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Rezension: Essex Dogs (Dan Jones)

Irgendwann im Juli 1346, an einem Strand der Normandie: Nicht unweit von der Stelle des späteren D-Day springt ein Trupp englischer Söldner aus einer Pinasse ins Wasser. Sie werden Essex Dogs genannt, weil die meisten von ihnen den Akzent aus dem Südosten rund um die Themsemündung sprechen. Sie gehören zur Vorhut der Armee von König Eduard III., der mit knapp 15000 Mann auf hunderten Schiffen vor der Küste lauert. Und sie sollen die Drecksarbeit erledigen.




Von Armbrustbolzen und Katapultgeschossen begrüßt, schlagen sie sich in die Deckung eines Wracks und planen die nächsten Schritte. Wie kann man die Franzosen in ihrer erhöhten Stellung bekämpfen? Sie sind nur zu zehnt, tragen weder Vollhelm, Plattenpanzer noch Schilde, nicht einmal Kettenhemden. Die Verteidiger sind mit zwei Dutzend in der Überzahl, wesentlich besser ausgerüstet, mit Armbrüsten bewaffnet und beschießen aus erhöhter Stellung alles, was sich am Strand bewegt.


Alle warten in der Dämmerung auf die Befehle ihres Anführers, Loveday FitzTalbot. Er ist weder ein Ritter noch sieht er aus wie ein strahlender Held. Aber der ergraute, leicht übergewichtige und von Gelenkschmerzen geplagte Söldner hat viel Erfahrung. Und in seiner Truppe befinden sich fünf Langbogenschützen, darunter zwei Waliser. Die sind erst in Portsmouth zu seiner Gruppe gestoßen, sprechen kein Wort Englisch, aber Loveday weiß um die Fähigkeiten dieser keltischen Schützen.


Kaum schleichen sich die Essex Dogs an, sieht man beim Lesen fast ein mittelalterliches Taktik-Rollenspiel wie Wartales (zur Rezension) vor sich. Man grübelt und nickt, wenn Loveday seine Spezialisten positioniert, über Reichweiten zwischen Bolzen und Pfeilen nachdenkt, bevor er den Befehl zum Angriff gibt. Es gelingt Dan Jones sehr gut, diese situative Spannung sowie die Manöver im Gelände zu beschreiben. Schließlich werden die Franzosen von den Söldnern erst wie Hühner aufgescheucht, dann abgeschossen und auf der Flucht regelrecht massakriert.


Ein kleiner Vorgeschmack von Seite 25:


"Der massige Schotte zog die Beine unter den Leib und duckte sich wie ein Hund, der sich bereit machte, einen Bären anzugreifen. Der Junge sah ihn nicht kommen. Als er an ihnen vorbeirannte, sprang Scotsman auf und rammte ihm mit seinem ganzen Gewicht die rechte Schulter in die Rippen. Er warf ihn seitlich um, beugte sich mit einer fließenden Bewegung über ihn, drehte ihn mit dem Gesicht zum Boden, kniete auf seinen Rücken, legte den Arm um sein Gesicht und lehnte sich zurück. Das Genick des Jungen brach, und sein Leib zuckte und zappelte wie ein Fisch."


Nach dem Einstieg der ersten zwanzig, dreißig Seiten weiß man also, welche Art von Lektüre einen hier erwartet. Zwar ist Dan Jones ein ausgebildeter Historiker der Universität Cambridge, aber hier lässt er die Actionsau raus. Sein Roman ist weder hinsichtlich des Stils noch des historischen Spektrums ein poetischer ferner Spiegel, wie der gleichnamige Roman der US-Historikerin Barbara Tuchmann von 1978. Darin entführte sie ja auch in dieses 14. Jahrhundert, beschrieb die Mentalität sowie den Alltag des späten Mittelalters.


Auch die Schlacht von Crécy, auf die Loveday und seine Söldner im Laufe der knapp über 460 Seiten zusteuern, hat sie damals erwähnt - allerdings deutlich kritischer eingeordnet als englische Kollegen. Dan Jones bemüht sich erst gar nicht um Abstand und seine britische Sicht ist in Essex Dogs überdeutlich. Es liest sich so, als hätte George R. R. Martin einen Söldnertrupp wie den Blutigen Mummenschanz ins 14. Jahrhundert verlegt. Es geht schonungslos und brachial zur Sache, Köpfe fliegen und Knochen brechen - und es wird so derbe geflucht wie in keinem anderen mir bekannten Roman.


Wer religiös ist, sollte sich vielleicht nicht in die Gesellschaft von Scotsman & Co begeben, denn meist geht es weit unter die Gürtellinie des Erlösers, bis hin zur haarigen Arschbacke. Die Flüche und Kampfszenen haben es in sich und manchmal liest sich Essex Dogs wie ein Hack'n Slay. Aber selbst wenn sich Jones derber Sprache bedient und mit der Kamera so nah ins Geschehen zoomt, dass einige Protagonisten vor lauter Blut nichts mehr sehen und auf allen Vieren über Tote krabbeln, ist das keine reine Gewaltorgie.


So siegreich die Dogs zunächst sind, erleben sie bald die Schattenseiten des Krieges. Während man nach dem Einstieg noch denkt, dass hier mindestens so viele Köpfe wie Pfeile fliegen werden und alle für den König sterben wollen, werden die Monotonie des Marsches sowie die Konflikte innerhalb einer Armee als auch der Dogs immer deutlicher. Schon bald entwickeln sich einige Charaktere und es kommt zu Überraschungen. Dazu gehören Perspektivwechsel, wenn z.B. einer der Söldner unfreiwillig zur Entourage des Prinzen von Wales wechselt und dem egomanischen Trotzkopf als Knappe dienen muss.


In diesem Roman steckt reichlich Recherche, vor allem was den Alltag einer Truppe und den Verlauf des Hundertjährigen Krieges angeht. Und natürlich werden sich Freunde des Langbogens über dessen prominenten Einsatz freuen. Auch wenn ich mich ein wenig gewundert habe, wie wenig Details man hinsichtlich Holz, Verarbeitung oder Einsatz letztlich im Roman findet; ach so, hier eine Erkundung zu Langbögen bis hin zu Kid Icarus. Vielleicht liegt das daran, dass der Anführer Loveday selbst lediglich mit einem Kurzschwert kämpft und die Waliser einfach nur schweigen. Aber ansonsten gibt es in dem Buch viele historische Bezüge, und selbst Johann, der berühmte blinde König von Böhmen, hat seinen Auftritt.


Jones veröffentlicht nicht nur Romane, sondern auch als Historiker Bücher, die sich nicht nur aufgrund seiner lockeren Schreibe großer Beliebtheit erfreuen. Kürzlich erschien Mächte und Throne: Eine neue Geschichte des Mittelalters bei C.H. Beck, in der er ganz weit heraus zoomt, um Linien vom Zusammenbruch des Römischen Reiches bis zur Entdeckung der Neuen Welt zu ziehen. Noch näher dran an an den Geschehnissen der Essex Dogs ist er mit Kampf der Könige: Das Haus Plantagenet und das blutige Spiel um Englands Thron. Darin zeichnet er die etwa 300-jährige Geschichte der aus Frankreich stammenden Herrscherdynastie Anjou-Plantagenêt nach, aus der mit York und Lancaster auch zwei englische Häuser hervorgehen, die sich in den Rosenkriegen bekämpften - und die waren wiederum ein Vorbild für all die Fehden zwischen den Häusern bei G.R.R. Martins Lied von Eis und Feuer.


In Essex Dogs wird zwar eine britisch glorifizierende Sicht deutlich, aber man erkennt genug historischen Fundamente. Es geht um den Marsch, das Lagerleben und die Ausrüstung, um Plünderungen, Überfälle und Hinrichtungen, um Gier und Ausbeutung. Die Dogs werden z.B. von einem Ritter namens Sir Robert für 40 Tage verpflichtet, aber natürlich wird die Zeit überschritten und jeder versucht, auf eigene Faust seine Beute in Dörfern und Klöstern zu machen. Aber wie bekommt man die wertvolle und teils sperrige Ware nach Hause? Es gibt quasi einen eigenen Schwarzhandel innerhalb der Armee, der den Söldnern die Ware zum Tiefpreis abnimmt und dann in London teuer verhökert.


Die soziale Hierarchie und die Konflikte zwischen den einfachen Waffenknechten und Bogenschützen auf der einen sowie den Sirs und Lords auf der anderen Seite, werden glaubhaft dargestellt. Dazu gehört auch die Heuchelei von Ritterlichkeit oder die Diskrepanz zwischen dem königlichen Befehl, die Zivilbevölkerung zu verschonen, und der grausamen Wahrheit von Plünderungen und Vergewaltigungen, nach der fast alle gieren. Jedes Kapitel wird von Quellenzitaten aus Briefen oder Chroniken wie jender von Jean Froissart (1337-1405) eingeleitet, die nicht einfach so für sich stehen, sondern einen kleinen Ausblick auf die Ereignisse der kommenden Seiten geben. Zusammen mit der Karte zu Beginn des Buches kann man der Truppe also sehr gut durch Frankreich folgen.


Schlacht von Crécy, Buchmalerei in der Chronik von Jean Froissart, 1450, gemeinfrei.

Gut gefallen hat mir auch die Entwicklung der beiden Hauptcharaktere. Da ist zum einen der stets grübelnde Anführer Loveday, der eher kritisch auf die Gegenwart des Krieges blickt und alle Mann nach Hause bringen will. Er hadert nicht nur mit den Gewaltexzessen gegenüber der Bevölkerung, sondern auch mit dem Neid und Mobbing innerhalb der englischen Armee. Er ist kein bellender Offizier, sondern kämpft ständig mit seiner Verantwortung als Anführer, die er eigentlich nur trägt, weil "sein Captain" plötzlich verschwunden ist. Dessen Schicksal sowie die Begegnung mit einem französischen Mädchen sorgen zudem für etwas mysteriöses Flair innerhalb des von Entbehrungen und Verlusten geprägten Kriegszuges.


Eine ganz andere Perspektive erhält man, sobald der eher introvertierte Romford als jüngster der Söldner zu erzählen beginnt. Er ist zwar ein guter, aber unerfahrener Bogenschütze, der von Pismire aufgezogen wird und sich fügen muss. Der Name Pismire passt wunderbar, denn der gemeine kleine Mann wurde seit der Kindheit nach den roten Feuerameisen benannt. Romford nimmt jedenfalls Drogen gegen die Angst und Anspannung, hat überhaupt keine Erfahrung im Schwertkampf, will niemanden töten und steht plötzlich in einer der blutigsten Schlachten des Mittelalters - seine Schilderung der Ereignisse von Crécy gehört zu den Highlights des Romans.


Weniger gelungen sind einige andere Charaktere innerhalb der Dogs. Die beiden Waliser, die kein Wort Englisch sprechen und quasi mit Pferden flüstern, wirken fast wie Aliens - oder besser: Elfen. Und der Schotte, der nur Scotsman genannt wird, wird sehr stereotyp dargestellt: Dieser rothaarige Hüne mit dem "Flammen-Haar", vor dem natürlich alle Angst haben, wirkt wie eine Kopie von Hamish aus Braveheart - wunderbar gespielt damals von Brendan Gleeson, jetzt als modernes Echo in diesen Roman gebeamt.


Die Lords Warwick und Northampton sowie König Edward und sein gleichnamiger Sohn, aus dem irgendwann der Schwarze Prinz werden soll, werden besser dargestellt. Zwar hält sich Jones an die wesentlichen Eckdaten und Fakten ihrer Biografien, aber seine Charakterisierungen sind natürlich vollkommen fiktiv. Und der Prinz von Wales kommt als gewalttätiger und hinterlistiger Königssohn alles andere als gut weg. So mancher Disput zwischem königlichem Vater und trotzigem Sohn erinnert z.B. an Dialoge zwischen Lord Tywin und Joffrey Lannister aus Game of Thrones. Apropos: Laut Nachwort haben Jones und Martin bei einem Abendessen miteinander gesprochen - und kurz darauf fing der Brite angeblich an, diesen Roman zu schreiben. Tja, wenn man das mal kein FromSoftware-Effekt ist...


FAZIT


Ich hab die 464 Seiten jedenfalls in einem Rutsch weggeschmökert. Kurz nach der berühmten Schlacht von Crécy endet die Reise dann recht plötzlich. Aber sie ist als Trilogie angelegt: Der zweite Teil Winterwölfe erscheint schon am 21. August 2024 bei C.H. Beck. Mich hat Essex Dogs als kurzweilige Sommerlektüre gut unterhalten, zumal ich danach wieder Lust hatte, Wartales mal endlich mit allen Erweiterungen zu spielen. Falls ihr einen Comic bevorzugt, kann ich übrigens Crécy aus dem Jahr 2007 von Warren Ellis und Raulo Caceres empfehlen, auf Deutsch beim Dantes Verlag erhältlich.

6 Comments


bronto
bronto
Aug 13

Das könntest DU sein Jörg der so einen Roman schreibt 🤐🥶


Halbspass beiseite, danke für den Lesetipp! Und ja, macht total Lust auf Wartales… 😉

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Qugart
Qugart
Aug 09

Kommt auf meinen Merkzettel. Vor allem die Anfangszeit des Hundertjährigen Kriegs ist sehr interessant. Die Schlachten von Crécy und Azincourt waren ja schon immer gerne Mittelpunkt der englischen Unterhaltungsidustrie ("We few, we happy few, we band of brothers". Jaja, LK Englisch)

Auf dem Kontinent schrieb und schreibt man lieber über die Zeit ab der frühen Neuzeit, z.B. über den Dreißigjährigen Krieg. Rosenegg: Der Weiße Berg von Klemann kann ich da empfehlen.


Wundert aber dann doch etwas, wenn Langbögen gar nicht so im Blickpunkt sind. Waren sie doch der Sieggarant bei den beiden oben genannten Schlachten. Auf der anderen Seite waren sie, bzw. das Festhalten daran, schlussendlich der Grund, wieso england dann zahlungsunfähig wurde.


Funfact: Die Muttersprache des auf Windsor Castle…

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bronto
bronto
Aug 13
Replying to

Ja, zum 30jährigen Krieg war doch vor kurzem (2017, irre wie schnell die Zeit vergeht…) Daniel Kehlmanns „Tyhl“?

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