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Rezension: Clair Obscur: Expedition 33 (PC, PS5, XBS)

Aktualisiert: 3. Juni

In nur drei Tagen hat sich Clair Obscur: Expedition 33 über eine Million, nach zwölf Tagen sogar zwei Millionen mal verkauft. Der Soundtrack erobert Spotify, der Wertungsschnitt (vor allem jener der User) knackt die 90 auf Metacritic und die ganze Welt scheint diesem Rollenspiel zu huldigen. Ich war sehr gespannt, ob es mich ebenfalls packen kann. Aber bevor ich darauf eingehe, bitte ich um Geduld, denn ich möchte diese Rezension mit einem Blick auf den überraschenden Erfolg beginnen. Clair wird ja als französisches Final Fantasy gefeiert und konzentriert sich wie die 1987 von Square begründete Reihe auf eine emotionale Story sowie taktische Rundengefechte. Und weil das im Jahr 2025 nicht auf Anhieb spektakulär klingt, weil viele leidenschaftliche Projekte in der Tristesse der Masse sowie einer Flut an Reizen untergehen, ist die euphorische Wirkung dieses Rollenspiels umso bemerkenswerter.





Französische Kühnheit und Kreativität


Immerhin jubelt selbst Präsident Emmanuel Macron, der Videospiele noch 2023 auf Twitter für die Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen verantwortlich machte. Die einheimische Empörung ließ damals nicht lange auf sich warten, selbst aus Japan gab es einen Konter von Katsuhiro Harada, der für Namco Bandai an Tekken arbeitet: „Jemandem die Schuld zu geben, ist ein guter Weg, um der Last der Verantwortung zu entgehen.“ Man fühlte sich fast an die Gespenster der deutschen Killerspieldebatte erinnert, nur wirkten sie im Jahr 2023 auf internationaler Bühne eher lächerlich. Also ruderte Macron schnell zurück und erklärte, dass Videospiele eine Chance für die Jugend, für künftige Jobs und die Wirtschaft seien.


Allerdings kämpfen gerade viele kleine und große Studios in Frankreich um ihre Existenz, von Microids über Dontnod bis Ubisoft. Und im Februar 2025 streikten erstmals landesweit Angestellte von Paris bis Lyon angesichts der Arbeitsbedingungen sowie Massenentlassungen. Der überraschende Erfolg von Clair wirkt auch deshalb wie ein Symbol der Hoffnung. Die nahe Zukunft von Sandfall Interactive sieht gut aus, weil das Studio nicht nur einen Verkaufshit vorlegt, sondern mit der Art und Weise durchaus ein Vorbild sein kann. Denn knapp 30 Leute haben im schwierigen Bereich der Double-A-Produktionen scheinbar eine Zauberformel gefunden, die ihr Spiel ähnlich hochwertig aussehen und besser abschneiden lässt, als die viel teureren Entwicklungen großer Publisher mit zwei-, dreihundert Leuten.



Von Sony bis Microsoft treiben sie den Trend der weltweiten Preiserhöhung von Spielen auf 80 Euro voran, wobei Nintendo sogar 90 Euro für Mario Kart World auf der Switch 2 verlangt und einige Analysten mit 100 Euro plus X für GTA VI von Rockstar Games rechnen, das im Mai 2026 erscheinen soll. Gleichzeitig werden Hardware und Zubehör teurer und die Lebenshaltungskosten steigen ohnehin. Viele Spieler haben dafür kein Verständnis mehr, zumal das Erlebnis den Versprechungen zu selten gerecht wird. Dass dieses Clair jetzt für 50 Euro weltweit so gut ankommt und hinsichtlich seiner Präsentation in derselben technischen Liga spielt wie so manche Triple-A-Produktionen, kann ein weiterer Impuls innerhalb der Branche sein, der eine vernünftige Alternative zu so manch abstrusem XXL-Wachstum mit formelhafter Wiederholung des ewig Gleichen aufzeigt, das ja auch Ubisoft ins Straucheln brachte.


In der Tradition japanischer Spielkultur


Macron freut sich jedenfalls auf Instagram über "strahlende französische Kühnheit und Kreativität". Dass er die darin schlummernde japanische Spielkultur vergisst, sei einem auf der Euphoriewelle surfenden Politiker geschenkt. Neben Final Fantasy steckt in diesem Clair nämlich eine große Portion The Legend of Dragoon, das 1999 auf der PlayStation erschien - übrigens produziert von Shuhei Yoshida. Das orientierte sich an der berühmten Reihe von Square, aber zeigte in seiner Konzeption sowie den Gefechten frische Impulse. Dort gab es z.B. eine Karte sowie ähnliche Reaktionstests und Verwandlungen wie in Clair, so dass manche es schon als geistigen Nachfolger des Klassikers bezeichnen. Falls euch The Legend of Dragoon interessiert: Ihr findet es im PlayStation Store leicht modernisiert für knapp zehn Euro.


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Hinzu kommt ja die klassisch inspirierte Musik mit den Gesängen, so dass die komplette Komposition von Clair an die über Jahrzehnte etablierte Herangehensweise von Square Enix und Nobuo Uematsu erinnert. Und spätestens jetzt dürfte klar sein, dass nicht nur Mut und Kreativität, sondern auch jede Menge Erfahrung und Expertise in dieses Spiel geflossen sind. Aber so ganz Unrecht hat Macron in seinem patriotischen Eifer nicht: Denn die Entwickler aus Montpellier wollten von Anfang an in einer wagemutigen spielkulturellen Symbiose eine eigene französische Fantasywelt erschaffen. Und zwar mit klaren Bezügen zur Kulturgeschichte sowie eigenen Begriffen für Wesen und Feste in französischer Sprache, wobei schon der Titel Clair Obscur: Expedition 33 ebenso selbstbewusst wie sperrig ist. Für die Japaner, bei denen das Rollenspiel ebenfalls ein Hit ist, klingt er so fremd, dass sie das Spiel lieber Irgendwas-33 nennen.


Vom Traum zum Spiel


Auch mir, der immerhin ein paar Jahre Französisch in der Schule hatte, war nicht geläufig, dass „Clair-obscur“ eine grafische Darstellungsform mit starken Kontrasten zwischen Hell und Dunkel bezeichnet, die vor allem in den Malereien von Rembrandt und Caravaggio im 16. und 17. Jahrhundert sichtbar wurde. An deren barocken Stil orientiert sich das Artdesign von Clair nicht, aber im Laufe des Abenteuers gibt es einige Passagen in Schwarz und Weiß. Außerdem spielen Licht und Dunkel nicht nur eine Rolle innerhalb des Kampfsystems, sondern auch als die zwei Seiten einer moralischen Medaille, wenn es vor allem im Finale um Trauer und Tod sowie die Art geht, wie man damit umgehen möchte - das Süße und das Bittere liegen oft nah zusammen.


Ich hatte vorhin Ubisoft und die Erfahrung erwähnt. Creative Director Guillaume Broche hat vor der Gründung von Sandfall Interactive wie einige andere aus dem Team dort gearbeitet, war gelangweilt von den Spielen und wollte sein eigenes Traumrollenspiel machen. Das klingt fast nach einem Märchen, wenn er von der Corona-Zeit und seiner Idee spricht, von der Suche nach Mitarbeitern über Foren sowie dem überaus wichtigen technischen Zufall, dass man in den fünf Jahren vom Konzept bis zur finalen Version fast parallel mit der Veröffentlichung der Unreal Engine 5 entwickeln konnte. Und aus der kitzelt das kleine Studio dank seiner überaus begabten, mit allen Updates von Epic stets vertrauten Programmierern so viel heraus, dass das Ergebnis wirklich beeindruckt.


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So viel kann ich also schon vorwegnehmen: Clair ist weder ein Grafikblender noch reiht es sich in die tragische französische Studio-Tradition ein, mehr ästhetische Oberfläche als spielerische Substanz zu bieten. Und das ist aus vielen Gründen erstaunlich. Es ist wie gesagt das erste Spiel von Sandfall Interactive. Es wagt sich dazu in die Arena der großen Rollenspiele. Es kleidet sich selbstbewusst wie ein Triple-A-Gladiator. Und es beruht nicht auf einer existierenden Lizenz oder etablierten Welt. Zwar ist die Story rund um eine scheinbar aussichtslose Expedition entfernt vom Fantasyroman "Die Horde im Gegenwind" (Alain Damasios, 2004) inspiriert, der seit 2020 in vier Teilen als Comic bei Splitter erschienen ist. Da ähneln sich einige Motive wie jenes der verschollenen Gruppen, der selbstmörderischen Lebensaufgabe, der metaphysischen Gefahr sowie einer Terra incognita, deren Rätsel bisher niemand entschlüsseln konnte. Aber diese Welt von Lumière ist eine ganz andere. Also steig ich jetzt mal ein in den Prolog und die Analyse.


Zwischen Schönheit und Zerstörung


Hier entfaltet sich die ungewöhnliche Ausgangslage der Story sowie ihrer einzigartigen Antagonistin, einer scheinbar übermächtigen Malerin - mir sind bisher meist verrückte Könige, finstere Nekromanten, Dämonen oder Götter begegnet. Aber eine Malerin? Sie herrscht jenseits des Meeres mit ihrem Pinsel über Leben und Tod. Keiner weiß, woher sie kam, keiner weiß, warum sie das tut. Seit über 60 Jahren Jahren malt sie eine Zahl auf einen riesigen Monolithen, der in der Ferne als Statue zu erkennen ist und dessen goldene Ziffern den Tod für alle jene bedeuten, die sich in diesem Alter befinden. So sterben Eltern am Tag der so genannten Gommage vor den Augen ihrer Kinder, während es in der ganzen Stadt keine älteren Menschen gibt. Denn das tragisch Apokalyptische ist nicht nur, dass die Rente quasi todsicher ist, sondern dass die Malerin seit ihrem Erscheinen immer ein Jahr abzieht und die Toten immer jünger werden.


Zu Spielbeginn sieht man noch die goldene 34 in der Ferne. In der Rolle von Gustave, gesprochen von Charlie Cox (Daredevil), spaziert man in Schultersicht über die Dächer der Hafenstadt Lumière. Er ist 32 Jahre alt, hat also noch etwas Zeit und Großes vor. Denn er ist der leitende Ingenieur der Expedition 33, die sich bald auf den Weg zur Insel der Malerin machen will, um sie aufzuhalten. Das klingt tapfer, aber keiner weiß, wie das funktionieren soll. Und alle anderen Gruppen sind seit über 60 Jahren gescheitert, so dass es für nicht wenige nur ein nutzloses Himmelfahrtskommando ist. Wenn man die ersten Schritte mit Gustave über weißrote Blumenblüten hinweg, auf einem von Stahlbögen umrahmten Holzsteg macht, wirkt die Kulisse ebenso prächtig wie unheilvoll, vereint Schönheit und Zerstörung, Harmonie und Chaos in einer aus dem 19. Jahrhundert gerissenen Fantasy-Stadt.


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Da hängen ganze Hausfassaden samt ihrer Trümmer auf dem Kopf stehend am Himmel, riesige Felsen schweben wie Inseln zwischen den Wolken und ich musste an The Legend of Zelda: Tears of the Kingdom denken. Dort hinauf kommt man nicht, denn das Ziel ist die Inselwelt am Horizont. Und anscheinend haben sich die Leute damit arrangiert, denn da stehen Tische und Klaviere auf den Dächern, damit man in die Ferne blicken kann. Sieht man irgendwo ein leuchtendes Zeichen über einem Abgrund, kann man sich dank der pulsierenden Kraft seines Armes sofort dorthin katapultieren, so dass man sich zusammen mit dem Sprinten flott fortbewegt. Dass hier nicht nur die Schwerkraft eigenen Gesetzen folgt, sondern auch etwas substanziell schief läuft, erkennt man an der seltsam glänzenden schwarzgrünen Schlacke, die wie erstarrte Lava ebenfalls am Himmel sowie überall in der Stadt zu sehen ist. Manche Arbeiter versuchen sie abzutragen.


Fantasy trifft auf Belle Époque


Schon hier zeigt sich umgehend die technische Qualität sowie Ausdruckskraft des Artdesigns, das sich wie Dishonored am Art déco orientiert. Beim Spazieren fühlte ich mich an die fliegende Stadt Columbia aus BioShock: Infinite (2013) erinnert. Das spielte ja in einem alternativen Jahr 1912 auf ähnliche Art mit erstaunlicher bis futuristisch verzerrter Architektur und bildete damit die Spätphase der Belle Époque ab, an die auch Mode, Skulpturen und Gebäude in Clair erinnern. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spiegelte der Impressionismus in der Malerei von Renoir und Monet ein unbeschwert heiteres Lebensgefühl, in dem sich das wohlhabende Bürgertum immer mehr Freizeit und Spaß widmen konnte, während ein goßer Teil der Gesellschaft in Slums verarmte, von denen u.a. Jack London 1902 erzählte.


Dass diese Epoche trotz der gesellschaftlichen Zerrissenheit rückblickend eine schöne genannt wurde, vor allem in den eher depressiven 1930er Jahren, hat mit den Wirtschaftskrisen sowie den schockierenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zu tun. Und mit der ebenso traurigen wie düsteren Gewissheit, dass in dieser so genannten Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts weit mehr an Menschlichkeit verloren gegangen ist, als in allen bisherigen Kriegen. Um Menschlichkeit und den Sinn des Lebens geht es auch im Spiel im weitesten Sinne. Lohnt es sich für die Freiheit zu kämpfen? Würde man sein Leben für seine Familie oder eine kommende Generation opfern?


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Nur ist die Situation hier noch apokalyptischer. Denn die Zivilisation wandert jedes Jahr einen tragischen Schritt weiter an ihren Abgrund, weil ganze Jahrgänge ausgelöscht werden. Und das hat fatale Folgen, denn es zerreißt Familien und Beziehungen. Dazu gehört auch jene der 16-jährigen Maelle, gesprochen von Jennifer English (Baldur’s Gate 3), die seitdem bei ihrem Ziehbruder Gustave aufgewachsen ist. Auf sie trifft man früh im Prolog, sie will weg aus der Stadt und hat sich trotz ihres jungen Alters freiwillig der Expedition angeschlossen. Bereits in den ersten Gesprächen mit ihr zeigt sich die Qualität von Mimik und Gestik sowie der Dialoge, die ich filmreif nennen würde.


Natürliches Schauspiel


Sie sind wahlweise auf Französisch oder Englisch zu hören; die deutsche Übersetzung ist gut und man kann die Textgröße anpassen. Das Schauspiel der Figuren ist durchweg überzeugend, die Gespräche und auch die Körpersprache wirken angenehm natürlich. Es wird nicht künstlich geschwatzt, sondern wirklich interagiert, so dass auch stillere Momente etwas ausdrücken können. Und zu den großen Momenten gehören später Szenen, in denen das Schweigen schmerzhaft zelebriert wird. Allerdings vermisse ich als Rollenspieler Verzweigungen und mehr Entscheidungen, denn meist laufen die Gespräche streng linear ab, obwohl sich angesichts der Themen und Konflikte eine Wahl anbieten würde. Es gibt auch keinerlei Charaktererschaffung, rhetorische Attribute oder Fähigkeitenproben der Überzeugung. Umso überraschter war ich, als dann im zweiten Akt, etwa nach knapp 15 Stunden, tatsächlich Beziehungsstufen eingeführt werden.


Doch zurück zum Prolog: Auch wenn man mit Gustave auf dem Weg von den Dächern bis zum Hafen durchaus unbeschwerte Szenen sieht, hängt an diesem Festtag der Gommage neben Musik und Spiel auch der Tod in der Luft. Und der Konflikt in einer Gesellschaft, die sich über die selbstmörderische Expedition nicht ganz einig ist. Das trifft nicht auf die selbstbewusste Lune zu, die der Tradition ihrer Eltern folgt: Gesprochen von Kirsty Rider (Sandman) ist die immer barfüßig auftretende Asiatin die dritte Teilnehmerin der Expedition 33. Und bald trifft Gustave seine alte Liebe Sophie, kann etwas mit ihr flanieren, zwei, drei Gespräche mit anderen Bewohnern führen und auf einem Jahrmarkt etwas tauschen. Sophie versteht nicht, warum Gustave z.B. Maelle mit auf die tödliche Reise nimmt.


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Aber man merkt den beiden an, wie sehr sie sich vermissen. Je nachdem, wie man gestrickt ist, kann das vielleicht etwas zu viel Herzschmerz sein. Aber im Gegensatz zu so manchen japanischen Dramen, die mir dann doch zu schnulzig sind, wirkt diese Beziehung nicht überdreht oder künstlich. Und fast beiläufig wird klar, dass Sophie 33 Jahre alt ist und an diesem Abend sterben wird. Man steigt in der Rolle von Gustave also hinab von den Dächern zum Hafen, dem Untergang seiner Liebe und seines Lebens entgegen. Als die Sonne versinkt und die riesenhafte Malerin in der Ferne aus der 34 eine 33 pinselt, löst sich Sophie in den Armen von Gustave in Blumen auf. Ich kann Ken Levine (u.a. BioShock) nur beipflichten, der begeistert über den Prolog twitterte: "Watching the opening of Clair Obscura and feeling humbled as an artist. What a masterful and heartbreaking setup for a story."


Ernüchterung am Strand der Toten


Allerdings folgt auf diese starke Szene erstmal eine Ernüchterung, was den Beginn der Reise angeht. Denn ich hatte schon damit gerechnet, dass man die Expedition samt Schiff und Crew näher vorstellt. Dass man etwas mehr über die Ausrüstung und Route, über die Mannschaft und ihre Fähigkeiten erfährt, die ja auf Wissenschaft und Farbe beruhen, auf Armprothesen und Lichtmagie. Man hätte Gustaves Arbeit als Ingenieur z.B. vorstellen oder in einer Zusammenfassung sehen können, wie alle an Bord gehen, in See stechen und sich dann irgendwie auf die Landung vorbereiten. Stattdessen erlebt man direkt nach dem Prolog eine Art D-Day an einem Strand, bei dem fast alle der Expedition 33 sterben und aus dem Nichts ein älterer Mann auftritt, der mit einem Handstreich töten kann.


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Das wird zwar ansehnlich inszeniert, die Verzweiflung von Gustave ist spürbar, außerdem wird so neben der Malerin ein weiterer Antagonist aufgebaut, der handeln und auf die Gruppe einwirken kann. Zudem wird der erwähnte Schwarz-Weiß-Kontrast in den folgenden Szenen etabliert, in denen er in Begleitung eines anscheinend stummen Mädchens auftritt, das ihn wie eine entstellte Untote begleitet. Es ist also so, dass es noch mehr Fragen gibt, was nicht schlecht ist. Aber selbst wenn mysteriöse Figuren an einem Strand des Todes bekanntlich die Neugier wecken können, entsteht hier nicht der Sense of Wonder oder die Vorfreude auf die Zusammenhänge der Spielwelt, die ich z.B. in Hideo Kojimas apokalyptischem Amerika verspürte. Man weiß lediglich, dass die Wesen hier Nevronen heißen und findet Beute in Form von Geld, Pictos & Co, die einen stärker macht.


Zwar findet man auf dem Weg über 70 Tagebücher vergangener Expeditionen, die sogar eingesprochen sind. Aber ihnen gelingt es mit ihren Anekdoten früherer Erkunder nicht, dieser Fantasywelt etwas mehr Substanz zu verleihen oder die Lust auf die Erkundung zu steigern. Obwohl ich mich über die Karte sehr gefreut habe, auf der man aktiv die Oberwelt erkundet und ohne nervige Zufallskämpfe sichtbaren Feinden ausweichen kann, wirkten die meisten Schauplätze etwas zu früh wie Attraktionen in einem Freizeitpark. Das hat natürlich auch Vorteile, denn auf der Inselwelt der Malerin kann einem quasi alles begegnen: Von sprechenden Pinseln und riesigen Killerpuppen, die an ein märchenhaft groteskes Wunderland von Alice denken lassen, von monumentalen Schlachtfeldern mit Schwertfriedhöfen, die bis zum Bossritter in goldener Rüstung frappierend an die Zwischenlande aus Elden Ring erinnern.


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Spätestens hier verschwindet Art déco in Dark Fantasy und man hat das Gefühl, dass man da wirklich jeden Farbton und jede Beleuchtung der Unreal Engine 5 mal einsetzen wollte. Das Ergebnis kann sich samt wabernder Nebel und weiter Sicht wirklich sehen lassen. Allerdings spaziere ich schon im ersten Akt nicht mehr so langsam durch die Welt wie im Prolog, drehe die Kamera in der Landschaft nicht so wie in einem Red Dead Redemption 2, sondern cruise flott hindurch, von einem leuchtenden Punkt, der Beute verspricht, zur nächsten Höhle oder Kletterpartie. Das Leveldesign bietet einige Verschachtelungen und Abkürzungen, ist teils angenehm vertikal, und weil es für die Areale innerhalb der Inselwelt keine eigenen Karten oder gar Zielmarker gibt, kann man sich in den weitläufigeren Gebieten mit all ihren Tälern und Tunneln schonmal verlaufen. Das ist allerdings deshalb kein großes Problem, weil die Fahnen der früheren Expeditionen sowohl als Speicher- und Rastplätze als auch Schnellreisepunkte dienen.


Rundenkampf mit Reaktionstests


Außerdem zündet im ersten Akt neben der interessanten Ausgangslage sowie dem tollen Schauspiel ein weiterer, unheimlich wichtiger Joker: das auf lange Sicht angenehm vielfältige Kampfsystem. Denn das gefällt mir deutlich besser als das, was ich bisher in Final Fantasy erlebt habe. Zwar beruht es ebenfalls auf Aktionspunkten und man muss die Reihenfolge seiner bis zu drei Helden berücksichtigen. Aber es ist mit seinen Reaktionstests wesentlich dynamischer. Aufgrund dieser kleinen Prüfungen in Echtzeit entsteht eine Spannung, die Freunden des Konters überraschend viele Optionen bietet. Man wählt zunächst die offensiven Aktionen in aller Ruhe aus diversen Manövern vom normalen Angriff bis zu einer leichten, mittleren oder schweren Attacke, Stärkung oder Heilung aus. Dazu gehören übrigens auch Schüsse aus der Distanz, mit denen man auf Kosten von Aktionspunkten schon im Vorfeld Schwachstellen treffen kann, was gerade in Bosskämpfen sehr hilfreich und ein kleines Rätsel ist, denn nicht immer ist der wunde Punkt offensichtlich.


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Aber sobald die Feinde an der Reihe sind und sich bewegen, gilt es ähnlich wie in Soulslikes ihr Verhalten zu studieren, damit man rechtzeitig reagieren kann, wobei immer mehr defensive Varianten eines Reaktionstests hinzu kommen. Es gibt keinen einfachen Block, sondern als erste Option das Ausweichen nach hinten, das schon etwas Timing verlangt. Etwas kniffliger ist die Parade, die man noch besser timen muss und die erst dann automatisch zu einer mächtigen, wuchtig inszenierten Riposte wird, wenn man damit den letzten Schlag einer möglichen Serie pariert. Wenn das gelingt, ist die Freude groß und der Schaden meist ebenso. All das ist lange nicht so anspruchsvoll wie in Sekiro oder kürzlich Nine Sols, aber gerade bei einigen Bossen durchaus fordernd und wird immer vielfältiger. Hinzu kommt früh der Sprung sowie später ein magischer Konter, die beide einfacher sind als die Parade. Nur muss man ganz schön auf der Hut sein, wenn ein Boss auf alle Arten abwechselnd angreift.


Diese Reaktionstests sorgen jedenfalls dafür, dass man sehr aufmerksam ist, zumal man auch seine eigenen Angriffe oder Heilungen durch Reaktionstests verstärken kann, um sie quasi perfekt zu machen. Wem das zu viel wird, der kann diese offensiven Tests automatisieren. Ansonsten lässt sich der Schwierigkeitsgrad in drei Stufen anpassen, wobei ich wie fast immer auf Standard gespielt habe. Und selbst wenn manches feindliche Trio im ersten Gefecht zu mächtig erscheint und mit einem Hieb fast alle Lebensleisten tilgt, ist die Progression über das recht flotte Aufleveln sowie neue Waffen und Fähigkeiten so spürbar, dass man deutlich zügiger vorankommt als in einem Soulslike. Trotzdem stellt sich eine gewisse Routine ein, denn der Kampf steht im Fokus. Und alleine diese Reaktionstests hätten sie nicht durchbrechen können.


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Aber immer wenn dieses Abenteuer in seinem ewigen Kreislauf aus Arenakämpfen zu erstarren drohte, kam etwas Öl hinzu, das taktische Feuer loderte wieder auf und ich experimentierte wie in Magic: The Gathering mit immer komplexeren Kombos. Auch wenn es hier keine Karten oder Deckbau gibt, erinnert mich Clair hinsichtlich des Wechselspiels seiner Elemente und Farben an dieses zeitlos geniale Sammelkartenspiel. Wobei jeder Held aufgrund seiner speziellen Waffe etwas anders agieren, ausgerüstet und entwickelt werden muss, um sein volles Potenzial zu entfalten. Es gibt als Schadenstypen u.a. physisch, Feuer, Frost, Erde, Blitz, Licht und Dunkel, die einen, zwei oder alle Feinde treffen können, wobei natürlich ebensolche Widerstände zu berücksichtigen sind. Hinzu kommen Statuseffekte von brennend bis geschwächt, von taumelnd bis geschützt.


So weit, so bekannt, aber Clair geht noch diesen Schritt weiter, dass man zusätzlich zum Fähigkeitenbaum eines Helden bis zu drei so genannte Pictos für ihn wie Artefakte aktivieren kann. Die erhöhen z.B. die kritische Trefferchance, die Gesundheit oder eines der fünf Attribute Vitalität, Stärke, Glück, Verteidigung oder Beweglichkeit, die wiederum mit dem Schaden der Waffen skalieren. Und die auch einen speziellen Bonus zu Kampfbeginn aktivieren, wie etwa sofort mehr Aktionspunkte, eine SOS-Panzerung, Feindmarkierung bei jedem Treffer oder Feuerstapel. Und genau von diesen nützlichen Effekten kann man noch viel mehr aktivieren, falls man sie häufiger im Kampf einsetzt und danach in seiner Lumina-Spalte platziert. Es hat etwas gedauert, bis ich all die Wechselwirkungen verinnerlicht habe, aber wer gerne an seinen Charakteren bastelt und sie optimal aufstellen mag, wird hier sein Eldorado finden.



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Im ersten Akt schließt sich mit Sciel, gesprochen von Shala Nyx (The Old Guard), eine weitere, überaus mächtige Kriegerin an, die stapelbare Mond- und Lichtmagie hinzufügt, so dass man sich für drei von vier Kämpfern entscheiden muss. Und damit ist längst nicht Schluss, denn der überraschende zweite Akt setzt ab etwa 15 Stunden in jeglicher Hinsicht nochmal einen drauf, sowohl spielerisch als auch erzählerisch, so dass ich mich ab jetzt zurückhalte. Nur so viel sei gesagt: Er kompensiert nicht nur auf dramaturgischer Ebene so einiges von den erwähnten Defiziten oder der gefühlten Monotonie, die sich gegen Ende des ersten Aktes durchaus einstellen kann. Dabei hat man jedoch die Wahl, wie früh man seine weit reichenden Ereignisse auslöst.


Reise zum Mittelpunkt der Malerin


Die Reise zur Malerin kann man zwar direkt über die Hauptquests angehen, wenn man dem markierten Ort auf der Weltkarte folgt. Aber man kann sich auch treiben lassen und wandert zu all den anderen Orten, die wie Höhlen auf der Karte markiert sind und die natürlich Beute, Waffen und Level-ups bringen. Oder man will einfach wissen, was es mit dieser Kreatur oder Tür in der Höhle auf sich hat, die man nicht komplett erkunden konnte. Sehr schön ist, dass die Bewegungsoptionen hier wie in einem Metroidvania ansteigen, sobald man den Riesen-Marshmallow Esquie als Gefährten und Transportmittel dabei hat, denn er stapft durch zuvor unzugängliche Felsen, kann fliegen und schwimmen, so dass man immer weiter entfernte Orte erreicht.


Wie erwähnt kann man dabei sichtbaren Feinden ausweichen und da musste ich recht früh aufatmen. Denn selbst wenn das Kampfsystem wie erläutert eine große Stärke ist, kann es auf Dauer ermüden, denn Gefechte werden als Handlungsoption überstrapaziert: Selbst gegen Händler muss man kämpfen, wenn man besondere Angebote aufdecken will, die aber manchmal enttäuschen. Und als man endlich das erste Dorf erkundet, bekommt man tatsächlich nur Zugang zu dessen Herrscherin, wenn man in der Arena einige Feinde besiegt. Es gibt mitunter etwas Akrobatik in Hüpfpassagen, wobei man größere Abgründe angenehm temporeich mit einem magischen Sprung überwindet; geklettert wird ansonsten halb automatisch à la Uncharted. Es gibt kleinere Quests und Rätsel, aber die befinden sich meist auf dem eher bescheidenem Niveau von Holen und Bringen, dem Abschießen von drei Energiequellen in der näheren Umgebung oder der Aktivierung von Schaltern.


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Da mangelt es dann doch an Abwechslung, bis der zweite Akt wie erwähnt für einen richtig großen Tusch sorgen und die Story im Finale nochmal so richtig groß und dramatisch bis hin zu zwei möglichen Enden aufspielen kann. Das rätselhafte Highlight ist zudem schon vorher ein Herrenhaus, dessen geheime Türen man überall in der Spielwelt finden und öffnen kann, so dass man quasi aus einer Wildnis direkt in die Luxusflure wandert. Ist das eine Art Nexus? Den schweigsamen Hausherren trifft man recht früh und er begleitet einen fortan im Lager, wo er eine Höhle bewohnt, ohne dass man ihn weiter ausfragen kann. Außerdem kann man im Anwesen selbst ein paar Rätsel lösen und Geheimisse finden. Allerdings hielt sich die Freude über die Belohnung hier ebenfalls in Grenzen. Genauso ging es mir bei einigen Händlern in der Wildnis, wenn diese alternative Frisuren, Kleidung oder Musikstücke im Angebot hatten.


Apropos: Weil ich die Musik im Hintergrund irgendwann stumm stellte, hab ich dann doch mal in Alternativen reingehört. Zeit für Muße gibt es ja genug. Man kann zwar nicht innerhalb der Areale, aber überall auf der Weltkarte ein Lager aufschlagen, um dort mit immer mehr Gefährten zu sprechen, Musik abzuspielen oder Waffen und Luminapunkte aufzurüsten. Ähnlich wie in Hollow Knight wartet dort auch jemand darauf, dass man ihm verschollene Wesen bringt, von denen sich neun irgendwo verstecken sollen.


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FAZIT


Clair Obscur: Expedition 33 wird zurecht gefeiert. Auch wenn ich in meiner Einschätzung nicht ganz so euphorisch bin, bin ich ebenso erstaunt wie der Rest der Welt: Es ist das erste Spiel von Sandfall Interactive, die aus knapp 30 Leuten bestehen. Sie wagen sich selbstbewusst in die Arena des großen Final Fantasy. Und ihr Abenteuer beruht weder auf einer existierenden Lizenz noch auf einer bekannten Welt. Dennoch präsentiert sich dieses Lumière in einer visuellen, erzählerischen und spielerischen Reife, die manches Triple-A-Rollenspiel übertrifft. Die großen Stars sind neben einem dramaturgisch herausragenden Prolog samt interessanter Ausgangslage und einzigartiger Antagonistin das natürliche Schauspiel, das fantasievolle Figurendesign sowie das auf lange Sicht motivierende Kampfsystem, das über seine Reaktionstests für Spannung sorgt und ähnlich komplexe Wechselwirkungen bietet wie ein Magic: The Gathering. Zwar kann mich die Welt als Rollenspieler nicht wirklich begeistern, denn dafür sind die Quests zu eintönig, die Dialoge zu linear, die Entscheidungen zu selten. Und die Kämpfe werden als Option ebenso überstrapaziert wie manche Melodie. Hinzu kommen auf ästhetischer Ebene so viele Motive, die so unterschiedlich und plötzlich aufleuchten, dass auf dieser Expedition von der Unterwasserwelt mit Walen über tiefschwarze Höhlenareale bis zum Wolkenreich mit schiefen Kathedralen, von Art déco bis Dark Fantasy alles möglich scheint. Außerdem verpassen es die Tagebücher, erzählerisch interessante Anker in die Vergangenheit auszuwerfen: Dieses Lumière ist quasi schwereloser als die aus ihrem Mythos gewachsenenen Zwischenlande - die erwähne ich bewusst, weil auf dem Weg zur Malerin auch Elden Ring grüßen lässt. Aber dieses Abenteuer versinkt nicht etwa in kitschig bunter Beliebigkeit. Das liegt auch daran, dass es in dieser Fantasy immer einen ernsten Bezug zur Realität der handelnden Figuren gibt, sogar zur historischen Tragik, die auf die Belle Époque folgte. Denn von Schützengräben bis hin zu Leichenbergen gibt es so einige Symbole, die mitunter an die Schrecken von Verdun denken lassen. In all den Gesprächen über den Sinn und Unsinn sowie die Verzweiflung im Angesicht einer zum Tode verurteilten Generation, spiegelt sich natürlich auch die Gegenwart, so dass dieses digitale Abenteuer durchaus zum Reflektieren anregt. Und immer, wenn es in seinem ewigen Kreislauf aus Arenakämpfen zu erstarren drohte, kam etwas Öl hinzu und das taktische Feuer loderte wieder auf. Der zweite Akt sorgt schließlich für einen überraschenden Tusch, für eine dramatische Wendung, die viele Defizite kompensiert und auf ein komplett überraschendes, lange zum Nachdenken anregendes Finale hinaus läuft. Daher sage ich nach vierzig Stunden: Danke, das war sehr gute Unterhaltung!


(Bilder: Clair Obscur: Expedition 33, Sandfall Interactive, PS5, eigene Aufnahmen)


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