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Game Studies: Ein Spieler wählt, ein Gamer gehorcht... (Dominic Brakelmann)

Was denken Soziologen, Philosophen und Kulturwissenschaftler über Spiele? Über was wird in den Game Studies diskutiert? Ich habe diese Reihe mit Auf Abwegen - Folk horror, Videospiel und das Problem der Natur von Daniel Illger begonnen. Es gibt dazu unter Berichte eine eigene Kategorie, in der ihr alle bisherigen Beiträge über Game Studies findet.


Prey befindet sich als eines der besten Spiele der letzten zehn Jahre und Beispiel einer modernen Immersive Sim in meiner Schatzkiste. Ich habe ja kürzlich mit Benjamin Schmädig über die Geschichte dieses faszinierenden Genres im Podcast gesprochen:


Und ich habe mich in der Rezension zu The Outer Worlds 2 sehr darüber gefreut, dass es dort endlich mal wieder zu einer Symbiose aus Rollenspiel und Immersive Sim kommt. Ähnlich wie in Deus Ex bieten mir dort sowohl Räume als auch Interaktionen und Handlungen viele Freiheiten samt spürbarer Konsequenzen, so dass man als Spieler meist die angenehme Qual der Wahl hat, wie man vorgehen möchte - und genau das kann man wunderbar mit den Fertigkeiten verweben.


Um dieses Gefühl der Freiheit innerhalb der Immersive Sims sowie ihrer Geschichte geht es auch im Aufsatz "A player chooses, a gamer obeys…" von Dominic Brakelmann, der 2023 in einer Sonderausgabe bei Paidia auch auf Deutsch erschienen ist. Hier die Inhaltsangabe: "Dieser Artikel widmet sich poetologischen Mechanismen unterschiedlicher Immersive Sims, die der Reflexion von spielerischer Freiheit im Medium Videospiel dienen. Ausgehend von einer detaillierten Betrachtung der namensgebenden Designphilosophie und deren konkreter Umsetzung in DEUS EX soll die Grundlage dafür geschaffen werden, diesem Referenzwerk weitere Titel gegenüberzustellen, um die konkreten Realisationen von Wahlfreiheit und Responsivitätssystemen in Immersive Sims zu vergleichen. Auf Basis dieser Gegenüberstellungen sollen schließlich Rückschlüsse auf die Art der Videospiele, die unter diesem heterogenen Feld subsumiert sind, gewonnen werden."


Der Aufsatz beginnt mit einer ausführlichen Betrachtung von Deus Ex aus dem Jahr 2000 als "Referenzwerk im Pseudogenre der Immersive Sims". Dazu erscheint am 25. Februar 2026 eine Neuauflage von Aspyr Media namens Deus Ex Remastered. Hier ein Auszug aus dem Artikel, der auf die Besonderheit des Feedbacksystems von Deus Ex eingeht, das es auch in The Outer Worlds 2 auf mehreren Ebenen, sogar bis hin zum Hauptmenü gibt, wo es quasi die Wand zum Spieler durchbricht: "Das ,immersive Simulieren‘ der Spielwelten in dieser Art von Spiel liegt in hohem Maße in den Reaktionen der Spielwelt, der NPCs und des Spielsystems auf die von den Spielenden getroffenen Entscheidungen und Vorgehensweisen begründet. Es bleibt allerdings nicht bei Appellen zur ethischen Reflexion der intendierten Vorgehensweise vonseiten der NPCs im Moment der Auswahl zur Verfügung gestellter Kampfmittel. Damit die getroffenen Entscheidungen und die dominante Spieltechnik eine zeitliche Tiefendimension erhalten, verfügt Deus Ex über ein Feedbacksystem, das in Form eines rückblickenden Antwortverhaltens funktioniert. So findet im Hauptquartier der bereits erwähnten Anti-Terror-Organisation nach Sondierung der beschädigten Freiheitsstatue eine Abschlussbesprechung statt, die auf das Vorgehen der Spielenden Bezug nimmt."

Sowohl im Raum selbst als auch in der Welt und Story öffnen sich immer wieder neue Routen:

"Eine Triade aus spielmechanischer Wahlfreiheit, wegbezogener Multilinearität und Potenzialsequenzen bildet also im Kern die Struktur dieser ersten Immersive Sim."

Man sieht die Folgen seiner Handlungen nicht nur, sondern spürt sie auch erzählerisch, was natürlich zum Nachdenken anregt, bevor man handelt. Durch diese Verantwortung über einzelne Situationen und das Schicksal der Welt wird das Reflektieren über das eigene Handeln viel stärker angeregt als in einem gewöhnlichen Shooter - das prägt ebenfalls The Outer Worlds 2. Sehr schön ist, dass Brakelmann an dieser Stelle die Studie "The ethics of computer games" von Miguel Sicarts aus dem Jahr 2011 zitiert, der darin sehr anschaulich auf sein Spielerlebnis mit Deus Ex einging: "I am not quite sure how it happened, but I felt guilty. No, no, I was guilty. It started like so many other times: my weapons of choice, banal words, and action—good action. I was formidable, unstoppable, the master of my surroundings, a lethal instrument with one goal, vaguely heard while I was enjoying my newly acquired arsenal. And then it all stopped. That character, cannon fodder if only I had any bullets left, changed the meaning of my actions. What if I am wrong? What if they lied to me? What if the goal is a lie? […] In many combat-based games, following the orders given to players means “doing the right thing.” Deus Ex breaks that expectation, and forces players to reflect on the meaning of their actions. In Deus Ex, ethical thinking is as powerful a weapon as a handgun, and ethical responsibility the most adequate gameplay strategy. […] The ideas behind this book arose while I was playing Deus Ex. I started thinking about this topic because, for the first time, a game made me consider the nature of my actions by means of game mechanics and game world design"

Außerdem hat man die Möglichkeit, das Ende der Geschichte zu beeinflussen, selbst wenn Deus Ex hier noch recht statisch und letztlich inkonsequent war: "Bemerkenswerterweise haben in diesem Fall jedoch keine im Spielverlauf getroffenen Entscheidungen eine Auswirkung auf die zur Wahl stehenden drei Optionen, wenngleich diese als Archetyp hypertextueller Potenzialsequenzen gelten können. Konkret eröffnet das Spiel zum Ende des letzten Levels, das für ein Verschwörungsnarrativ passend in der von Mythen umwobenen militärischen Forschungseinrichtung Area 51 angesiedelt ist, die Wahl, sich den Illuminaten oder einer Künstlichen Intelligenz anzuschließen, um die Welt zu beherrschen, oder die globale Kommunikationsinfrastruktur zu zerstören und die Menschheit sich selbst zu überlassen. Diese letzte Auswahl stellt somit eine Geste der ubiquitären Ermächtigung der Spielenden dar, wenn diese über das Schicksal und die Zukunft der diegetischen Spielwelt entscheiden. Ironischerweise wird diese folgenschwere Wahl spätestens im Nachfolger nivelliert, um die Basis für das serielle Weitererzählen der Handlung von Deus Ex zu ermöglichen." Brakelmann geht danach auf Deus Ex: Human Revolution von 2011 ein, das ja die Vorgeschichte zu Deus Ex erzählt und hinsichtlich des Finales komplexer ist: "Trotz der wenig subtilen Natur der dieser Entscheidung zugrundeliegenden Potenzialsequenz gestaltet sich die Zusammensetzung der möglichen Endsequenzen in Deus Ex: Human Revolution komplexer als noch im ersten Spiel. (...) Zum anderen hat die Wahl des Spielstils ebenfalls eine Auswirkung auf das Ende von Deus Ex: Human Revolution. 


Brakelmann analysiert dann sehr genau die finale Szene des Spiels: "Unabhängig von der getroffenen finalen Entscheidung folgt eine Filmsequenz, die aus einer suggestiven Montage besteht und nicht linear an die bisherige Spielhandlung anknüpft. Diese Montage wird von einem Monolog des Protagonisten Adam Jensen begleitet. Je nachdem, ob die Spielenden im Spielverlauf einen pazifistischen, tödlichen oder hybriden Ansatz gewählt haben, variiert dieser Monolog. Bemerkenswert an diesem Element der Endsequenz ist ihre semantische Dimension. So hat der Spielstil keinen direkten Einfluss auf die diegetisch kommunizierte Spielwelt oder ihre Zukunft, sondern kulminiert in einer anthropologischen Introspektion und Reflexion des Protagonisten, der in Abhängigkeit des Vorgehens der Spielenden seine eigenen Handlungen reflektiert und auf das Gros der Menschheit projiziert. Diese Rückkopplung zwischen Identität des Protagonisten und spielerischer Wegweisung kann als humanistische Diskursivierung der vorangegangenen Handlungen der Spielenden gelesen werden, gerade weil diese - anders als in Deus Ex - nicht von Feedback in Form von Kommentaren der NPCs oder durch Auswirkungen auf die diegetische Welt begleitet werden."


Im weiteren Verlauf geht es im Aufsatz um Systems Shock 2 von 1999 sowie dem davon inspirierten BioShock von 2007, die zwar oftmals mit Deus Ex oder Immserive Sims in Verbindung gebracht werden, aber laut Brakelmann diesem Ansatz in "radikaler" Weise widersprechen, so dass er sogar von "Anti-Immersiv Sim" sprechen würde: "System Shock 2 bietet weder multilineare Potenzial-, noch unterschiedliche Endsequenzen. Zwar ist die Entwicklung des Avatars durch ein Punktesystem auch hier bereits gegeben, was das Spiel als Shooter-Rollenspiel-Hybriden klassifiziert, die Komplexität der unterschiedlichen Spielmechaniken dient aber zu keiner Zeit der Inszenierung spielerischer Wahlfreiheit, sondern resultiert eher in einer Überdeterminiertheit des anzuwendenden Spielstils, was sich eindrücklich an den unterschiedlichen Munitionstypen im Spiel zeigt, die für jeweils unterschiedliche Gegnerklassen anzuwenden sind. (...) Bioshock entwickelt diese technikdeterministische Auffassung von Spielhandlungen in einer Art von Anti-Immersive Sim weiter." Sehr interessant sind die Unterschiede zwischen System Shock 2 und BioShock, die ja beide federführend von Ken Levine entwickelt wurden, hinsichtlich der Konzeption einer vorher bestimmten Story sowie Regie. Denn sie zeigen schließlich auch, dass er im Gegensatz zu der von Warren Spector angestrebten (wenn auch teils imaginären) Freiheit des Storytelling durch den Spieler eher seine eigene Geschichte erzählen wollte:


"Alle Spielhandlungen werden innerhalb der Diegese von Bioshock immer schon in dieser Form zum Zeitpunkt der Offenlegung ihrer Bedingungen stattgefunden haben. Das Spiel führt folglich eine Art Futur II der Spielentscheidungen seiner ludischen Sequenzen ein. Es darf die Frage gestellt werden, inwiefern jedes erzählende Videospiel, das den Spielenden eine gewisse Wahlfreiheit einräumt, dies tut. Bioshock macht diese zwangsläufige Antizipation jedoch durch die außerordentliche Natur seines vorprogrammierten Protagonisten sichtbar.  In der Reflexion über die Irrelevanz von durch die Spielenden getroffene Entscheidungen in Bioshock offenbart sich Projektleiter Ken Levine als Antipode Spectors." Und sowohl in System Shock 2 als auch BioShock kann der Spieler nicht frei entscheiden, ob er ohne tödliche Gewalt vorgeht - diese Handlungen werden zudem nicht von anderen Charakteren kommentiert oder dementsprechend vom Spieler reflektiert. Selbst der Einfluss auf das Ende von BioShock über den Umgang mit den Little Sisters gehörte letztlich nicht zum ursprünglichen Konzept von Ken Levine, sondern musste später integriert werden, weil der Publisher 2K Games das wollte: "Retten die Spielenden die Little Sisters, gelingt diesen und dem Avatar zum Spielende die Flucht aus der Unterwasserstadt. Entscheiden sich die Spielenden jedoch dazu, die Little Sisters zu opfern, um ein Maximum an Adam zu erhalten, endet die Handlung mit einer Invasion der Oberfläche durch die Bewohner Raptures. Verhält sich der Spieler ambivalent, folgt eine modifizierte Variante des zweiten Endes mit verändertem Monolog, der ähnlich wie in Deus Ex: Human Revolution die im Spielverlauf getroffene Vorgehensweise kommentiert. Dieses Element widerspricht den zuvor genannten Worten Levines und der Designphilosophie des Spiels und wurde erst spät im Entwicklungsprozess auf Druck des Publishers integriert, um den Spielenden ein Gefühl von Konsequenzen ihrer Handlungen zu vermitteln."


Brakelmann schließt damit, dass manche Spiele trotz offensichtlich widersprüchlichem Design oft in der Schublade der Immersive Sims landen können, obwohl er sie eher Anti-Immersive Sim nennen würde. In seinem Ausblick geht er noch kurz auf andere Spiele ein:

"So weisen die Spiele der Dishonored-Reihe den wohl bisher größten Anteil von spielintrinsischer Responsivität auf, wohingegen das 2017 erschienen Prey die Frage nach der Relevanz von ethisch diskursivierbaren Entscheidungen innerhalb von Simulationen auf Erzählebene behandelt. Spiele wie das jüngst erschienene Deathloop reflektieren die Schleifenstruktur von Computerspielen und wurden bereits als meta Immersive Sim kategorisiert. Gleichzeitig erscheinen inzwischen auch von großen Publishern unabhängige Videospielprojekte, die als Immersive Sims verstanden werden wollen. Nicht zuletzt gibt es Titel, wie die Spiele der Pathologic-Reihe, die Entscheidungen unter dem Vorzeichen eines ludischen Defätismus umkehren und eine eigenständige Erforschung rechtfertigen."


Weitere Artikel der Rubrik Game Studies findet ihr hier auf Spielvertiefung unter Berichte - dort könnt ihr danach filtern.


Ich heiße Jörg Luibl, bin freier Journalist und biete mit Spielvertiefung seit November 2021 ein unabhängiges Magazin an, in dem die Kultur und nicht der Klick relevant ist. Ich arbeite alleine und verzichte komplett auf Werbung, Kooperationen sowie über KI erstellte Inhalte. Diese Alternative zum Reichweiten-Journalismus ist nur dank der Unterstützer über Steady möglich. Vielen Dank an alle Abonnenten!

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