Rezension: Die Horde im Gegenwind (Roman)
- Jörg Luibl

- 8. Okt.
- 12 Min. Lesezeit
Ich hatte kürzlich Das Geheimnis der See von Bram Stoker und Moby-Dick von Herman Melville in der Schatzkiste besprochen. Obwohl es sich um Klassiker vergangener Jahrhunderte handelt, ist die Anziehungskraft des Rätselhaften und Abenteuerlichen vor der Kulisse urgewaltiger Natur zeitlos. Manchmal wirkt sie durch Bücher weiter auf moderne Videospiele, so wie kürzlich in Clair Obscur: Expedition 33. Die Story des weltweit gefeierten Action-Rollenspiels wurde von Die Horde im Gegenwind inspiriert. Und dieser epische Roman von Alain Damasio hat mich über viele Wochen gefesselt. Denn er ragt innerhalb der gegenwärtigen Phantastik so heraus wie Frank Herberts Dune in den 60er Jahren.
Inspiration für Clair Obscur: Expedition 33
Aber um das nochmal zu betonen: Das 2004 veröffentlichte Buch war keine direkte Vorlage für das Spiel, so wie etwa Andrzej Sapkowskis Geralt-Geschichten für The Witcher. Und obwohl es in den folgenden Jahren renommierte Preise gewann, ging es leider komplett an mir vorbei. Mein Französisch aus der Schulzeit ist ohnehin viel zu schlecht als dass ich das Original namens La Horde du Contrevent hätte lesen können.
Recht spät wurde es dann 2024 als Die Horde im Gegenwind von Milena Adam bei Matthes & Seitz Berlin ins Deutsche übersetzt und ist für 38 Euro gebunden erhältlich. Erst im April 2025 erfuhr ich überhaupt davon, und zwar während der Recherche zu Clair Obscur: Expedition 33. Tom Guillermin, der leitende Programmierer des Videospiels, bezeichnete das Buch in einem Interview als „große Inspirationsquelle”.
Dass ich das als Freund der Phantastik bis dahin übersehen konnte ist schon verblüffend. Denn Damasio war im Jahr 2008 immerhin Mitgründer des französischen Entwicklers Dontnod Entertainment. Er leitete in den ersten zwei Jahren die Story-Abteilung, konzipierte als Autor u.a. die Hintergründe des Action-Adventures Remember Me (2013), das ich sogar besprochen habe, und war danach beratend an Life Is Strange (2015) beteiligt. Das enthält am Ende der ersten Episode übrigens einen Hinweis auf die Horde im Gegenwind, mit dem ich damals natürlich nichts hätte anfangen können. Doch damit ist jetzt Schluss, ich habe diesen tollen Roman endlich gelesen.
Und obwohl ich Clair Obscur sehr für seine Story schätze, hat er mich erzählerisch noch stärker beeindruckt. Die Horde im Gegenwind erzählt jedenfalls eine ganz andere Geschichte, spielt in einer anderen Fantasywelt mit einer eigenen sprachlichen Wucht, atmosphärischen Wirkung und physikalischen Wechselwirkungen. Es gibt Gemeinsamkeiten, aber wer das Spiel von Sandfall Interactive vom PC oder der Konsole her kennt, ahnt nicht, welche sturmgepeitschte Odyssee und welche existenziellen Schrecken ihn da über 715 Seiten hinweg erwarten. Es geht weder um eine Malerin auf einer Insel, die ganze Generationen zum Tode verurteilt, noch um eine von der Belle Épogue oder gar Final Fantasy geprägten Welt.
Experimente im Sturm
Allerdings ähneln sich einige Motive. Darunter die fragwürdige selbstmörderische Lebensaufgabe für eine Gruppe. Hinzu kommen sowohl greifbare als auch metaphysische Gefahren in einer Terra incognita, deren Rätsel bisher niemand entschlüsseln konnte. Genau deshalb werden auch im Roman seit Generationen spezialisierte Expeditionen ausgesandt, so genannte Horden, die das Ende der Welt bei ständig tosendem Gegenwind erreichen und dort sein Geheimnis lüften sollen. Denn der Wind prägt und dominiert als Naturgewalt den Alltag, die Mythen und sogar die Wissenschaft der Menschen, die ihn analysieren und seine Formen klassifizieren. Trotzdem scheiterten bisher alle Versuche, das nebulöse Ziel zu erreichen.
Man braucht auch als Leser einige Geduld, bis sich aus dem anfänglichen Befremden ein greifbarer Schauplatz samt eigener Sprache, Philosophie, Kultur und Wesen entwickelt.
Schon auf der ersten Seite spielt Damasio mit Erwartungen und Zeichen. Denn der Roman beginnt auf Seite 715, es folgen dann absteigend Seite 714, 713 usw., bis man den letzten Satz irgendwann auf Seite 1 liest. Im Prolog sieht man zunächst nur Kommata und Apostrophe, gefolgt von Buchstaben wie in einem Lückentext, bevor der erste Satz ...
"Am Anfang war die Geschwindigkeit, die reine, flüchtige Bewegung, der 'Blitz-Wind'."
… fast biblisch klingt. Aber der 1969 in Lyon geborene Schriftsteller beginnt seinen Roman nicht mit einer mythischen Weltschöpfung oder hintergründigen Erklärungen, sondern wirft den Leser direkt in das Auge eines Sturms. Schon dort zeigt er sein Talent für überaus bildhafte, körperlich spürbare Extremsituationen. Ich zitiere die Einleitung des ersten Kapitels, denn sie vermittelt sofort einen Eindruck vom Sprachstil und der folgenden Intensität:
") Bei der fünften Salve treibt die Schockwelle einen Riss in den Schanzenhals und der sandige Wind drang rau durch die klaffenden Granitfugen. Unter meinem Helm bohrt das schreckliche Geräusch zermalmten Gesteins; meine Zähne vibrieren – ich lehne mich gegen Pietro; Quarznadeln schleifen über seine Kontermaske. Auf dem Boden der uns umgebenden Gasse zwei alte Männer, die zu spät gekommen waren, sie hatten einen Fensterladen vernagelt und sind durchsiebt worden; ich halte vergebens Ausschau nach der Handvoll Kinder weiter vorn auf der Kreuzung, die barhaupt eine Schau abgezogen und Kampfansagen gemacht hatten, die niemand gegen eine solche Kraft, zumal bei dieser Zähigkeit der Luft, erheben darf, nicht einmal wir. Die gesamte Horde ist in diesem Moment gegen die Westseite eines Bauwerks gepresst, das uns im Vergleich zu anderen nicht ganz so erbärmlich verfugt schien, wir warten auf den Rückstrom, auf die kurze Pause in der Beschleunigung, die es uns erlauben wird, im Kontergang in das Straßenlabyrinth einzutauchen und bis zu den Befestigungen vorzudringen und von dort aus weiter, falls wir ausrücken wollen."
Wortneuschöpfungen
Man fühlt sich als Leser sofort mittendrin in dieser Szene. Außerdem wird man von seltsamen Satzzeichen wie der Klammer zu Beginn und interessanten Begriffen wie Kontermaske oder Kontergang angelockt. Man kann sich denken, dass all das Schutzmaßnahmen bzw. taktische Manöver sind. Denn die von Kopf bis Fuß hinter Leder, Rüstungen und sogar Holzlatten geschützten und wie Beduinen vermummten Mitglieder der 34. Expedition haben es mit einem so genannten Grimmwind zu tun. Das ist quasi ein gefürchteter Orkan des Todes, der die Haut zerfetzt und sogar Mauern hinweg fegt, so dass ganze Siedlungen dem Erdboden gleichgemacht werden.
Es sei denn, sie sind speziell verfugt und gebaut. Die Menschen haben sich nämlich seit Jahrhunderten an diese lebensfeindlichen Verhältnisse angepasst. Damasio errichtet seine archaische, manchmal mittelalterlich wirkende, aber gleichzeitig von Wind-Maschinen, Wärmeleitungen und hilfreichen Apparaten geprägte Welt fragmentarisch. Als Leser sammelt man Hinweise wie für ein Mosaik, um sich ein Bild zu machen, das man vergleich kann. Es gibt weder Schwerter noch Laser, aber Bumerangs, Harpunen und Propeller, Flugdrachen und Segelschiffe am Himmel, so dass man diese Art der Science-Fiction vielleicht als eine Art Wind-Punk bezeichnen könnte.
Eine passende Bezeichnung ist letztlich vollkommen egal, denn das Experiment geht auf und man bekommt das Gefühl einer vertrauten, aber exotischen und in sich glaubwürdigen Welt. Und Damasio hat dieses Talent, auch immer wieder den Videospieler in mir anzusprechen, der seine Texte umgehend in taktische Manöver oder Quests eines Rollenspiels überträgt. Denn er konzentriert sich nicht auf die Darstellung der bisherigen Geschichte oder gegenwärtigen Kultur, sondern auf die Heldenreise eines Kollektivs aus 23 Charakteren. Die kämpfen auf einer Art Todesmarsch in erster Linie zusammen gegen den Wind und äußere Gefahren, aber ebenso untereinander und gegen sich selbst. Darin wird letztlich auch eine Rebellion gegen die strikten Konventionen und Klassen einer Gesellschaft spürbar.
Und der Grimmwind ist nur eine der vielen Wortneuschöpfungen des Franzosen, der weniger gefährliche Winde z.B. Slamino nennt. Sehr geschickt ködert er über interessant klingende Bezeichnungen die Neugier, indem er manche wie die Chrone oder die Schift nicht sofort definiert, so dass sie während der Lektüre wie diffuse gefährliche Wesen oder eine Art Seele herum spuken. So entsteht auch eine schöne Spannung zwischen dem physikalisch Greifbaren und dem übernatürlich Spirituellen, zwischen Naturwissenschaft und Magie, die auch in den Gesprächen der Horde thematisiert wird: Ist diese Schift einfach eine dem Menschen inne wohnende Energie? Und falls ja, verschwindet sie mit dem Tod?
Die Kraft der Sprache
Zu den größten sprachlichen Stärken gehören die Beschreibungen von Wind und Wetter in all seinen Formen, so dass man fast die Sandkörner spürt, die einem auf die Haut hageln. Besonders beeindruckt hat mich die Passage der Horde durch die so genannte Lache, als sie sich quasi in eine amphibische Expedition verwandelt, die fast nur schwimmen muss und gegen die ewigen Wassermassen, den Wellengang sowie den peitschenden Niederschlag ankämpft, nur um irgendwo kleine Inseln der Ruhe zu finden. Hier gibt es eindringliche Beschreibungen des Regens, die mich an Ray Bradburys berühmte Kurzgeschichte Der lange Regen erinnert haben, als man jeden Tropfen spüren konnte, der sich durch die Ausrüstung und Psyche der Expedition fraß. Genau das geschieht auch hier, denn die Moral der Horde wird immer wieder auf die Probe gestellt, und es geht auf philosophischer Ebene um Wille und Aufopferung, um Freiheit und Zwang, das Individuum und das Kollektiv.
Zwar übertreibt es Damasio gelegentlich mit dem Spiel der Sprache und der philosophisch-poetischen Akrobatik. Fast so wie ein etwas zu selbstbewusster Seiltänzer, der sein Publikum gerne mit einem weiteren Trick in Staunen versetzen will, obwohl das schon dreimal Beifall geklatscht hat. Und manchmal fühlt man sich so, als würde ein verrückter Dichter in blumiger Sprache entweder vollkommenen Quatsch erzählen oder tatsächlich eine neue Sicht auf die Physik entwickeln, in der ein Stein nichts anderes als statischer Wind ist und Wasser in Turbulenz zu Glas werden kann. Das klingt mitunter sehr gut, sogar plausibel. Aber das Schöne ist, dass seine Figuren ebenfalls den Kopf schütteln, wenn z.B. Caracole der Troubadour nicht nur zu gekünstelt oder selbstverliebt palavert, sondern sich in einer blumigen Relativitätstheorie verliert. Oder hat dieser Wind-Barde, der als einziger Teilnehmer der Horde erst später hinzu stieß, mit all seinem wirren Zeug etwa recht?
Eine Horde, 23 Charaktere
Ich mag es jedenfalls, wenn Schriftsteller experimentieren und mit Worten sowie Zeichen spielen. Apropos: Die geschlossene Klammer zu Beginn des obigen Zitats weist laut beigefügtem Lesezeichen darauf hin, dass jetzt Sov Strochnis, der Schreiber erzählt. Von ihm hört man des Öfteren, denn er dokumentiert die Reise der Horde im so genannten Konterbuch. Aber die Perspektive des Ich-Erzählers wechselt innerhalb der 19 Kapitel absatzweise zwischen 23 markanten Charakteren, die mal mehr, mal weniger ausführlich beobachten. Diese Vielfalt kann zunächst verwirren, aber man lernt die Menschen dieser Horde immer besser kennen, so dass man Golgoth, Sov, Pietro, Caracole, Oroshi & Co bald ohne ihr Zeichen alleine am Sprachstil identifizieren kann.
Sie sind militärisch organsiert und werden vom so genannten Spurter Golgoth und dem Fürsten Pietro angeführt, die unterschiedlicher nicht führen könnten. Golgoth redet primitiv, grob und direkt Tacheles, während Pietro elegant, kultiviert und respektvoll auftritt. Golgoth gibt meist die Befehle, aber alle sind letztlich wichtig und ziehen wie Nomaden ihre Unterkünfte auf Schlitten hinter sich her. Und das seit sage und schreibe 27 Jahren. Denn als sie elf Jahre alt waren, sind sie zusammen von ihrer Heimatstadt Aberlaas aus losgezogen, wo man sie teilweise brutal für diese Aufgabe ausgebildet hat. Aber Mitglied einer Horde zu sein gilt in ihrer streng hierarchischen Kultur als erstrebenswertes Privileg.
Selbst die Horde hat eine Rangordnung vom Speer ganz weit vorne bis runter zum Pack und zum Fang, so dass sie die vermutete Gesellschaft in gewisser Weise spiegelt - dazu gehört auch das Egalitäre und das Abfällige. Neben vertraut klingenden Berufen wie Heilerin, Böttcher, Schmied, Rutengängerin, Falkner oder Kundschafter gibt es auch exotische wie Pfeiler, Geomeister, Luftwilderer oder Aeromeisterin, die sich mit dem geheimen Wissen über Winde beschäftigt. Falls es Pausen gibt, müssen Feuer entzündet, Lager errichtet und Nahrung zubereitet oder gejagt werden - dann werden schonmal Medusen aus der Luft gefischt und gegrillt.
Alle haben teils exklusive Fähigkeiten und Ausrüstung vom Bumerang über die Armbrust bis zum Propeller samt Segeltuch, so dass sich der Schutzkämpfer Erg Machaon z.B. in die Höhe katapultieren und alles aus der Luft attackieren kann, was sich der Horde an Monstern oder Banditen in den Weg stellt. Seine tödliche Kampfkunst wirkt wie eine metaphysische Weiterentwicklung der Martial Arts.
Außergewöhnliche Situationen
Es geht selten um gewöhnliche Gefechte, aber mit ihm erlebt man gegen den so genannten Zurichter einen faszinierenden Zweikampf, der so bildhaft ist, dass man sich wie in einem Videospiel fühlt und mit dem Analogstick die komplexen Bewegungen nachziehen will, denn das rasante Luftduell erinnerte mich an Armored Core. Das ist zwar kein Buch für Freunde von Schwert und Feuerball oder epischer Schlachten, aber es gibt einige außergewöhnliche Abenteuer und Gefahren, die ich zu den originellsten Darstellungen der Fantasyliteratur zähle. So mancher versierter Pen&Paper-Rollenspieler dürfte von der Originalität verblüfft und vielleicht für eine Quest inspiriert werden.
Denn selbst wenn Magie nicht in klassischer Art existiert, und jede Horde ein Tagebuch führte, gibt es einige Rätsel. Und die Macht mancher Wesen namens Chrone kann auf ähnliche Art Raum und Zeit beeinflussen, so dass die Horde des Öfteren an den Rand des Abgrunds gerät. Als jemand auf einem alten Turm mitten im Meer einen Vers an einem Brunnen laut zitiert, brechen plötzlich seine inneren Dämme und alle suchen verzweifelt nach einer Lösung. Und als die seit Tagen im Meer dahin schwimmende, halb dahin faulende Horde einem so genannten Siphon begegnet, droht er sie wie eine Art Unterwasserfall in die Tiefe zu ziehen.
An Land geht es wiederum um einen endlos scheinenden Marsch sowie Deckung und geschickte Positionierung, wobei sogar die verschiedenen Formationen im Buch geometrisch mit den Symbolen der Mitglieder dargestellt werden. Sobald der Grimmwind aufkommt muss die Horde schnell reagieren und eine Formation einnehmen, die meist von Golgoth in den Wind gebrüllt wird. Er geht mit seinem Mut wie ein Fels in der Brandung voran und tritt in den ruhigen Phasen so auf wie ein primitiver Klotz, zumal seine Sprache vulgär und ungehobelt ist. Seine Familie stellt zwar seit Generationen den heroischen Spurter der Horde, aber Golgoth hasst z.B. seinen Vater. Er laviert als Anführer zwischen schlechter Laune, Pöbeleien und Wahnsinn, aber sein Wille in Extremsituationen zieht die anderen mit.
Innere Konflikte und offene Fragen
So einige Konflikte ziehen sich durch die teils tragischen Lebensgeschichten der Figuren, die auch untereinander in Streit geraten. Zwar ist diese Horde schon seit mehr als zwei Jahrzehnten zusammen unterwegs, es gibt eine Art Kadermentalität und sie gelten für andere Menschen als Helden. Es gibt eine sehr schöne Begegnung mit einem Segel-Luftschiff, einem so genannten Feingeschwader der Freolen, die wie ein kultivierteres Volk anmuten. Sie entdecken die Horde, landen und feiern ein ausschweifendes Fest zu ihren Ehren mit Flugdrachen und Windrohrballett, mit Sex und Alkohol.
Aber selbst wenn sich die Horde gegenüber den so genannten Nestlingen, die zuhause bleiben, als Elite empfindet, sind ihr nicht alle freundlich gesinnt. Es gibt Leute, die sie jagen und vernichten wollen, untereinander gibt es Geheimnisse, Missgunst und Eifersucht. In einer Szene erlebt man das Turteln zwischen der hübschen Coriolis und dem Troubadour Caracole, dann wechselt die Perspektive zum Luftwilderer Larco Scarsa, der das gar nicht lustig findet. Es gibt einige köstliche Szenen und die Charaktere sowie ihre Beziehungen werden immer greifbarer, so dass sie einem wie Gefährten eines Rollenspiels ans Herz wachsen.
Ich fand z.B. die Dispute zwischen dem Falkner und dem Habichtler sehr amüsant, zumal das unterschiedliche Wesen der Greifvögel und ihre Herangehensweisen sehr genau geschildert werden. Weniger amüsant wird allerdings die Moral auf die Probe gestellt, denn die Horde muss auf ihrer Reise einige Rückschläge verkraften und bis an ihre Grenzen gehen, wobei auch die hässliche Fratze des Menschen samt Mobbing, Sexismus und Ausgrenzung zum Vorschein kommt. Ähnlich wie in Baldur's Gate 3 wird man jedenfalls bald Favoriten finden und sich freuen, wenn sie wieder zu Wort kommen. Besonders gut gefallen hat mir Oroshi, die Aeromeisterin, vor der alle Respekt haben und die mehr über die Zusammenhänge der Welt zu wissen scheint als die anderen.
Wobei es vorgeblich darum geht, bisher unbekannte Winde und ihren Ursprung zu finden, um die weitgehend kahl gefegte Welt vielleicht vom ewigen Sturm zu befreien. Die sechs bekannten Winde werden in aufsteigender Gefährlichkeit Zefirine und Slamino, Stesch und Choo, Blizzard und Grimmwind genannt. Aber die Gelehrten sprechen von neun Formen. Oder ist das alles nur mystischer Unsinn, um weitere Horden unter einem Vorwand loszuschicken? Aber warum investiert man dann in ihre Ausbildung?
Die diffusen Wechselwirkungen und diese Fragen köderten mich jedenfalls bis zum Schluss. Warum will und soll diese Horde stromaufwärts das andere Ende der Welt erreichen? Vor allem, wenn sie doch von Luftschiffen überholt wird? Ist dieser elende Marsch nicht einfach ein überflüssiges und selbstmörderisches Relikt? Über den Sinn und Zweck dieser Reise diskutieren ihre Teilnehmer ebenso wie über die Politik und Gesellschaft zuhause, die sie ja losgeschickt hat. So erfährt man stückweise mehr über die Motivationen und Mächte hinter diesen Expeditionen. Eines kann ich versprechen: Es gibt Antworten und es lohnt sich, bis zum Finale gegen den Wind zu lesen.
Comic als Alternative
Ein Videospiel oder eine Verfilmung des Stoffes gibt es bisher nicht. Aber wer diese Odyssee lieber schmökernd und bildhaft erleben will, kann sie als Comic kaufen. Bei Splitter erschien die gleichnamige Reihe von Éric Henninot in deutscher Übersetzung von Tanja Krämling. Und innerhalb der Comicwelt kam dieses nicht einfach zu illustrierende Abenteuer ebenfalls sehr gut an.
Es gibt vier Teile mit je 80 Seiten für je 20 Euro, von Die Horde des Windes 1: Das Universum ist mein Zuhause aus dem Jahr 2020 bis zum Finale in Die Horde des Windes 4: Alticcio, das erst im Juni 2025 erschienen ist. Der Franzose hat seine zeichnerische Klasse ja schon in Carthago demonstriert, dem dystopischen Science-Fiction-Abenteuer von Christophe Becs, das ich unbedingt mal vorstellen muss.
FAZIT
Die Horde im Gegenwind gehört zum Kreativsten, was mir in den letzten Jahren innerhalb der Phantastik begegnet ist. Angesichts seiner erfrischenden Weltkonzeption würde ich es mit Frank Herberts Dune vergleichen, zumal sich die Bewohner des Wüstenplaneten ähnlich schützen und anpassen müssen. In seiner gleichzeitig rätselhaften sowie lebensfeindlichen Art beherrscht hier der ewige Wind das Leben, die Sprache und die Kultur einer archaischen, hierarchischen und brutalen Gesellschaft, in der Poesie und Philosophie, Mystizismus und Wissenschaft für einen Ausgleich sorgen. Mit der Horde erlebt man diese Widersprüche und Konflikte alle auf schmerzhafte, aber auch fantastische Art. Zwar war diese Odyssee nicht immer einfach, man braucht etwas Geduld und manchmal übertreibt es der so gekonnt mit Wortneuschöpfungen spielende Franzose mit den sprachlichen Seiltänzen, so dass man sich fast wie bei einem Poetry Slam eines Astrophysikers fühlt. Aber wer die Sprache in all ihren Facetten liebt, wird diese Reise feiern. Sie konnte nicht nur mit den markanten Gefährten sowie der Gruppendynamik meine Fantasie als Rollenspieler anregen, sondern hat sich mit spektakulären Szenen zwischen Kampf und Tod regelrecht eingebrannt, weil Damasio sie so bildhaft und intensiv beschreiben kann. Ich hatte nach 715 Seiten ein episches Abenteuer hinter mir, das ich nicht so schnell vergessen werde.
(Die Horde im Gegenwind von Alain Damasio ist auf Deutsch bei Matthes & Seitz Berlin erschienen und kostet gebunden 38 Euro.)











