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Rezension, Teil 3: Baldur's Gate 3 (PS5)

Herzlich willkommen zum letzten Teil der Rezension von Baldur's Gate 3. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass ich auf relevante erzählerische Zusammenhänge sowie Antagonisten eingehe. Ich empfehle daher allen, die sich noch im ersten oder zweiten Akt befinden, und die nichts über die Entwicklung der Story oder Charaktere erfahren wollen, direkt zum Fazit zu springen.




Innehalten vor den Toren


Das war eine lange Reise. Nach etwa 90 Stunden blickte ich endlich auf Baldurs Tor, sah die Türme, die Häuser und den Hafen in der Ferne. Und ich wusste, in dieser Stadt würde sich alles entscheiden. Nicht nur die Zukunft der Gefährten, die man mittlerweile so gut kannte, sondern auch jene der Vergessenen Reiche, die kurz vor der totalen Tyrannei oder Versklavung standen. Schließlich war da noch die weniger dramatische, aber spielkulturell interessante Frage, ob die Larian Studios hier tatsächlich ein Meisterwerk vom Rang eines Baldur's Gate 2 schmieden konnten.


Und zwar nicht als nostalgischen Rückgriff, sondern als moderne Wiedergeburt der Computer-Rollenspiele (CRPG). Das klingt vielleicht zu pathetisch, aber wir befinden uns seit mehr als einem Jahrzehnt im Zeitalter der Action-Rollenspiele und offenen Welten, durch die meist einsame Helden streifen. Party-Interaktion, Beziehungen sowie begrenzte Areale sind nicht gerade en vogue. Zwar wurde dieses Genre von Studios wie Obsidian, inXile, Owlcat und Larian erfolgreich reanimiert, außerdem gab es viele kleine Abenteuer, aber es blieb dennoch eine Nische für Liebhaber alter Zeiten.


Selbst die alten Zeiten kehren wortgewaltig zurück...

Das ist auch kein Wunder, denn das Spieldesign von BioWare mutete antiquiert an. Es konnte mit der Anziehungskraft weiter Landschaften und freier Erkundung nicht mithalten. Auf dem Weg nach Baldurs Tor zeigten sich auch die Defizite dieses modularen Ansatzes, in dem die Welt nicht wie aus einem Guss, sondern wie ein konstruiertes Mosaik wirken kann. Über die ersten beiden Akte hatten sich zudem dutzende Kontrapunkte angehäuft. Manche hängen systemisch mit dem Regelwerk von Dungeons & Dragons (D&D) zusammen, insbesondere was das Würfelsystem und die Trefferwirkung angeht. Andere betreffen die kaum spürbare regionale Verbindung in der Welt, den fehlenden Alltag, den manchmal fragwürdigen Humor, die steril designten Bücher, das überfüllt chaotische Inventar, die inkonsequente Steuerung oder die sporadisch stotternde Technik.


Vielen anderen Spielen wäre das in der Summe schnell zum Verhängnis für die Motivation geworden. Nach den ersten beiden Akten habe ich mich jedoch sehr gut unterhalten gefühlt, selbst wenn ich nicht von einem Meisterwerk sprach. Aber als ich das erste Mal auf Baldurs Tor blickte, war die Vorfreude auch deshalb immens, weil ich das Gefühl hatte, dass die Story ihre Potenziale erst angedeutet hatte. Zumal die tollen Situationen und positiven Eindrücke bereits vieles kompensieren konnten. So manches negativ Notierte verblasste nicht nur angesichts der Fülle und Spannung dieses Abenteuers, sowie des ständig steigenden taktischen Anspruchs in den Gefechten, sondern vor allem aufgrund der Identifikation mit markanten Charakteren. Gerade weil nicht alle dieselbe Weltanschauung teilen, gerade weil es auch Konflikte untereinander gab, die im Verlassen der Gruppe oder sogar tödlich enden konnten, entstanden glaubwürdige Beziehungen.


Schicksalsgemeinschaft


Und zwar auf eine Weise, die man sonst eher von narrativen Adventures wie Life Is Strange oder aus einigen japanischen Rollenspielen kennt, aber weder von The Witcher 3 noch The Elder Scrolls oder der Soulsreihe. Natürlich gibt es da auch Beziehungen, aber nicht im Stile einer Party-Interaktion. Zwar ist man auch in diesem Baldur's Gate 3 zu schnell der zu offensichtlich begehrte Mittelpunkt, kann letztlich recht einseitig manipulieren und mit den Beziehungen spielen, bis hin zum teilweise zu plump eröffneten Sex. Außerdem fühlen sich vier Charaktere fast wie ein künstliche Beschränkung an. Und irgendwann stört nicht nur das ewig gleiche Ein- und Ausladen in diese kleine Gruppe.


Auch das schlechte Wirtschaftssystem nervt, das einen bei fehlendem Geld zu Plünderexzessen animiert, indem man sich bei totaler Überladung einfach zu einem Händler beamt, um dort alles zu verticken. Man verbringt ohnehin zu viel Zeit mit einem unausgereiften Item- und Menü-Management. Die Alchemie mit ihren dutzenden Zutaten und Elixieren hätte man sich ebenfalls sparen können. Hier hätte ich mir mehr Mut zur Lücke, mehr Sinn für die Reduzierung auf das Stimmungsvolle und Wesentliche gewünscht. Aber das ist letztlich ein sehr kleiner Preis, den dieses monströs umfangreiche, über viele Jahre gewachsene Abenteuer an Kritik zahlen muss.


Der Nautiloide sorgte für das erste Beben, dieser Boss legt nach.

Denn das Erlebnis wird von Stärken kompensiert, die wesentlich relevanter für ein Rollenspiel sind, sowohl was das offene Questdesign, die tollen Dialoge, die fordernden Kämpfe als auch die Charaktere betrifft. Astarion, Karlach, Gale, Lae'zel, Wyll, Schattenherz und die anderen, mit denen man ja nicht nur eine Romanze eingehen, sondern einfach nur über das Leben philosophieren kann, die einen je nach Situation verlassen oder bleiben können, wachsen einem ans Herz. Und falls nicht, kann man sie ablehnen, ausstoßen oder sogar töten - das ist also kein verpflichtender Ringelpiez mit Anfassen. Man glaubt sie nach so langer Zeit wie seine Familie zu kennen, mit all ihren guten und schlechten Seiten. Und fast jede ihrer persönlichen Quests erreicht in Baldurs Tor ihren Höhepunkt, mit familiären Tragödien, charakterlichen Prüfungen und sogar Entführungen, weshalb man selbst nach so langer Spielzeit so neugierig ist.


In vielen Action-Rollenspielen verliert sich die Spannung im letzten Drittel oder wird auf das letzte Gefecht reduziert. Hier wirkt das Finale, dieser dritte Akt, wie ein explosives Fass mit mehreren Lunten. Welche kann man hinter diesen Stadtmauern anzünden, ohne dass man einen Gefährten verliert, die halbe Stadt oder die ganze Welt in die Luft fliegt? Aus einer wild zusammen gewürfelten Gruppe todgeweihter Sklaven, die zunächst ohne Gemeinsamkeiten nur verzweifelt nach Heilung suchen, ist eine Schicksalsgemeinschaft gewachsen. Aber für die interessieren sich mittlerweile die mächtigsten Gestalten und selbst die Götter. Genauso wie Sauron irgendwann wusste, wer da aus dem Auenland nach Mordor zieht, ruhen schon längst Blicke mehrerer Fraktionen auf den Gefährten.


Trio des Bösen


Die Larian Studios haben ja mehr als einen Widersacher aufgebaut. Und plötzlich schrumpft die schreckliche Larve in den Köpfen zum kleinsten Problem, wenn sich das unheilige Trio offenbart, die drei Avatare der Götter der Tyrannei, des Mordes und der Toten, die die Welt unterwerfen wollen: Lord Gortash, Orin die Rote und General Ketheric Thorm. Nach all dem, was ich am schrillen Theater sowie der fehlenden Bodenhaftung kritisiert habe, muss ich die schauspielerische Qualität dieser Antagonisten als auch ihre biografischen Hintergründe ausdrücklich loben. Vor allem jene des in seiner Trauer verrückt gewordenen und fanatisch destruktiven Ketheric, der mich in seiner vergifteten Ehre entfernt an König Theodén von Rohan erinnerte. Dass jetzt schon zweimal Bezüge zu Tolkiens Epos auftauchen, unterstreicht vielleicht auch, wie sich aus einer recht konfusen Geschichte ein episches Abenteuer herausbildet.


Hinzu kommen großartige Nebenrollen. Darunter nicht nur Begegnungen mit alten Bekannten aus Baldur's Gate 2 wie Jaheira oder Minsc, die mir sofort ein Lächeln ins Gesicht zauberten - bis ich voller Schrecken erkannte, dass auch sie sterben können. Hinzu kommen markante Charaktere wie die in ihrer Wut fast gleißende Lady Alyn, die als misshandelter Paladin der Mondgöttin eine fantastische Rolle spielt. Als diese bleiche Walküre das erste Mal in meinem Lager ansprechbar war, hatte ich eine Gänsehaut. Ich könnte noch weitere nennen, selbst weniger relevante Charaktere wie einen skrupellosen Zauberer, einen Barkeeper, einen Zombie auf der Flucht, einen U-Boot-Ingenieur oder einen Tiefling-Dieb. Zwar werden hier auch Klischees bedient, zwar wirkt einiges maßlos überzogen, aber innerhalb der Fantasy erreicht diese illustre Besetzung ein herausragendes Niveau. Und in Baldurs Tor erstaunt einen immer wieder die Erkenntnis, dass sich dieses Spiel einfach alles merkt, was man bisher getan hat - vor allem, wenn man Leute aus dem ersten oder zweiten Akt wieder trifft, die einen auf die eigenen Taten ansprechen.


Man wird zwar nicht wie ein Held empfangen, aber ist leider sehr bekannt.

Die politische Machtübernahme von Baldurs Tor durch Lord Gortash wirft zwar einige Fragen auf, die die Story nicht alle plausibel beantworten kann. Man wird ja vor die vollendeten Tatsachen seines Putsches gestellt und fragt sich, wie alle diesem offensichtlichen Tyrannen ihr Vertrauen schenken können. Als man mit der impulsiven Karlach, die einen unbeschreibichen Groll gegen ihn hegt, vor ihm steht, kostet es viel Überzeugung, dass die Situation nicht eskaliert. Auch das rechne ich den Larian Studios sehr hoch an, dass es nämlich immer wieder komplett aus dem Ruder laufen kann. Die Regie sichert sich natürlich ein wenig ab, indem sie manche Kämpfe, die man aus Wut und Trotz führen will, relativ aussichtslos gestaltet.


Man kann also nicht einfach Baldurs Tor überrennen. Aber hatte man bisher eher ein abstraktes Bild der Bedrohung, also nebulös die Illithiden, den Teufel Raphael und die vermeintliche Göttin namens Die Absolute mit ihren Kultisten vor Augen, erkennt man jetzt das ebenso konkrete wie infernalische Ausmaß, in dem sich quasi H.P. Lovecraft und John Milton gute Nacht sagen. Denn ein außerweltliches Ältestengehirn wurde von diesen drei Avataren böser Götter mit Hilfe einer unheilvollen Krone unterworfen, deren Spuren bis in das Sagen umwobene Reich von Nesseril zurückführen, das 3000 Jahre über Himmel und Erde herrschte. Man fühlt sich nach dieser Enthüllung fast an Das verlorene Paradies (1667) und die satanische Ratsversammlung erinnert, bevor man selbst mit einem dieser Avatare und einem göttlichen Koloss in den brodelnden Kessel geworfen wird.


Eine besondere Nacht


Wenn man diesen Bildschirm füllenden Bosskampf kurz vor Baldurs Tor übersteht, wirkt das schon wie ein Finale. Auch wenn er dafür rein taktisch vielleicht nicht anspruchsvoll genug ist, ist das endlich das zweite große Erdbeben, das die Regie nach dem Absturz des Nautiloiden auslöst. Und was sich zunächst nach dämonischem Chaos anfühlte, nach einer Welt voller willkürlicher Antagonisten, gewinnt spätestens jetzt eine nachvollziehbare Struktur mit drei Antagonisten, die auf den ersten Blick alle dasselbe wollen, aber doch so unterschiedliche Facetten des Bösen symbolisieren. Es gehört zu den großen Leistungen der Story, dass sie selbst nach dieser langen Zeit nicht alle Spielsteine enthüllt hat, dass es neben weißen und schwarzen noch graue Steine gibt, die man nicht eindeutig zuordnen kann.


Rätsel? Baldurs Tor bietet eine Fülle davon, von Codes für die Schatzkammer bis hin zu Zauberkombos.

Die wichtigste Frage für ein gutes Rollenspiel ist aber: Was für ein Spielstein ist man selbst? Wer sich bis zur dieser Stelle noch nicht entschieden hat, wird noch vor den Stadttoren eine besondere Nacht erleben. Diese Ruhephase der langen Rast nutzen die Larian Studios sehr geschickt für Zwischenfälle und Träume, quasi als verbindendes erzählerisches Element und gleichzeitig wie einen Joker des Storytellings, der einen mitten in der Nacht überraschen kann. So fühlt man sich selbst in diesem Lager nicht komplett sicher, manchmal traut man sich gar nicht zu rasten, weil man Böses ahnt. Außerdem kommen je nach Quest immer mehr Leute hinzu, auch abseits der wählbaren Gefährten. Und das, was der Vampir Astarion zu Beginn mit seinem Blutdurst auslöst, wird wieder aufgegriffen, als es Gerüchte um einen Gestaltwandler in den eigenen Reihen gibt, der nur darauf wartet, allen die Kehle aufzuschlitzen.


In diesen Nächten wird der Held mehrmals von einer mysteriösen Figur besucht. Sie empfiehlt ihm und den anderen, die Macht der Larve im Kopf zu nutzen, um die so genannte Absolute quasi mit ihren eigenen Waffen zu besiegen. Und genau diese Gestalt enthüllt sich tatsächlich als eine Art rebellischer Illithide, was der ganzen Story nochmal eine andere Perspektive verleiht. Sie ist je nach Sichtweise ein weiterer Antagonist oder ein Verbündeter. An dieser Stelle weiß man ja, dass die vermutete Göttin ein Ältestengehirn der Illithiden ist, das selbst von den drei Avataren des Bösen versklavt wurde. Aber man erfährt jetzt auch, wie fragil die Herrschaft dieses Trios ist, die der vermeintlich neue Verbündete beenden will, weil er auch mal ein Mensch war. Aber sagt er die Wahrheit? Und zu welchem Preis? Die ganze Gruppe und ein prominentes Opfer, das im zweiten Akt noch eine Sagengestalt war, stehen vor einer Zerreißprobe.


Nicht nur Lord Gortash weiß Bescheid, auch Orin die Rote hat Blut geleckt...

Je nachdem, wie man sich bisher zu den Potenzialen der Gedankenschinderlarve verhalten hat, dürfte man diese Nacht mit der Enthüllung der mysteriösen Gestalt anders erleben. Ich habe z.B. komplett darauf verzichtet, die telepathische Kontrolle einzusetzen oder die Larven zu verspeisen. Obwohl Letzteres ja einen eigenen Fähigkeitenbaum im Gehirn freischaltet, der viele Würfelproben und auch Kämpfe erleichtern würde. Sowohl der Traumbesucher, der sich als Gedankenschinder entpuppt, als auch die Regie haben alles darauf angesetzt, den Spieler zu verführen. Und sie machen danach weiter. Zu den köstlichen Nebenpfaden der Dialoge gehören auch jene, in denen man selbst zum Versucher seiner Gefährten werden kann, indem man nicht selbst in die Larve beißt, aber es ihnen anbietet - woraufhin manche misstrauisch reagieren, weil sie sich wie Versuchskaninchen fühlen.


Verlockungen und Verstrickungen


Es gibt nur ganz wenige Rollenspiele, die einen überhaupt in eine derartige Situation bringen, in der man derart ambivalent handeln oder etwas verweigern kann. Denn meist wird man einfach nur mächtiger, ohne moralische Graustufen, die vielleicht ein schlechtes Gewissen erzeugen. Aber die Larian Studios inszenieren keine epische Schnulze auf der Einbahnstraße des Guten. Man kann wie ein skrupelloser Eroberer oder egoistischer Opportunist agieren, man kann sich sogar zum blutrünstigen Diener des Bhaal weihen lassen. Aber selbst nach dieser dramatischen Zuspitzung gibt es weiter moralische Abzweigungen. Der Spieler wird regelrecht verlockt, hier oder da für mehr Stärke oder eigene Macht endlich abzubiegen. In der Logik von D&D gewinnt ja einfach der, der mehr Schaden verursacht und weniger Trefferpunkte verliert. Auch in diesem Spiel steigt man natürlich in Stufen auf, wird mit Rüstungen, Waffen und Zaubern immer stärker.


Um nach so langer Spielzeit überhaupt eine Motivation für noch mehr Macht anzubieten, wird das Levelsystem der Gegner natürlich rigoros eingesetzt - mit allen Widersprüchen. Sprich: Da hat man vielleicht gerade einen Halbgott besiegt, aber wird in den Gassen von Baldurs Tor von einer Bande Diebe ins Schwitzen gebracht, weil die eben ein, zwei Stufen stärker sind. Oder man wird von einem Kriegstrupp der Githyanki derart vermöbelt, dass man sich gar nicht mehr in den Keller traut. Gleichzeitig ist dieser steigende Anspruch aber auch taktisch bedingt, denn die Feinde setzen immer mehr Fähigkeiten ein, von der Unsichtbarkeit bis hin zu Bannzaubern, von Gift und Lähmungen bis hin zu Beschwörungen, kollektiven Heilungen oder dem Öffnen von Portalen für Verstärkung, auf die man flexibel reagieren muss, indem man seine Kämpfer clever bewegt und Tränke sowie Zauber in der Breite einsetzt.


Attentate auf offener Straße? Gestaltwandler? Ja.

Wie relativ das mit der Macht dieser Gefährten ist, wie zerbrechlich die teuflischsten Allianzen sind und wie wichtig sowie knifflig die Wahl der Verbündeten sein kann, zeigt sich jedenfalls in diesem hervorragenden Übergang vom zweiten zum dritten Akt, wenn man einen Vorgeschmack auf das Jenseits und das Ausmaß der Bedrohung für Baldurs Tor bekommt. Zwar kann man mit Ketheric einen der drei Avatare des Bösen besiegen, aber seine untote Armee ist immer noch auf dem Weg und in der Vorstadt gibt es erste Konflikte mit Flüchtlingen.


Außerdem gibt es ein weitaus größeres Problem: Die Bekanntheit des Helden und seiner Gefährten. Schon in der Vorstadt bekommt man eine Ahnung davon, wenn man gerade noch durch einen wunderbar skurrilen Zirkus flaniert und plötzlich von Gestaltwandlern angegriffen wird. Man kann sich nicht einfach wie Robin Hood in Stadt stehlen, zumindest ist es mir trotz mehrerer Versuche nicht gelungen. Man wird von Lord Gortash und seiner Wache aus Stahlriesen ebenso erwartet wie von der sadistischen Orin der Roten, denn der große Sieg gegen ihren Verbündeten Kethric hat sich überall herum gesprochen.


Die stampfenden Kolosse von Lord Gortash sorgen sowohl für Respekt als auch Steampunk-Flair in den belebten Gassen dieser Metropole. Und kaum will man sie überzeugen, täuschen oder belügen, wird man von ihnen durchleuchtet, entlarvt und ins Gefängnis geworfen. Auch wenn ich mir mehr Wege hinein gewünscht hätte, oder sie einfach nicht gefunden habe, wird dieser erste Kontakt mit der Metropole sehr geschickt konstruiert. Denn man bekommt hier ein Gefühl für ihre immense Größe. Schon die Vorstadt besteht aus einer Siedlung samt Händlern, lockt mit einem Brunnen in die Tiefe, macht mit einer Mordserie neugierig und bietet eine Uferzone samt tollem Ausblick auf die Stadtmauer und bösen Überraschungen, falls man Warnungen am Wegesrand ignoriert.


Auch eine blutige Mordserie will aufgeklärt werden.

Danach sitzt man erstmal im Gefängnis, aber landet irgendwann unweigerlich im Stadtpalast von Lord Gortash, der einem einen Deal anbietet: Man solle Orin die Rote besiegen und dann mit ihm zusammen über Baldurs Tor herrschen. Aber die blutrünstige Lady bietet einem ebenfalls einen Deal an: Man solle doch die Stahlkolosse deaktivieren und Gortash stürzen. Gleichzeitig macht einem der alte Teufel Raphael in einem Bordell ein Angebot, sowohl Gortash als auch Orin zu vernichten, damit er weniger tyrannisch als dieses Ältestengehirn über die Seelen der Stadt verfügen könne. Und so überschlagen sich die Optionen: Plötzlich fordert eine andere Dämonin einen mörderischen Tribut von Wyll, Astarion wird von Vampiren gejagt, Schattenherz von Kultisten verfolgt. Tja, und kaum sieht man sich nach all diesen Angeboten und Gefahren ein wenig in Baldurs Tor um, machen einem die Diebesgilde als auch die Stadtwache ein Angebot: die einen wollen einen Rivalen der Unterwelt vernichtet sehen, die anderen eine Mordserie aufklären. Aus all diesen Entscheidungen ergeben sich Feinde oder Verbündete.


Eine Stadt voller Möglichkeiten


Was ich damit sagen will: Dieses Baldurs Tor läuft über vor Möglichkeiten und Konsequenzen, so dass man sich für Stunden grübelnd damit beschäftigen kann, wie man in einem Dialog antwortet. Man ist schon im dritten Akt, aber der Tanz um die eigenen Freunde sowie die Macht scheint hier erst so richtig zu beginnen. Und auf ästhetischer Ebene zeigt die Fantasy von D&D weitere Facetten, darunter endlich mal mehr Alltag und urbanes Flair mit teils exzentrischen Nebenpfaden, liebvoll designten Schauplätzen und Überraschungen an jeder Straßenecke. Gerade das Verwinkelte und Maritime einer Hafenstadt gehen hier eine tolle atmosphärische Symbiose ein - angesichts der Höhenunterschiede in den Gassen, diesem ständigen Auf und Ab mit Blick auf das Wasser, hab ich mich sogar ein wenig an Lissabon erinnert gefühlt. Letztlich muss man technisch einige Abstriche machen, Texturen laden manchmal später, so richtig voll sind die Gassen nicht.


Aber man trifft auf Frauen und Kinder, Händler und Flüchtlinge, Marktschreier, Passanten sowie Stadtwachen, die meist zusammen mit den großen Stahlkonstrukten patrouillieren. Vieles erinnert tatsächlich an Novigrad aus The Witcher 3, vor allem das Flanieren der Bewohner in den Straßen, die laufenden Gespräche, die auch als Texte eingeblendet werden, und generell der belebte Eindruck. Dazu gehören auch die Geschäfte und Tavernen, die im Gegensatz zur Harfner-Schenke des zweiten Aktes einen stimmungsvolleren Eindruck hinterlassen, inklusive Schnapsleichen am Boden, aufspielender Barden und subversiver Hinterzimmergespräche, die bei zu viel Neugier eskalieren können. Auch wenn nicht so viel Trubel und situative Lebendigkeit zu beobachten ist wie in Kettenkratz aus Horizon Forbidden West, hat hier jede Bar ihren eigenen Charakter - und so manches Geheimnis.


Die Stahlwächter von Lord Gortash sind nicht zu unterschätzen.

Auch Rätselfreunde kommen in der Stadt auf ihre Kosten: Man untersucht eine Mordserie wie ein Detektiv, sucht in Schatzkammern nach vierstelligen Zahlencodes oder muss in einem Magierturm die richtigen Zauber kombinieren, um geheime Räume zu erreichen. Manchmal geht es auch nur darum, die Gruppe zu teilen, sich vielleicht in Gasform oder verwandelt heimlich in Areale zu schleichen, um erstmal Informationen und Schwachstellen zu finden. Es gibt in Baldurs Tor sehr viele Möglichkeiten für cleveres Spiel.


Allerdings kann man die Architektur in der Vertikalität nicht so aus einem Guss erleben wie in The Witcher 3, denn der Blick bzw. die Kamera lässt sich nicht einfach anheben, wenn man etwa vor einem hohen Turm oder einer Statue steht. An dieser Stelle wünscht man sich dann doch die visuelle Freiheit eines Assassin's Creed. Man kann übrigens nicht jeden, aber überraschend viele Bewohner ansprechen. Also auch welche, die gar nichts mit einer laufenden Quest zu tun haben, so dass ein Alltag mit kleinen Geschichten suggeriert wird. Es macht richtig Spaß, einfach durch diese Gassen zu stromern. Manchmal ergeben sich aus Dialogen nur Hintergründe aus dem Leben der Leute, manchmal auch Hinweise oder neue Aufgaben.


Manchmal lauscht man im Vorbeigehen einem Gespräch, das aus einem verlassenen Haus nach außen hallt, und will vielleicht mal nachsehen. Nur sind die Fenster zugenagelt und die Tür an der Hauptstraße ist verschlossen. Wie kommt man rein? Baldurs Tor ist als Hafenstadt so verwinkelt und verwachsen, dass es sich immer lohnt, alternative Wege zu suchen - zur Not über Hinterhöfe oder Dächer. Aber manchmal wird man gewarnt, dass man am besten wieder verschwindet. Neben diesen spontanen Situationen gibt es so einige Zwischenfälle, die nichts mit laufenden Quests zu zun haben: Jemand will Flüchtlinge aus seinem Haus werfen, ein Mädchen sucht seine Mutter, eine Prostituierte wird bedrängt, ein Mob will Volo lynchen.


Baldurs Tor ist sehr, sehr groß - das ist nur ein Teil der Oberwelt.

Allerdings merkt man der Stadt bald die modularen Bereiche sowie eine gewisse Statik an. Sprich: Es gibt klare Grenzen, für die z.B. auch Stadtwachen trotz direkter Sichtlinie blind sind, wenn man dort kämpft. Diebstahl & Co werden zwar geahndet, teilweise in zwei Stufen, so dass man nochmal die Chance hat, es sich anders zu überlegen. Aber nach Einbrüchen, Gefechten oder selbst angesichts einer Gasse voller Toter entstehen keine neuen Situationen. Selbst im eigenen Lager liegen die Leichen manchmal einfach so rum. Es wird weder etwas wieder aufgebaut, repariert oder ein Tatort bereinigt noch gibt es irgendwann Alarm oder Konsequenzen über ein Areal hinaus, so dass einige unglaubwürdige Situationen entstehen. Außerdem geht hier nicht jeder bei einem Tag- und Nachtwechsel seiner Arbeit nach und dann nach Hause.


Baldur's Tor ist also trotz seiner lebendigen Präsentation keine Stadtsimulation, sondern letztlich ein in Areale aufgeteilter Spielplatz mit Skriptsequenzen. Aber innerhalb der Fantasy ist es neben Novigrad die bisher eindrucksvollste Metropole, die man auch abseits der laufenden Quests mit ihren dramatischen Hintergründen gerne erkundet. Und es gibt ja nicht nur eine Ober- und Unterstadt, dazu mehrere Bereiche am Hafen, sondern natürlich eine Kanalisation, die wiederum verschiedene unterirdische Areale verknüpft. Diese weit verzweigte Welt unter der Stadt gehört den Dieben und Kultisten, sie knüpft an das ebenso düstere wie blutige Flair des zweiten Aktes an und birgt einige sehr böse Überraschungen.


Man wird doch nicht auch unter Wasser? Doch...


FAZIT


Baldur's Gate 3 ist ein beeindruckendes Abenteuer. Die Larian Studios haben sich der überaus schweren Aufgabe gewidmet, eines der besten Rollenspiele aller Zeiten fortzusetzen. Und das in einer Zeit, in der das Genre vor allem in seiner actionreichen Ausprägung samt offener Welt populär ist. Zwar knüpft dieser dritte Teil der Saga sowohl erzählerisch als auch hinsichtlich des modularen Spieldesigns an das an, was Bioware im Jahr 2000 hinterließ. Aber es ist mehr als ein nostalgischer Rückgriff, mehr als eine lizenzierte Hommage, sondern tatsächlich die moderne Wiedergeburt der Computer-Rollenspiele. Denn die Party-Interaktion und die Geschichte, die Charaktere und ihre Schicksale werden hier auf meisterhafte Art verwoben, man erlebt tolle Dialoge und offene Quests, fühlt sich mal an den Herrn der Ringe, mal an Dungeon-Crawler erinnert, während man mit seinen Gefährten mitfiebert und in taktisch anspruchsvollen Gefechten clever agieren muss. Ich habe über die 120 bis 150 Stunden eine Liste an etwa dreißig Kontrapunkten notiert, denn so einiges nervt, manches ist überflüssig und das überfüllte Inventar ein Graus. Mir fehlt die Reduzierung auf das Wesentliche, die Sexualisierung wirkt manchmal aufgesetzt und ich hätte mir mehr illustrative Hingabe gewünscht. Aber Baldur's Gate 3 ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass es in der Kritik nie um Perfektion gehen kann, sondern immer nur um Kompensation. Denn gerade in Rollenspielen können manchmal drei, vier spielmechanische, grafische oder regeltechnische Defizite von einer besonderen Wendung pulverisiert werden. Die Regie reißt das Ruder immer wieder so dramatisch um, dass einige Kontrapunkte quasi über Bord gehen. Man kämpft und rätselt ja nicht nur, man steigt nicht nur auf und hortet wie so oft, sondern fühlt mit, versetzt sich in sehr persönliche Situationen und philosophiert über das Menschsein. Man wird nicht nur taktisch, sondern auch geistig angeregt, wenn es um Leben und Tod, Macht und Ohnmacht geht. Ich hätte nach dem ersten Akt nicht gedacht, dass sich das Abenteuer derart steigern und im letzten Akt alle Fäden auf so herausragende, aber auch so gefährliche Art verbinden kann, dass ich mich kaum traute, einem konsequent zu folgen. Dieses Baldur's Gate 3 beginnt mit einem kleinen Erdbeben, als ein Nautiloide abstürzt und ein paar Todgeweihte ausspuckt. Danach öffnet sich ein Höllenschlund an Möglichkeiten, als hätten H.P. Lovecraft und John Milton mal so richtig Lust auf Dungeons & Dragons gehabt. Ich hab mich in diesem verfluchten Paradies für Rollenspieler jedenfalls für mehere Wochen verloren, ziehe den Hut und bedanke mich für dieses Meisterwerk.

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