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AutorenbildJörg Luibl

Computerspielforschung: Wie verhält sich das Spiel zur Moral?

Erinnert sich jemand an den Podcast mit Samuel Ulbricht? Ich sprach mit dem Philosophen der Uni Mainz im Februar 2022 über die Moral in und beim Spielen. Also auch darüber, ob man digitales Handeln anders einordnen muss als reales, inwiefern sich moralische Extremsituationen auf die Ästhetik eines Spiels auswirken. Oder wann und warum welche Spiele ein schlechtes Gewissen bzw. moralische Skrupel auslösen, obwohl sie doch fiktive Welten darstellen?


Samuel hat diese Gedanken weiter verfolgt und einen Artikel dazu veröffentlicht: Ethik in Computerspielen. Im kostenlos als PDF verfügbaren Sammelband "Computerspielforschung: Interdisziplinäre Einblicke in das digitale Spiel und seine kulturelle Bedeutung" findet ihr in ab Seite 172. Darin unterscheidet er vier Arten, in welchem Verhältnis Spiele und moralische Fragen zueinander stehen können: neutral, simulierend, propagierend sowie konfrontierend. Hier seine Definitionen:


Neutral: Spiele verhalten sich neutral zu moralischen Fragen, wenn sie auf diese nicht eingehen. Beispiele hierfür sind nicht nur jeder stringenten Narration entbehrende Spiele wie Tetris oder Mario Kart, sondern in weiten Teilen auch Spiele wie Uncharted, Counter-Strike oder Tekken, obwohl sie explizite Gewaltdarstellungen enthalten. Kurz: Moralische Fragen sind nicht Thema neutraler Spiele.


Simulierend: Spiele verhalten sich simulierend zu moralischen Fragen, wenn sie diese fiktional aushandeln. Beispiele hierfür sind Momente aus Tomb Raider oder Metal Gear Solid, in denen fiktive Taten der Spielfiguren inszenatorisch durch die Darstellung von Reue (quasi-)moralisch aufgeladen werden. Spiele wie Mass Effect oder The Walking Dead implementieren darüber hinaus (quasi-)moralische Entscheidungen als wesentliche Spielmechanik. Kurz: Simulierende Spiele verhandeln moralische Fragen innerhalb ihrer Narration bzw. Spielmechanik.


Propagierend: Spiele verhalten sich propagierend zu moralische Fragen, wenn sie diese faktual beantworten und diese Antworten den Spieler:innen nahelegen. Beispiele hierfür sind RapeLay oder KZ-Manager, die eine Haltung zu moralischen Problembereichen der Wirklichkeit vertreten und nach außen für sie werben. Kurz: Propagierende Spiele beantworten moralische Fragen (meist falsch).


Konfrontierend: Spiele verhalten sich konfrontierend zu moralischen Fragen, wenn sie diese beim Spielen unmittelbar aufwerfen. Beispiele hierfür sind Szenen ausThe Last of Us Part II oder Grand Theft Auto V, die beim Spielen eine echte moralische Reflexion konkreter Handlungsweisen einfordern. Kurz: Konfrontierende Spiele stellen moralische Fragen an Spielende.


Außerdem erläutert Samuel den Zweck des so genannten Modellspielers, der "ästhetisch angemessen" spielt, indem er den inneren Regeln des Spiels folgt. Vielleicht werde ich bald nochmal mit Samuel darüber sprechen, denn er wirft einige spannende Fragen auf. Wäre Atomic Heart nach diesen Definition z.B. ein propagierendes oder konfrontierendes Spiel?


Aber auch sonst ist dieser 409-seitige Sammelband eine kleine Fundgrube: Es lohnt sich, in den akademischen Aufsätzen zu wühlen, auch wenn vielleicht nicht alles so leicht zu lesen ist. Es geht u.a. um das Spielen vor und nach Corona, die Wirkung der Virtual Reality, Geschichte im Spiel, die Kunst des Schattens, transmediale Hintergründe, weibliche Charaktere oder Identitätsfindung von Jugendlichen.


Die gebundene Version, Computerspielforschung: Interdisziplinäre Einblicke in das digitale Spiel und seine kulturelle Bedeutung, herausgegeben von Ralf Biermann, Johannes Fromme und Florian Kiefe, gibt es für 69,90 Euro beim Verlag Barbra Budrich.


Vielleicht werde ich in Zukunft öfter einzelne Aufsätze und Autoren aus der akademischen Welt vorstellen.


Vielen Dank an alle Steady-Unterstützer, die dieses kleine Spiele-Magazin mit ihrem Abo möglich machen. Es würde mich freuen, wenn ihr auch an Bord kommt!

13 Comments


DECVRIO
DECVRIO
Apr 07, 2023

Das ist schon eimal eine sehr interessante Kategorisierung. - In Zukunft würde auch ich es begrüßen mehr von solchen Themen hier zu lesen.

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Schönes Thema.

Erwische mich selbst ja immer wieder dabei, wie ich bei gut 90% meiner Spiele-Bibliothek auf den Gedanken komme: Im Grund ist das Kernziel immer nur das Besiegen/Töten eines Kontrahenten. Und das Zuweilen auf recht brutale Art.

Man betrachte Bspw. Kirby. Niedliche kunterbunte Kinderspiele... In dem die Gegner strenggenommen aufgeschlitzt, aufgespießt, verbrannt, zerquetscht, in die Luft gesprengt und auf viele weitere, kreative Weisen ihres digitalen Lebens beraubt werden.

Ist das jetzt automatisch schlecht?

Nicht unbedingt. Dem zugrunde liegt halt irgendwo der Sportgeist. Das sich gegen einen Kontrahenten behaupten und Zufriedenheit aus dem Sieg schöpfen. Videospiele sind nur eine andere Art, uralte Bräuche auszutragen.

Dennoch mag ich die Entwicklung aktuell. The Last of Us Part II hat mir Bspw. sehr…


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Unknown member
Apr 09, 2023
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Danke für die Einladung. Das muss ich mir überlegen. Was ich bisher durchstöbert habe, ist thematisch eher uninteressant für mich. Da fehlt mir ehrlich gesagt massiv die Aktualität, weil ich eben zumeist auch aktuelle Spiele zocke.

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Kindra
Kindra
Apr 04, 2023

"Vielleicht werde ich in Zukunft öfter einzelne Aufsätze und Autoren aus der akademischen Welt vorstellen."


Das fände ich sehr gut! Die Videospielforschung nimmt so langsam richtig Fahrt auf.

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Qugart
Qugart
Apr 04, 2023

Moral in den Medien ist immer ein heißes Eisen. Wo sie auftaucht, ist sie meist nur ein weiteres Verkaufsargument. Sei es simulierend, konfrontierend oder propagierend. Inwieweit das dann den Einzelnen "berührt", liegt eigentlich am Spielenden selbst. Da spielt dann zum einen die Erziehung, aber auch das soziale Umfeld eine wichtige Rolle. Und natürlich auch die Art und Weise, wie Spielende an das Spiel herangehen. Bei manchen mag es moralische Bedenken geben, bei anderen nicht. Nicht wegen der Moral an sich, sondern einfach, weil eben objektiviert wird. Das Spiel wird als reines Spiel ohne Auswirkungen auf die Realität erkannt.


Problematisch wird die ganze Geschichte (Moral als Verkaufsargument) erst, wenn eine gewisse Zeit vergangen ist. Denn Moral ist keine unveränderliche Größe, sondern…


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Wie wahr.

Die aktuelle Entwicklung bzgl. diverser Medien sorgen bei mir derzeit auch regelmäßig für kleine Aufreger...

Nicht, weil man sich aufgrund des aktuellen Zeitgeistes damit beschäftigt, sondern vielmehr, weil dem viel zu häufig einfach das Siegel "Böse" angeheftet und der Auftrag damit als erfüllt betrachtet wird.

Statt Aufarbeitung zu betreiben, unter den Teppich kehren - immer eine gute Idee. Man könnte ja aus der Vergangenheit lernen...

Und ja, sehr zynisch und subjektiv, weil nur meine kleine Blase, in der ich einen kleinen Ausschnitt davon mitbekomme, betrachtend. Regt mich trotzdem auf. ^^"

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Unknown member
Apr 04, 2023

Hab so gut wie nie irgendwelche moralischen Bedenken oder Gedanken bei Videospielen.

Sogar bei TLOU nicht. Ich finde auch nicht, dass gerade das Spiel an meine Schmerzgrenzen geht oder in die Nähe kommt. Bin emotional vielleicht nicht ganz vorne dabei, aber bisher gab es noch kein einziges Game, dass an meiner Komfortzone gekratzt hat.

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