Rezension: Blue Prince (PC, PS5, XBS)
- Jörg Luibl
- 10. Apr.
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Mai
Bevor Tonda Ros das Independent-Studio Dogubomb gründete, war er im Filmgeschäft rund um Hollywood unterwegs. Er hat Drehbücher für Kurzfilme geschrieben, für Musikvideos Regie geführt und Aufträge von Netflix bis Magic: The Gathering angenommen. Aber irgendwann wollte er seiner Leidenschaft für Rätsel, Brettspiele und Adventures alter Schule wie Myst nachgehen. Heraus kommt nach acht Jahren an Entwicklung allerdings kein geistiger Nachfolger wie Obduction (2016) oder eine Hommage wie The Witness (2016), sondern ein ebenso elegantes wie einzigartiges Puzzle-Abenteuer. Blue Prince wirkt zunächst recht simpel, aber hat mich mit seiner Sogwirkung so richtig überrascht.
Das lebende Labyrinth
Da steht man wie ein kleiner Lord vor einem prächtigen Herrenhaus namens Mount Holly und könnte eigentlich jubeln. Denn man ist laut einem Brief der einzige Erbe eines sehr reichen Großonkels. Allerdings gibt es einen mysteriösen Haken: Denn die 45 Räume große Villa samt aller Besitztümer, Titel und Geld gehört einem erst dann, wenn man sie erkundet und in einem Durchgang bis zum Einbruch der Nacht den Raum 46 findet. Das klingt nicht nur verschroben und verrückt, sondern scheint ein Spiel mit überaus strengen Regeln zu sein.
Man darf nämlich weder im Haus übernachten noch Gegenstände mit hinein nehmen oder heraus bringen. Aber was solls? So schwer kann das doch nicht sein. Also nichts wie rein in das menschenleere Gemäuer und mal eben über die Flure geflitzt! Tja, aber dann wird es erst so richtig seltsam: Denn kaum verlässt man die Haupthalle durch eine der drei Türen nach Westen, Norden oder Osten, muss man sich für einen von drei Räumen entscheiden, der dahinter erscheinen soll. Dieses Haus baut sich tatsächlich bei jedem Betreten neu auf.
Da fühlt man sich u.a. an das Brettspiel Betrayal at House on the Hill (2004) erinnert, das mit diesem modularen Prinzip bekannt wurde. Natürlich sind Rätsel-Labyrinthe viel älter und Tonda Ros widmet sein erstes Videospiel dem Kinderbuchautor Christopher Manson, der 1985 mit seinem Buch "Maze: Solve the World's Most Challenging Puzzle" bekannt wurde - auch dort musste man einen speziellen Raum 45 erreichen. 1994 gab es sogar ein Videospiel von Interplay dazu namens Riddles of the Maze.
Britisches Flair
Aber zurück nach Mount Holly: In Blue Prince geht es nicht um Horror, Flüche und Geister, zumal die Kulisse in elegantem Cel Shading in dezenten Blautönen dargestellt wird. Schon die ersten Schritte wirken fast so entspannend andächtig wie in einem Museum. Es entsteht eine gemütlich gediegene Atmosphäre mit britischem Flair. Das kommt nicht von ungefähr, denn die fiktive Story spielt in den 80er Jahren und innerhalb der Geschichte gibt es diverse Bezüge zu England: der Großonkel war z.B. Baron und es gibt eine royalistische Partei.

Viel mehr möchte ich zu den Hintergründen nicht verraten, denn auch sie sind Teil des Mysteriums. Während man spazierend oder etwas schneller in Egosicht unterwegs ist, blickt man jedenfalls auf vielfältiges Interieur vom Gemälde und Schmuckdosen über Aquarien bis hin zu Käfigen, in denen Hamster spielen. Das wirkt manchmal grotesk, aber eher einladend als befremdend. Doch je mehr man sieht, desto mehr wundert man sich über so manche Spielkarte im Gemälde oder eine übergroße Schachfigur, die sicher nicht zufällig so platziert wurden.

Neben gewöhnlichen Abstellkammern, halb gestrichenen Räumen und Kaminzimmern gibt es prächtige Observatorien, Aquarien oder Kapellen mit Statuen und Licht durchfluteten Mosaiken. Aber spätestens wenn man durch eine Tür geht und nicht nur eine Küche oder ein Billardzimmer, sondern einen eher düsteren Überwachungsraum mit Kameras samt Videoaufzeichnung auswählen kann, wird die Stimmung ein wenig unheimlicher. Hier wird deutlich, dass es neben spielerischen Geheimnissen auch um jene der eigenen Familie geht. Wer war dieser Onkel bloß?
Erkundung bis zur Sackgasse
Schnell bemerkt man, dass man diese Rätsel nicht in einem Durchlauf lüften kann, zumal man mit jedem seiner Schritte etwas ermüdet. Und das Knifflige an den drei jeweils zufällig gezogenen Räumen ist, dass diese nicht immer mehrere Ausgänge haben. Man darf sie zunächst nicht frei drehen und so entsteht irgendwann nicht nur eine, sondern noch eine Sackgasse, bis man partout nichts mehr anlegen kann. Bald weiß man wertvolle Räume mit vielen Türen oder Belohnungen zu schätzen und grübelt, ob man sie direkt nutzen oder warten soll.
Allerdings kann man nach dem Öffnen einer Tür nicht zurücktreten und neue Räume würfeln lassen, denn man muss bei der ersten Ansicht einen davon wählen. Dabei gibt es unterschiedliche Seltenheiten und es kommt eine strategische Komponente hinzu, denn manchmal gibt es z.B. Boni ab dem zweiten Schlafzimmer oder der dritten Halle. Und wenn man schon die Autoschlüssel gefunden hat, entscheidet man sich vielleicht doch lieber sofort für die Garage, um den Kofferraum zu plündern, auch wenn sie eher ungünstig angelegt wird.

Nach drei, vier gescheiterten Durchläufen ahnt man, dass der Weg zu diesem Zimmer 46 kein leichter sein wird. Vor allem, wenn man gerade mal ein Dutzend Räume bis zur finalen Sackgasse erkundet hat. Aber dann werden es langsam mehr, man entdeckt zudem ganz neue Räume und Möglichkeiten. Also übernachtet man weiter in einem Zelt vor dem Herrenhaus, um es am nächsten Tag nochmal zu versuchen. Übrigens gibt es eine Außenanlage samt Garten und verschlossener Tore sowie Wegen bis hin zum kleinen Campingplatz, die man erkunden kann.
Alles auf Anfang
Morgens startet man dann sofort in der Haupthalle. Dann ist der Grundriss wieder komplett leer und man beginnt ohne die Gegenstände sowie das Geld, das man bis dahin auf seinem Weg gefunden hat. Mit Schlüsseln öffnet man Türen und Schatzkisten und mit Juwelen bezahlt man das Platzieren etwas besserer Räume wie z.B. einer Kreuzung mit vier Ausgängen, die sogar zwei Juwelen kostet. Es gibt auch Dietriche, Schaufeln zum Buddeln oder Keycards für Computer. Und mit dem Geld kann man z.B. Obst für weitere Schritte kaufen.
Denn für einen Durchlauf hat man ja nur 50 Schritte quasi wie Lebenspunkte zur Verfügung, die man übrigens auch über das Betreten von Schlafzimmern auffrischen kann. Alle Gegenstände sind zwar futsch, sobald man einen neuen Tag startet. Es gibt jedoch dezente permanente Verbesserungen wie in einem Roguelite: Man darf z.B. Gegenstände in der Garderobe für den nächsten Tag abgeben, bekommt bei jedem weiteren Blick durch ein Teleskop fortschreitende Boni wie zwei Kisten in der Haupthalle oder schaltet Funktionen wie die Drehung von Räumen frei.

Aber bis dahin ist es ein weiter Weg, denn Blue Prince ist kein Snack für ein paar Stunden. Je nach Spielweise und Raumglück braucht man zig Anläufe, die bis zur Sackgasse mal eine halbe oder eine ganze Stunde dauern, so dass man auf etwa zwölf bis vierzig oder weit mehr Stunden kommten kann. Und ich war sehr überrascht, wie motivierend es war, immer dieselbe Erkundung zu starten. Das liegt daran, dass Blue Prince wie eine Zweibel designt ist, so dass sich mit jedem Durchlauf weitere spielmechanische und erzählerische Schichten sowie Zusammenhänge ergeben - das kann man mit der Anziehungskraft in Animal Well vergleichen.
Strategisches Puzzleflair
Schon bei der Art sowie dem Ort der Räume entsteht kombinatorisches Puzzleflair: Es gibt sie in diversen Farben von Blau über Gelb bis Rot. Vor dem Auslegen erkennt man, ob sie eher nützlich sind und bestimmte Beute enthalten, Schritte auffüllen oder den Kauf von Gegenständen ermöglichen, ob ihr Betreten etwas kostet oder andere Nachteile wie etwa eine Verdunkelung nach sich zieht. Dann legt man den nächsten Raum quasi blind aus drei verdeckten Karten und weiß nicht, was einen erwartet. Einige Wechselwirkungen erinnern angenehm an Brettspiele.
Außerdem wirken manche Raumfunktionen erst ab einem bestimmten Rang, der wiederum von der Reihe im neun mal fünf Felder großen Grundriss abhängt. Sprich: Platziert man die Speisekammer in der zweiten Reihe hat sie den zweiten Rang. Aber erst wenn man sie in der obersten achten Reihe auslegt, spendiert sie dem Besucher ein fürstliches Essen und füllt seine Schritte auf. Hinzu kommt, dass sich die Flügel des Herrenhauses auswirken: Im Westen, also im linken Teil des Grundrisses, sind sie viel eher verschlossen. Also braucht man dort viele Schlüssel, die recht selten sind und die man manchmal kaufen kann. Aber hat man genug Gold dafür?

Im ersten und zweiten Durchlauf achtet man noch gar nicht so auf diese Zusammenhänge und stellt dann fest, dass die Reihenfolge und Position der Räume ebenso relevant für das Weiterkommen ist wie die Geheimnisse in ihnen. So manches Zimmer oder so mancher Flur dient nur der Verbindung, aber es gibt spezielle Rätselräume, die ihre Regeln bei jedem neuen Tag etwas anpassen. Wie etwa jenen mit der schwarzen, blauen und weißen Schatulle mit ihren wechselnden Aussagen, von denen jeweils eine wahr und eine gelogen ist. Aber in welcher ist der Schatz? Öffnet man die richtige Schatulle, erhält man zwei Juwelen.
Vielfältige Rätsel
Meist sind die Rätsel so logisch angelegt, dass man sie über ein Ausschlussverfahren oder das Kombinieren recht schnell lösen kann. Dabei kann es sein, dass ein Hinweis aus Raum A für ein Puzzle aus Raum B nützlich ist. Aber es gibt auch abstraktere Aufgaben an Apparaten oder Maschinen und Pumpstationen mit mehreren Rohren und Tanks, die umgehend an Myst erinnern. Da legt man Schalter um, irgendwelche Dioden wechseln die Farbe, aber nichts passiert. Was man man hier bloß machen? Immerhin kann meist weiter spazieren, wenn man scheitert und muss nicht alles sofort lösen.
Aber kaum geht man weiter, hofft man darauf, dass man hinter den nächsten Tür vielleicht den Raum mit der Stromanlage findet, damit man endlich woanders etwas aktivieren kann. Aber nein, dann findet man einen Computer, mit dem man die Sicherungsstufen für die Keycards anpassen und festlegen kann, ob bei einem Stromausfall bestimmte Türen geschlossen werden. Und danach legt man das Labor aus, in dem man Experimente à la "Wenn-du-das-zweite-Schlafzimmer-auslegst-bekommst-du-zehn-Schritte" aktivieren kann, die einem unmittelbar helfen. Sprich: Man entdeckt immer mehr Zusammenhänge und wird mit jedem Versuch etwas klüger.

Zwar gibt es nicht diese Rätseldichte wie in Loreley and the Laser Eyes, aber genau diese lockere Streuung sowie die Vielfalt und der langsam steigende Anspruch hat mir hier sehr gut gefallen. Mal muss man nur mit dem Autoschlüssel in die Garage kommen, mal an einer Dartscheibe etwas Mathematik betreiben, mal ein Passwort aufgrund von Zeichnung und Notiz entschlüsseln. Hinzu kommen die versteckten Hinweise und Symbole, von der Spielkarte im Gemälde bis zu all den Engelsfiguren mit Beruf sowie römischen Ziffern, die einen länger damit ködern, wo und wann sie überhaupt eine Rolle spielen.
So entsteht eine angenehme Art des Grübelns. Und es sind nicht immer die direkten Lösungen, sondern diese späten, aber wunderbaren Aha-Effekte, die Blue Prince auch erzählerisch auszeichnen. Da schaltet man zum ersten Mal das Licht ein und findet tolle Hinweise. Da kann man in verschiedenen Räumen das Wasser ablassen und entdeckt in einem plötzlich eine Treppe! Und während man erkundet, findet man eine Vielzahl an Texten: von Notizen an der Pinnwand über Anweisungen der Haushälterin bis hin zu Auszügen aus Briefen oder Tagebüchern von Mitgliedern der Familie. Hinzu kommen Fotos. Aber wer waren sie eigentlich? Mit wem hat der Großonkel dort gelebt? Neben subtilen oder direkten Hinweisen auf Rätsel enthalten sie Hintergründe zu Verwandten, Beziehungen und Ereignissen, die man nicht sofort einordnen kann.

All diese Fragmente der Vergangenheit erscheinen zunächst überflüssig, aber sie wecken mit Andeutungen die Neugier und sorgen für eine gewisse Stabilität. Denn sie werden nicht stets neu verteilt, sondern liegen immer an derselben Stelle in denselben Räumen, mit denen sie in einem erzählerischen Kontext stehen. Und je länger man unterwegs ist, desto mehr verdichtet sich das Bild dieser Familie und der seltsamen Abläufe im Herrenhaus. Allerdings erreichen Rätselmechanik und Erzählweise nicht diese dichte Symbiose sowie das lebendige Storytelling eines The Talos Principle 2, weil dazu einfach Charaktere und Dialoge als kommunikative Schnittstellen sowie Identifikationsfiguren fehlen. Das Spiel empfiehlt übrigens, dass man sich selbst Notizen macht, denn es gibt kein automatisch befülltes Archiv oder Tagebuch. Zwar ist das nicht zwingend notwendig, aber dieses Pen&Paper-Gefühl rundet das überaus charmante Erlebnis ab.
FAZIT
Wie kann ein Spiel so einfach gestrickt sein und gleichzeitig eine derartige Sogwirkung entfalten? Man öffnet ja nur Türen, legt einen von drei Räumen aus und geht weiter, bis man diesen verflixten Raum 46 erreicht. Aber Blue Prince ist mehr als eine Erkundung in Egosicht, mehr als eine Tour durch Rätselräume in einem dynamischen Labyrinth: Es ist eines der besten und elegantesten Puzzle-Adventure der letzten zehn Jahre, das mich so richtig überrascht hat. Denn Tonda Ros erreicht eine Harmonie und Vielfalt, die über kreative Knobelei hinaus geht und selbst nach vielen Stunden für schöne Überraschungen sorgen kann. Blue Prince gleicht gewissermaßen einer Zwiebel, deren Kern von mehreren Schichten umgeben ist: Darunter der gemütliche Rhythmus und das Erzählen über Kulisse, die gediegene Stimmung und die architektonische Ästhetik, das charmante Brettspielflair und die taktische Grübelei, fragmentiertes Storytelling und spürbarer Erkenntnisgewinn, die Wiederholung des Gleichen bei gleichzeitig erhöhter Neugier, sowohl logische als auch abstrakte Rätsel, kleine und große erzählerische Zusammenhänge. Es ist weder ein geistiger Nachfolger des Klassikers Myst noch eine direkte Hommage à la The Witness. Blue Prince reiht sich mit seinem ganz eigenen Stil zwischen großartigen Adventures wie Hotel Dusk: Room 215 (2007) oder der Zero-Escape-Reihe von Kotaro Uchikoshi ein, die 2009 mit 999: Nine Hours, Nine Persons, Nine Doors startete. Sie alle konnten die Faszination des Labyrinthischen im weitesten Sinne und auf ganz eigene Art einfangen. Zwar erreichen Rätselmechanik und Storytelling hier nicht diese lebendige und zum Nachdenken inspirierende Symbiose, die das ausgezeichnete The Talos Principle 2 bietet. Aber Gratulation an Tonda Ros für diese wirklich bemerkenswerte Premiere, die mich sehr gut unterhalten hat. (Blue Prince, PS5, eigene Aufnahmen)
PS: Damit die Diskussion an einer Stelle gebündelt wird, kann man nicht hier, sondern nur im Forum unter Kommentare zu Berichten kommentieren.
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