen Detox über die Sommermonate wenn die FOMO an den Nerven nagt?
Clever recherchiert das mit dem Logo, könnt hinkommen.
Und Spanien? Vergesst mir die Spanier nicht.
Kojima hat übrigens die Engine auch mal fälschlicherweise mit der griechischen Göttin der Geburt [sic!] in Verbindung gebracht.
"Decima is the Greek Goddess of childbirth, and that has a nice connection with creativity"
Quelle
Decima ist aber keine griechische Göttin der Geburt. Das ist Lucina (vom lateinischen Lux für Licht).
Decima ist eine der drei Parcae, der römischen Schicksalsgöttinen: Norna, Decima und Morta. Wobei Decima den Lebensfaden misst und damit die Lebensdauer besimmt.
PS: die wichtigste griechische Göttin der Geburt ist Artemis. Die "griechishe Göttin", die man mit der Parca Decima gleichsetzen kann ist eine der drei Moiren: Lachesis.
Wow. Tolle historisch/kulturelle Verbindungen (Strands). Ich dachte tatsächlich, dass Decima eine Kojima eigene Engine sei... Aber überhaupt von Decima auf Dejima, etc. zu schließen, diese Leistung muss man erstmal erbringen. Und ja, das APAC Logo kann kein zufälliges Design sein. Das reale APAC kannte ich nur aus dem Wirtschaftskontext, der die Region Asian Pacific umfasst (Ost-/ Südostasien bis Australien). Das würde allerdings nicht mehr mit Mexiko hinkommen.
Einzige Minikritik ist der minimale Spoiler zur Motivation von Sam, jenseits der USA tätig zu werden. Ich versuche wirklich so blank wie möglich in DS2 zu gehen.
Deinen Zeilen entnehme ich, dass das Motiv der Sklaverei in DS2 eine wichtige Rolle spielen könnte, denn im Grunde scheint ja Sam bzw. Drawbridge dem Lieferroboter…