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AutorenbildJörg Luibl

Rezension: Colony Ship (PC)

The Age of Decadence war 2015 ein besonderes Rollenspiel. Visuell spröde, aber erzählerisch tief und angenehm frei in den Handlungen, inszenierte es machtpolitisch interessante Low-Fantasy in einer alternativen Spätantike. Es waren die offenen Situationen und glaubwürdigen Konflikte, die das Abenteuer kennzeichneten. Diese Stärken verfeinern die Iron Tower Studios acht Jahre später im Weltraum, mit einer spielbaren Hommage an einen Science-Fiction-Klassiker und einer außergewöhnlich dichten Erzählweise.




Pilgerväter auf Odyssee


In Colony Ship reist man nicht frei zwischen den Sternen, sondern befindet sich im 28. Jahrhundert auf einem riesigen Raumschiff, als einer unter vielen. Eigentlich sollte es mit 50.000 Passagieren einen Planeten namens Proxima Centauri in religiösem Auftrag besiedeln. Aber die frohe Botschaft von der Erde hat ihr Ziel bisher nicht erreicht. Und vielleicht wird sie das auch nie, zumal sich die Gesellschaft an Bord über Generationen hinweg radikal verändert hat.


Man startet mit einem vorgefertigten oder selbst erschaffenen Charakter.

Immerhin ist man schon seit 400 Jahren unterwegs, mehrere Zeitalter sind vergangen und es gab sogar einen Bürgerkrieg. Wie diese Odyssee endet, kann man als Spieler über knapp 25 Stunden entscheiden, falls man sich und seine Gefährten durch knallhart geführte Konflikte und die tödlichen Geheimnisse einer Welt führen kann, die bereits gefährlich mutierte - sowohl in den Köpfen als auch in den Körpern all der Lebewesen. Ihr Schicksal lässt sich schließlich in eine von vier Umlaufbahnen lenken.


Weltraumarche mit Tradition


Diese Ausgangslage ist inspiriert vom Science-Fiction-Klassiker Orphans of the Sky von Robert A. Heinlein (1907-1988), der sich schon 1941 mit dem Thema eines Generationenschiffes befasste. Daraus entwickelte sich ein beliebtes Motiv der Science Fiction, das auch Weltraumarche genannt wird und von Star Trek bis Wall-e immer mal wieder in Büchern, Film und Spiel auftaucht. Auch das Taktik-Rollenspiel Citizen Sleeper gehört in diese Kategorie.


Ich habe kürzlich mit dem Schriftsteller Christian Endres über die literarische Gattung der Social Science Fiction im Podcast gesprochen. Und auf Spielvertiefung gibt es eine kleine Erkundung mit der Definition von Isaac Asimov. Die beiden grundlegenden Kurzgeschichten von Orphans in the Sky wurden übrigens 1958 als Die lange Reise ins Deutsche übersetzt, aber das Taschenbuch aus den 60er oder 70er Jahren ist nur noch antiquarisch erhältlich. Ich hab es leider nicht in meiner Sammlung und bisher auch nicht gelesen.


Glaube, Tradition & Freiheit


Doch dieses Rollenspiel wird tatsächlich so gut erzählt, dass es sich fast als alternative Lektüre anbietet, zumal es ähnliche gesellschaftliche Auswirkungen der totalen Abschottung beschreibt. Denn als irgendwann kein Ende der Reise absehbar war, schwand auch der Glaube an die Verantwortlichen und das gelobte Land im Weltraum. Es gab blutige Gefechte und schließlich bildeten sich an Bord drei große Fraktionen mit eigenen Weltanschauungen: die Church, die Protector und die Brotherhood.


In einem Shop eskaliert die Situation...und man ist mittendrin im Bandenkrieg.

Die alte, aber geschwächte Autorität der Kirche schaut eher zu, wie sich die Steuer eintreibenden Protector, die sich religiös und gesetzestreu geben, und die anarchistische Brotherhood mit ihren kriminellen Strukturen bekämpfen. An der Oberfläche geht es um Sicherheit oder Anarchie, Tradition oder Freiheit, aber darunter wird knallhart um Geld und Macht, Reviere und Technologie aller Art gekämpft - von Implantaten bis hin zu Wunderwaffen.


Futuristischer Containerhafen


Als Spieler wird man direkt in dieses Pulverfass geworfen. Man startet als ein kaum bekannter Freelancer in den Slums zwischen Bars und Hehlern, verdient sich etwas Geld in der Arena und mit kleinen Aufträgen. Wenn man nach der angenehm komplexen Charaktererschaffung die Umgebung in klassischer Draufsicht à la Baldur's Gate erkundet, fühlt man sich zunächst wie in einer Cyberpunk-Variante des Hamburger Containerhafens, nur dass das Rotlicht von St. Pauli direkt integriert wurde.


Die Kulisse wird auf Grundlage der Unreal Engine inszeniert, Licht und Ambiente sind durchaus ansehnlich, mir gefällt das Artdesign und zusammen mit der Musik entsteht ein gewisses Bladerunner-Flair. Aber recht schnell wird deutlich, dass das kein Abenteuer für Freunde der malerischen Leinwand wird: Man kann die Kamera nicht drehen und lediglich zoomen, die Bewegungen wirken etwas statisch, man kann nur wenige ausgewählte Leute ansprechen und so richtig lebendig scheint es im Neonlicht dieser Gassen nicht zu werden.


Rundentaktik auf engstem Raum.

Hier entsteht lediglich in den Katakomben und gefährlichen Zonen des Raumschiffs diese visuell geleitete Erkundung wie in einem Baldur's Gate 3 oder Wasteland 3, die einen zum langsamen Spazieren animiert, wohingegen die städtischen Bereiche eher zum schnellen Abholen und Erledigen von Quests da sind. Aber man darf erstens nicht vergessen, dass hinter Colony Ship ein sehr kleines Teams aus Kanada steckt. Und zweitens spielen sie einen Joker aus, der selbst aufwändiger produzierte Rollenspiele aussticht.


Die Macht der Texte


Denn es ist erstaunlich, wie früh die erzählerische Anziehungskraft hier steigt. Mit jedem Gespräch und jeder Quest wird die Atmosphäre spürbar verdichtet und die Story interessanter. Je mehr der Beziehungen und Intrigen man wahrnimmt, desto mehr wird man Teil eines konfliktreichen Milieus. Das liegt an den sehr guten, allerdings nicht ins Deutsche übersetzten Texten. Die prägen nicht erst nach ausgiebiger Lektüre oder gar vielen Stunden, sondern von Beginn an das Spielgefühl und beleben Situationen mit ihrer Natürlichkeit sowie moralischen Graustufen.


Schon einer der ersten Aufträge gibt einen Ausblick auf die Spannung der kommenden Stunden, als sich ein selbst ernannter Sheriff mit der Brotherhood anlegt. Zwar ahnt man von den Hintergründen noch nichts, aber als die Situation in einem Shop eskaliert und man plötzlich zwischen die Fronten gerät, fühlt man sich wie in einem Western, die Hand quasi am Revolver. Und man wird positiv überrascht, wenn man auf die Nuancen achtet und statt Bullet Hell die Worte hin und her schießen. In vielen dieser Szenen zeigt sich nicht nur die Stärke der Texte, sondern auch die situative Freiheit.


Rhetorische Freiheiten


Wer einen Vorteil im Kampf haben will, kann natürlich sofort die Waffen ziehen. Doch je nachdem, wie man seinen Charakter erschaffen hat, ergeben sich tolle rhetorische Möglichkeiten von der Einschüchterung bis zur Überzeugung. Die Regie der Gespräche ist einfach klasse, denn die Wortwechsel wirken angenehm natürlich und obwohl es keinerlei Sprachausgabe gibt, kann man das Knistern im Raum fast spüren, wenn die Szene je nach Antwort auf einen Höhepunkt zuläuft.


Egal ob einsamer Kämpfer oder charismatischer Anführer: es gibt einige Spezialisierungen.

In vielen Rollenspielen wirken die Übergänge von der Kommunikation zum Kampf recht abrupt, aber hier werden quasi mehrere Stufen der Eskalation ausdiskutiert. Wie gut die rhetorischen Chancen stehen, kann man anhand einer Leiste erkennen. Ich hatte mich zum Start für einen Captain mit hohem Charisma und Intelligenz entschieden, mit vier Punkten auf Überzeugung und konnte viele heikle Momente entschärfen. Schön ist auch, dass sich die Leute später an die Art und Weise der Konfliktlösung erinnern.


Knallharte Gefechte


Natürlich gelingt das nicht immer. Und wenn es zum rundenbasierten Kampf kommt, ist Colony Ship knallhart, weshalb ich den normalen Schwierigkeitsgrad nur geduldigen Spielern empfehle, denn man stirbt recht schnell. Aber genau dieses tödliche Risiko passt zur Situation. Die Gefechte selbst sind etwas hölzern anzusehen, aber taktisch interessant, denn Trefferzonen von Kopf bis Fuß, diverse Munitionsarten, Schilde und Charakterwerte spielen eine wichtige Rolle, wenn man zu Machete, Revolver oder Lasergewehr greift.


Es erinnert fast ein wenig an die Taktik aus Jagged Alliance 3, wenn man unterschiedlich viele Aktionspunkte für die Art des Zielens ausgibt. Riskiert man Bullseye oder begnügt man sich mit zwei Streusalven? Auch hier kann eine Fehlentscheidung fatale Folgen haben. Zwar spielen das Gelände oder Höhenunterschiede keine Rolle, es geht oft in kleinen Räumen zur Sache und das Deckungssystem ist leider recht simpel. Aber es gibt Gegenreaktionen und je nach erlittenem Treffer sacken Leute zusammen, werden betäubt oder verlieren die Nerven.


Das sieht gar nicht gut aus...

Die Animationen sind höchstens solide, aber wenn einem ein mutiertes Froschmonster erst ins Bein beißt, um sich nach dem Einknicken dem Kopf zu widmen, sieht das cool aus und man fühlt den Schmerz fast mit. Weniger lustig wird es, wenn die kleinen Viecher tatsächlich gewinnen und man später auf weitaus monströsere Kreaturen oder schwer bewaffnete Gruppen trifft. Im Gegensatz zu den Kämpfen in Warhammer 40k: Rogue Trader, die mir auf Dauer etwas zu zäh und eintönig abliefen, wirken diese von Beginn an knackiger.


Vierergruppe mit Spezialisten


Und manche Gefechte kann man schon im Vorfeld über das clevere Schleichen vermeiden, das ebenfalls im Kampfraster dargestellt wird - manchmal geht es nur darum ungesehen eine Tür zu erreichen, manchmal um hinterhältige Stealth-Kills und einige Quests lassen sich so wunderbar lösen. Aber dazu benötigt man natürlich Spezialisten, die sich leise bewegen und einen Dolch präzise einsetzen können. Die Charakterentwicklung bietet dafür zahlreiche Möglichkeiten und auch die Ausrüstung wirkt sich spürbar auf die Defensive sowie Offensive aus.


Man kann alle Gefährten seiner Vierergruppe mit Helmen, Brillen, Arm-, Brust- und Beinschutz sowie diversen Implantaten, Chips und Energieschilden bestücken, muss aber auf Details achten. Denn schwere Panzerungen wirkt sich negativ auf das Waffenhandling aus, so dass man später agieren und weniger flink ausweichen kann. Überhaupt gefällt mir das Wechselspiel aus Aktionen und Erfahrung, das den Einsatz von Talenten ähnlich wie in Fallout stückweise belohnt und permanente Fähigkeiten freischaltet, die die ganze Gruppe stärken können.


Man kann diese Wachen auch schleichend umgehen.

Apropos: Man startet alleine, muss auch niemanden aufnehmen und kann als einsamer Wolf losziehen. Aber erst wenn man zu dritt oder zu viert unterwegs ist, entfaltet sich das ganze Potenzial eines klassischen Rollenspiels. Die Gruppendynamik erreicht nicht die Lebendigkeit eines Baldur's Gate 3 und es gibt auch nicht so häufig weltanschauliche Debatten wie in einem Warhammer 40k: Rogue Trader. Aber je nachdem wie man sich in Quests verhält, verstärken sich die Überzeugungen in vier Bereichen zwischen Gegensatzpaaren: Unglaube und Glaube, Tradition und Fortschritt, Freiheit und Autorität, Ängste und Beziehungen.


Kern der Faszination


Man kann übrigens jedem Mitglied eine Aktion zuweisen, so dass immer der beste Dieb, Schlossknacker, Biologe, Elektriker oder Hacker bei einer Probe aktiv wird. Dieser sinnvolle Komfort, der einiges an Management beschleunigt, zieht sich durch das ganze Abenteuer: Man kann nicht nur in die großen Gebiete wie The Pit, Camptown oder Hydroponics, sondern auch zu einzelnen Orten wie etwa einer Bar oder einem Shop schnellreisen; so lassen sich Aufträge zügig abschließen.


Zwar lohnt sich das langsame Erkunden der Gassen und Viertel meist nicht, aber in den Katakomben ist das was anderes, denn dort gibt es Fallen und Abkürzungen, Leitern hoch und runter, defekte Schalter und Terminals, blutige Spuren am Boden, die vielleicht vor der einen oder anderen Tür warnen. Hier entsteht ein ebenso ruhiges wie gefährliches Dungeonflair, ohne dass man ständig mit Gegnerwellen konfrontiert wird. Nicht falsch verstehen: Man ist hier wesentlich aktiver als in einem Sovereign Syndicate, aber der Spielrhythmus ist ein anderer als etwa in Wasteland 3, denn es entsteht mitunter die Stimmung eines Adventures mit immer mehr enträtselten Schauplätzen.


Man kann zwischen den großen Arealen schnellreisen.

Der Kern der Faszination besteht darin, dass dieses Colony Ship einerseits in seiner Geschichte und Machtpolitik immer greifbarer und vertrauter wird; es gibt sogar einen Historiker, der alte Überlieferungen sammelt. Stimmt es, dass man die Erde wegen Überbevölkerung verlassen musste? Wurde sie vielleicht zerstört? Gleichzeitig wird es auch rätselhafter an Bord: Die Menschen in den Tiefen der Maschinenräume mutierten, es gibt einige Kulte und Mysterien, Pilze von der alten Erde sollen unterirdisch wuchern und sogar von riesigen Würmern und Tentakelmonstern ist die Rede.


In diese Bereiche trauen sich natürlich nicht viele hinein. Als man dort unten eine seltsame Maschine entdeckt, rückt man immer mehr in den Fokus der Fraktionen und gewinnt ganz neue Erkenntnisse. Für welchen Kurs entscheidet man sich?


FAZIT


Ich hatte nach Baldur's Gate 3 eine Genrepause eingelegt. Aber wie das so ist, lässt der Hunger nach Rollenspielen nicht nach. Also folgten bald Warhammer 40k: Rogue Trader und Sovereign Syndicate, die mich beide gut unterhalten konnten. Colony Ship ist visuell spröder, aber erzählerisch nochmal eine Klasse besser. Es webt auf einem Generationenschiff ein ebenso dichtes wie glaubwürdiges Netz aus Konflikten und knüpft an die klassischen Tugenden guter Computer-Rollenspiele an, inklusive feiner Charakterentwicklung, taktischer Kämpfe und einer Gruppe an Gefährten. Zwar erreicht die Inszenierung der Gefechte sowie der Spielwelt nicht die Lebendigkeit eines Wasteland 3, aber wer außergewöhnlich erzählte Science-Fiction sucht, in der man glaubwürdige Konflikte über Dialoge lösen und eine Geschichte spürbar beeinflussen kann, der sollte das Ticket auf dem Colony Ship buchen. Acht Jahre nach The Age of Decadence präsentieren die Iron Tower Studios ein weiteres Rollenspiel, das ich als besonders wertvoll bezeichnen würde.


(Bilder: Colony Ship, Iron Tower Studios, PC, eigene Aufnahmen)

5 Comments


Sven
Sven
Feb 14

Japp, tolle Review zu einer augenscheinlichen SciFi cRPG Perle. Vielleicht kommt das noch irgendwann später auf Mac. Ich brauche jetzt aber weiterhin erstmal ne Pause von leseintensiven PC Spielen. Atmosphäre, Spielwelt mit Entscheidungen sowie RPG Systeme klingen alle sehr nice. Einzig das Kampfsystem sieht doch arg hölzern aus, und ich finde gute Kampfsysteme bei cRPGs wichtig, weil mir taktische Rundenkämpfe generell Spaß machen.

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Ja, die Devs haben Mac schon anvisiert, weil UE4 da recht kompatibel ist.;)

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Qugart
Qugart
Feb 14

Wieder so en Spiel, das sich richtig gut anhört. Und mit den angegebenen 25 Stunden ist das auch nicht zu lang. Da werde ich wohl schwach werden. Zumindest, wenn ich die Zeit dazu finde.

Geschichten über Generationenschiffe sind meistens gut.

Meine Lieblings-Kurzgeschichte dazu ist The Troublemakers von Poul Anderson. Die erschien im COSMOS Science Fiction and Fantasy Magazine im September 1953. Das Magazin kann man sich hier zum unglaublich günstigem Preis von 80 Dollar nachkaufen. Erschienen ist die Geschichte auch in Band zwei der Psychotechnic League Trilogy.

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Nippy
Nippy
Feb 15
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Sehe das genau so wie du, grade die Spielzeit lacht mich in dem Zusammenhang an. Leider nur für PC, daher für mich wohl nicht möglich.

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