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Die maritime Quelle der Hitpoints

Der Urvater aller Rollenspiele feiert dieses Jahr in Baldur's Gate 3 sein Comeback: Am 31. August geht es auf PC und PS5 an die legendäre Schwertküste. Und ich bin gespannt, inwieweit die Larian Studios den Erwartungen gerecht werden können. Schließlich hat das fast 50-jährige Dungeons&Dragons nicht zuletzt durch The Stranger Things an Popularität gewonnen; auch der Kinofilm "Ehre unter Dieben" dürfte das Interesse gesteigert haben.


Auch im aktuellen D&D sind Hitpoints natürlich dabei.

Wie unglaublich schnell das Fantasy-System von Gary Gygax und Dave Arneson seit 1974 die Videospielwelt geprägt hat, zeigt sich nicht nur an den ersten prototypischen Rollenspielen wie Pedit5, Orthanc, Mines of Moria oder Oubliette, die bereits 1975 erschienen, also ein halbes Jahrzehnt bevor Wizardry und Ultima Anfang der 80er Jahre kommerzielle Erfolge feierten, sondern bis heute an selbstverständlichen Kleinigkeiten, die sich weit über das Genre hinaus etablieren konnten.


Dazu gehören auch HP und AC, Hitpoints und Armor Class, also Trefferpunkte und Rüstungsklasse. Kaum ein digitales Spiel kommt ohne Hitpoints aus, die Gygax im Dungeon Master's Guide (1979) der ersten AD&D-Edition mal so zu definieren versuchte:


"Sie spiegeln sowohl die physische Fähigkeit des Charakters wider, Schaden zu widerstehen (...) als auch eine entsprechende Steigerung in Bereichen wie Geschicklichkeit im Kampf und ähnlichen Situationen, in denen es um Leben und Tod geht, den "sechsten Sinn", der die Person vor einigen ansonsten unvorhergesehenen Ereignissen warnt, schieres Glück und die fantastischen Vorkehrungen magischer Schutzmaßnahmen und/oder göttlichen Schutzes."


Das war ganz schön viel auf einmal für eine einfache Zahl. Aber in diesem diffusen Nebel verbarg sich sehr viel Macht und auch für Computer-Rollenspieler der vielleicht wichtigste Wert, der heute meist durch einen farbigen Lebensbalken visualisiert wird - der tauchte ürigens erstmals 1984 in The Black Onyx und Dragon Buster auf. Letztlich sind diese Hitpoints eine ebenso einfache wie geniale Idee für Spiele, in denen gekämpft wird. Doch mit ihrem Segen geht auch ein gewisser Fluch einher.


Natürlich sorgen sie für spannende Situationen, vor allem wenn ein Charakter nur noch einen Lebenspunkt hat, vom Gnoll nicht getroffen wird und dann selbst den finalen Treffer würfeln kann. Außerdem zeigen sie auf einen Blick, wie unglaublich stark ein Boss ist. Doch trotz des Zufallsfaktors war der Kampf für Veteranen irgendwann zu vorhersehbar und das Levelprinzip recht durchschaubar, so dass wir in unserer Gruppe z.B. immer mehr Hausregeln für Abenteuer in den Vergessenen Reichen aufstellten.


Schließlich war es nicht nur die allgemeine Inflation von High Fantasy als Szenario, sondern auch HP, AC & Co, die unsere Rollenspielgruppe irgendwann langweilte, so dass wir in den 90ern auf andere Pen&Paper-Systeme wie Midgard (1981) oder Harnmaster (1986) umstiegen, die auch den Kampf mit Trefferzonen und authentischen Effekten spannender machten. Aber nicht nur am Tisch, auch am Bildschirm vermisste ich mehr Anspruch und Tiefe - das Prinzip von D&D nutzte sich trotz der Ergänzungen durch AD&D irgendwann ab.


Dabei ist das kulturhistorisch fast schon ein Paradox, denn schließlich beruht dieses Regelsystem ja auf den komplexen Strukturen der Kriegsspiele, in denen militärische Konflikte simuliert wurden. Die Erstausgabe von D&D wurde 1974 nicht als "Role-playing game" vermarktet, sondern als Wargame - das war auch die Zielgruppe, die z.B. den Amerikanischen Bürgerkrieg in Gettysburg von Avalon Hill spielte. Dort führte ein Treffer meist zur Vernichtung einer Einheit. Und in der ersten Variante von D&D hatten Gary Gygax und Dave Arneson genau dieses Prinzip angedacht, also gar keine Hitpoints integriert.


Natürlich stellte sich schnell heraus, dass das ein Problem war: Denn was auf einem Schlachtfeld mit Armeen nicht sofort zum Game Over führt, sondern nur zu anonymen Verlusten, würde ein Rollenspiel für den betroffenen Charakter sofort beenden - und das wäre alles andere als unterhaltsam. Im Gegensatz zu Wargames ermöglichte D&D die Identifikation mit Charakteren, die es zu entwickeln galt. Es musste also etwas her, das den Kampf (und die Fantasy-Karriere) in die Länge zieht und vorhersehbar macht.


Aber woher genau kommt die Idee der Hitpoints? Nicht aus dem Wargame Chainmail (1971) von Gygax, einem Vorläufersystem von D&D, in dem Truppen in mittelalterlichen Szenarien geführt wurden. Auch nicht aus der daraus entwickelten Blackmoor-Kampagne von Arneson, in der es allerdings schon Trefferzonen, Rüstungsklassen und 2W6-Trefferwürfe in besonderen Situationen gab, die gefährliche Duelle ermöglichten. Und je erfahrener ein Charakter dort war, desto schwerer war er zu treffen - aber seine Lebenspunkte stiegen nie. Vermutlich hätte ich Blackmoor sofort gemocht, denn es nahm einiges von Harnmaster vorweg.


Das Prinzip gefiel auch Gyggax. Aber er vereinfachte und veränderte es u.a. mit Hitpoints, die mit dem Levelaufstieg stets anstiegen. Außerdem führte er den W20 als Trefferwürfel ein und verknüpfte die (auf den ersten Blick verwirrende) negative Rüstungsklasse damit, die also besser war, wenn sie niedriger ausfiel. Doch die Wurzeln der Hitpoints und Rüstungsklassen in Spielen reichen viel weiter zurück: Das früheste bisher recherchierte Lebenszeichen stammt aus dem Jahr 1929, und zwar aus Fletcher Pratt's Naval War Game, in dem der Kampf zwischen Schiffen samt ihrer Modelle simuliert wurde; es gibt sogar einen Eintrag bei Boardgamegeek.


Das Spiel des amerikanischen Historikers und Schriftstellers Fletcher Pratt (1897 - 1956) entwickelte sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zum beliebtesten Wargame in den USA und Großbritannien - hier mal ein toller Artikel dazu von 1963 aus der Sports Illustrated.


Es war mit seinen mathematischen Berechnungen für Treffer hochkomplex und so authentisch, dass es tatsächlichen Abläufen von Gefechten auf hoher See sehr nahe kam. Die Kampfkraft wurde so ermittelt:



(Gc[2] X GN + Gc'[2] X Gn' + 10TT + 10A[2] + 10 A'[2] + 10A" + 25 Ap + M) Sf; + T


Die Schiffe hatten "hull points" je nach Dicke des Stahls und Treffer sorgten nicht nur für ihre Reduzierung, sondern für Fehlfunktionen oder weniger Tempo, denn es gab besonders verwundbare Zonen. Man brauchte so viel Platz für das Spiel, dass man es mitsamt der Schiffsmodelle auf dem Boden in großen Räumen aufbaute.


Diesen Klassiker kannten Gygax und Arneson natürlich sehr gut. Er diente als Vorlage für ihr eigenes maritimes Wargame namens Don't Give Up The Ship! von 1972, das zur Zeit Napoleons spielte - eine Sitzung für drei bis 18 (!) Spieler dauerte übrigens sechs Stunden. Und in dieser Zeit konnten die Dreimaster auch mehrere Kanonenkugeln schlucken, bevor sie schließlich sanken. Aber die Trefferzonen von Fletcher Pratt (und später Arnesons Blackmoor-Kampagne) hat Gary Gygax letztlich nicht für D&D übernommen, sondern lediglich das stark vereinfachte Prinzip der Hitpoints.


Fletcher Pratt, Portrait in Science Wonder Stories, Juli 1929.

Zwei Dinge sind an dieser Geschichte noch interessant: Erstens war Pratt vielleicht nicht nur der Erfinder der Hitpoints und Armor Class, sondern auch ein begabter Erzähler, der für Pulp-Magazine schrieb und einige interessante Science-Fiction- und Fantasy-Geschichten wie Harold Shea hinterlassen hat, die er zusammen mit einem alten Meister des Genres, Lyon Sprague de Camp (1907 - 2000), erdacht hat. Er stand der Fantasy also recht nah. Hier schließt sich auch ein Kreis zu Conan, denn er kannte Robert E. Howard (1906 -1936) sehr gut, hat eine Biografie über ihn geschrieben und die Geschichten des Cimmeriers nach dessen Tod fortgesetzt.


Zweitens sorgte die extreme Nutzung der Hitpoints in so manchen Spielen ja dafür, dass Bosse in Computer-Rollenspielen tatsächlich wie schwer zu versenkende Schlachtschiffe anmuteten, die man zig mal treffen musste. Lord British war in Ultima III (1983) sogar unverwundbar durch normale Waffen. Aber es gibt diese Anekdote, dass man ihn an die Küste locken und mit Schiffskanonen tatsächlich besiegen konnte. Ob das nur ein Bug oder vielleicht doch eine späte Hommage an Fletcher Pratt's Naval War Game war? Auf jeden Fall ist das eine schöne spielhistorische Verbindung.


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7 Comments


Labrador Nelson
Labrador Nelson
Apr 23, 2023

Man lernt ja nie aus. War mal wieder sehr aufschlussreich. thx! :)

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DECVRIO
DECVRIO
Apr 21, 2023

"(Gc[2] X GN + Gc'[2] X Gn' + 10TT + 10A[2] + 10 A'[2] + 10A" + 25 Ap + M) Sf; + T" - Da lernt man die automatisch abnehmenden Gegnerlebensleisten auf dem Bildschirm doch gleich mehr zu schätzen. - Sehr interessanter Bericht. Wieder etwas gelernt über den liebsten Zeitvertreib. 🤓

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Olaf
Olaf
Apr 21, 2023
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Jemand sollte die Formel genauer erläutern 🤔🧐

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alex.strellen
Apr 20, 2023

Hab mir noch nie Gedanken über die Herkunft von Hitpoints gemacht. Sehr interessant!

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Olaf
Olaf
Apr 20, 2023

World of Warships in der Stube :)

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Qugart
Qugart
Apr 19, 2023

Ich finde ja Pratts Ansatz schon genial. Allein das Spielen war ziemlich aufwendig.

John Curry erklärt hier nochmal genauer, wie das Spiel ablief und welche Auswirkungen Treffer auf die Schiffe hatten. Im Endeffekt lief es genauso ab, wie man damals in echten Seeschlachten kämpfte: es wurde geschätzt.

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Jörg Luibl
Jörg Luibl
Apr 19, 2023
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Ja, da entstand damals im Raum New York wohl ein kleiner Hype um dieses Spiel; es gibt auch einige Fotos dazu, wie alle in einem Salon auf dem Boden liegen - auch die Ehefrauen spielten übrigens mit. Es war wohl auch eine Art Premiere für das, was wir heute Community-Bildung nennen. In Zeitungen suchte man Mitspieler etc.

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