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Game Studies: Das ludische Manifest (Eric Zimmerman)

Was denken Soziologen, Philosophen und Kulturwissenschaftler über Spiele? Über was wird in den Game Studies diskutiert? Ich habe diese Reihe mit Auf Abwegen - Folk horror, Videospiel und das Problem der Natur von Daniel Illger begonnen. Es gibt dazu unter Berichte eine eigene Kategorie, in der ihr alle bisherigen Erkundungen und Podcasts über Game Studies findet.


Im letzten Beitrag ging es ja um den Sammelband Computerspiele - 50 zentrale Titel, in dem Autoren aus allen Fachrichtungen ihre Sicht auf Spiele von Pong aus dem Jahr 1972 bis The Witcher 3 von 2015 teilten. Dabei war auch ein Artikel über Tetris von Prof. Dr. Jens Junge, den ich diesen Freitag im freien Podcast begrüße und der an der (junifrischen) Gründung der Deutschen Gesellschaft für Spielwissenschaft (DGSW) beteiligt war.

"Manifesto for a Ludic Century" erschien 2015 auch in diesem Sammelband bei MIT Press.
"Manifesto for a Ludic Century" erschien 2015 auch in diesem Sammelband bei MIT Press.

Ein theoretisches Fundament auf dieser langen Reise der Anerkennung des Spiels als Kulturgut war für Jens Junge das "Manifesto for a Ludic Century" des amerikanischen Spieldesigner Eric Zimmerman aus dem Jahr 2013. Das war kein klassischer Aufsatz, sondern tatsächlich eine Grundsatzerklärung mit Thesen, die er zusammen mit Heather Chaplin entwarf. Sie debütierte damals beim US-Magazin Kotaku, ist frei verfügbar und erschien 2015 auch gedruckt im Sammelband The Gameful World bei MIT Press.


Zimmerman war damals etwas über 40 Jahre jung, aber hatte bereits reichlich Erfahrung in der Entwicklung von Spielen, organisierte Gamedesign-Wettbewerbe auf der Game Developers Conference, gründete u.a. das Independent-Studio Gamelab (Diner Dash), hatte Lehraufträge an diversen Unis, konzipierte mit Künstlern und Architekten diverse großformatige Spiele für Ausstellungen, die u.a. im New York Museum of Modern Art liefen. Da man das Manifest aufgrund der universellen Thesen schlecht zusammen fassen kann, folgt es hier komplett in deutscher Übersetzung. Man könnte natürlich über jeden Punkt diskutieren, obwohl es hier nicht um große Kontroversen geht. Manche Punkte sind unstrittig oder bekannt, beruhen auf antiker Philosophie oder Johan Huizingas Klassiker Homo Ludens von 1938, andere sind vielleicht zu allgemein euphorisch, was die Macht des Spiels angeht, aber auf jeden Fall ist das eine interessante kulturhistorische Einschätzung, die mal das Fernglas und nicht die analytische Lupe ansetzt.


Spiele sind uralt.


Wie das Musizieren, das Erzählen von Geschichten und das Erschaffen von Bildern

ist auch das Spielen Teil dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein. Spiele sind vielleicht die ersten interaktiven Systeme, die unsere Spezies erfunden hat.



Die digitale Technologie hat Spielen eine neue Bedeutung verliehen.

Der Aufstieg der Computer ging einher mit dem Wiederaufleben von Spielen in unserer Kultur. Das ist kein Zufall. Spiele wie Schach, Go und Parcheesi ähneln digitalen Computern, Maschinen zum Erstellen und Speichern numerischer Zustände. In diesem Sinne haben nicht Computer Spiele geschaffen, sondern Spiele haben Computer geschaffen.



Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Information.

Systemtheorie, Kommunikationstheorie, Kybernetik, künstliche Intelligenz, Informatik – diese Bereiche, von denen viele schon lange vor dem Aufkommen elektronischer Computer entstanden waren, trugen zur Entstehung der „Informationsrevolution” bei. Die Abstraktion von Informationen hat äußerst komplexe Bürokratien und Technologien ermöglicht, von Telegrafen- und Telefonnetzen bis hin zur NASDAQ und Facebook.



In unserem spielerischen Jahrhundert wird mit Informationen gespielt.

Unsere Informationsnetzwerke haben nicht mehr die Form von riesigen Karteikartenkatalogen oder Rohrpostnetzen. Digitale Netzwerke sind flexibel und organisch. In den letzten Jahrzehnten hat die Information eine spielerische Wendung genommen. Ein Paradebeispiel dafür ist Wikipedia, bei dem es nicht darum geht, dass Nutzer auf ein Lagerhaus von Expertenwissen zugreifen. Es ist eine chaotische Gemeinschaft, in der die Nutzer auch die Experten sind, die gemeinsam die Informationen erstellen und gleichzeitig das System als Ganzes weiterentwickeln.

Im 20. Jahrhundert war das bewegte Bild die dominierende Kulturform.

Während Musik, Architektur, das geschriebene Wort und viele andere Ausdrucksformen im letzten Jahrhundert florierten, dominierte das bewegte Bild. Persönliches Geschichtenerzählen, Nachrichtenberichterstattung, epische kulturelle Erzählungen, politische Propaganda – all dies wurde am wirkungsvollsten durch Film und Video zum Ausdruck gebracht. Der Aufstieg des bewegten Bildes ist eng mit dem Aufstieg der Information verbunden; Film und Video als Medien repräsentieren lineare, nicht-interaktive Informationen, auf die ein Zuschauer zugreifen kann.



Das Ludische Jahrhundert ist ein Zeitalter der Spiele.

Wenn Informationen ins Spiel gebracht werden, ersetzen spielerische Erfahrungen lineare Medien. Medien und Kultur im Ludic Century werden zunehmend systemisch, modular,

anpassbar und partizipativ. Spiele verkörpern all diese Eigenschaften in einem sehr direkten Sinne.

Immer mehr Menschen werden ihre Freizeit mit Spielen verbringen und Kunst, Design und Unterhaltung in Form von Spielen oder spielähnlichen Erfahrungen konsumieren.



Wir leben in einer Welt der Systeme.

Die Art und Weise, wie wir arbeiten und kommunizieren, forschen und lernen, Kontakte knüpfen und Beziehungen pflegen, unsere Finanzen verwalten und mit unseren Regierungen kommunizieren, ist eng mit komplexen Informationssystemen verflochten – in einer Weise, die vor einigen Jahrzehnten noch undenkbar gewesen wäre. Für eine solche systemische Gesellschaft sind Spiele eine natürliche Ergänzung. Während jedes Gedicht und jedes Lied sicherlich ein System ist, sind Spiele im wahrsten Sinne des Wortes dynamische Systeme. Von Poker über Pac-Man bis hin zu Warcraft sind Spiele Maschinen aus Ein- und Ausgängen, die von Menschen bewohnt und manipuliert werden.



Es ist notwendig, spielerisch zu sein.

Es reicht nicht aus, nur systemkundig zu sein, Systeme in analytischem Sinne zu verstehen. Wir müssen auch lernen, in ihnen spielerisch zu sein. Ein spielerisches System ist ein menschliches System, ein soziales System voller Widersprüche und Möglichkeiten. Verspieltheit ist der Motor für Innovation und Kreativität: Wenn wir spielen, denken wir über das Denken nach und lernen,

auf neue Weise zu handeln. Als kulturelle Form haben Spiele eine besonders direkte Verbindung zum Spielen.

Wir sollten wie Designer denken.

Im Ludic Century können wir keine passive Beziehung zu den Systemen haben, in denen wir leben. Wir müssen lernen, Designer zu sein, zu erkennen, wie und warum Systeme aufgebaut sind, und zu versuchen, sie zu verbessern. Es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis sich Automobile von einer Hobbytechnologie, die Expertenwissen erforderte, zu einem fest etablierten Konsumprodukt entwickelten. Der ständige Wandel der digitalen Technologie bedeutet, dass sich unsere Hardware- und Softwaresysteme möglicherweise nie auf diese Weise stabilisieren werden. Um uns voll und ganz auf unsere Welt der Systeme einzulassen, müssen wir alle

denken wie Designer.


Spiele sind eine Form der Bildung.

Systeme, Spiel, Design: Dies sind nicht nur Aspekte des Ludischen Jahrhunderts, sondern auch Elemente der Spielkompetenz. Bildung bedeutet, Bedeutung zu schaffen und zu verstehen,

was Menschen ermöglicht, zu schreiben (zu schaffen) und zu lesen (zu verstehen). In den letzten Jahrzehnten wurden auch neue Formen der Bildung identifiziert, wie visuelle und technologische Bildung. Um jedoch im Ludischen Jahrhundert wirklich gebildet zu sein, ist auch Gaming-Bildung erforderlich. Der Aufstieg von Spielen in unserer Kultur ist sowohl Ursache als auch Wirkung der Gaming-Kompetenz im Ludischen Jahrhundert.

Gaming-Kompetenz kann unsere Probleme lösen.

Die Probleme, mit denen die Welt heute konfrontiert ist, erfordern die Art des Denkens, die Gaming-Kompetenz hervorbringt. Wie wirkt sich der Benzinpreis in Kalifornien auf die Politik im

Nahen Osten aus, die wiederum das Ökosystem des Amazonas beeinflusst? Diese Probleme zwingen uns zu verstehen, wie die Teile eines Systems zusammenpassen, um ein komplexes Ganzes mit emergenten Effekten zu bilden. Sie erfordern spielerisches, innovatives, transdisziplinäres Denken, in dem Systeme analysiert, neu gestaltet und in etwas Neues verwandelt werden können.



Im Ludischen Jahrhundert wird jeder ein Spieledesigner sein.

Spiele verändern die Natur des Kulturkonsums grundlegend. Musik wird von Musikern gespielt, aber die meisten Menschen sind keine Musiker – sie hören Musik, die jemand anderes gemacht hat. Spiele hingegen erfordern aktive Teilnahme. Spieldesign umfasst Systemlogik, Sozialpsychologie und Kultur-Hacking. Ein Spiel intensiv zu spielen bedeutet, immer mehr wie ein Spieledesigner zu denken – zu tüfteln, Rückentwicklungen vorzunehmen und ein Spiel zu modifizieren, um neue Spielmöglichkeiten zu finden. Je mehr Menschen sich im Ludischen Jahrhundert intensiver mit Spielen beschäftigen, desto mehr werden die Grenzen zwischen Spielern und Spieledesignern verschwimmen.


Spiele sind schön. Sie müssen nicht gerechtfertigt werden.

Vor allem aber: Spiele sind nicht wertvoll, weil sie jemandem eine Fähigkeit beibringen oder die Welt verbessern können. Wie andere Formen des kulturellen Ausdrucks sind Spiele und das Spielen wichtig, weil sie schön sind. Die Ästhetik von Spielen zu schätzen – wie dynamische

interaktive Systeme Schönheit und Bedeutung schaffen – ist eine der reizvollen und gewaltigen Herausforderungen, denen wir uns in dieser aufbruchsreichen Zeit stellen müssen.


Ich heiße Jörg Luibl, bin freier Journalist und biete mit Spielvertiefung seit November 2021 ein unabhängiges Magazin an, in dem die Kultur und nicht der Klick relevant ist. Ich arbeite alleine und verzichte komplett auf Werbung, Kooperationen sowie über KI erstellte Inhalte. Diese Alternative zum Reichweiten-Journalismus ist nur dank der Unterstützer über Steady möglich. Vielen Dank an alle Abonnenten!

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