Ich hatte Kelp bereits kurz als Geheimtipp empfohlen, als es auf der SPIEL 23 in Essen seine Premiere feierte. Nach einer sehr erfolgreichen Kickstarter-Kampagne wurde es Ende 2024 von Wonderbow Games aus Hamburg für knapp 50 Euro veröffentlicht. Das spannende Duell für zwei Spieler, die als Jäger und Gejagter in ganz unterschiedliche Rollen schlüpfen, erfreut sich seitdem großer Beliebtheit und hat nicht nur unseren Tisch erobert.
Der maritime Nerv
Zwar sind manche Schwarmfinanzierungen für Brettspiele deshalb so erfolgreich, weil ein prominenter Autor oder eine bekannte Marke wie Batman, Der Herr der Ringe oder Dark Souls damit verbunden sind. Aber es gibt immer wieder kreative Überraschungen, die über die Anziehungskraft ihrer frischen Idee in kleineren Formaten neugierig machen. Vor allem, wenn das Artdesign und das Thema schon auf den ersten Blick eine so starke Symbiose eingehen, dass sie einen Nerv treffen.
In diesem Fall den maritimen. Das liegt natürlich mit daran, dass ich auf Spielvertiefung ohnehin einen Blick für Abenteuer rund um das Meer habe - immerhin gab es die erste Rezension auf dieser Seite zu Nemo's War und erst kürzlich habe ich sieben Spiele rund um Schiffe in einer Breitseite vorgestellt. Als ich den roten Oktopus das erste Mal im tiefgrünen Meer lauern sah, das gelbe Auge auf den kleinen Hai gerichtet, hatte ich jedenfalls umgehend Lust auf das Spiel.

Das Bild stammt vom brasilianischen Künstler Weberson Santiago, der als Professor für Illustration u.a. in São Paulo und Lissabon aktiv ist und sich auf Cover für Bücher, Magazine sowie Brettspiele spezialisiert hat. Diese Expertise merkt man dem wunderbaren Motiv an, dessen Farben und Formen sich später bis hin zum doppelseitigen Spielplan, den bemalten Steinen und gezeichneten Karten wiederfinden. Sprich: Kelp ist überaus professionell und visuell stimmungsvoll durchgestaltet.
Für das Grafikdesign zeichnet Artdirector Sönke Schmidt verantwortlich, der den unabhängigen Hamburger Verlag zusammen mit der Projektmanagerin Laia Gonzalez gegründet hat. Die schöne Gestaltung von Kelp hat sicher mit zum Erfolg beigetragen. Aber man darf das interessante und in dieser getrennten Taktik eher seltene Duell-Konzept natürlich nicht vergessen.
Laia und Sönke trafen den bis dahin unbekannten britischen Autoren Carl Robinson auf der SPIEL 22, als er seinen Prototypen vorstellte. Es war sein erstes Spiel, aber sie sahen Potenzial im asynchronen Duell und wollten es über Kickstarter mit dem bescheidenen Ziel von 10.000 Euro schwarmfinanzieren. Aber dann schlug es ganz andere Wellen: Am Ende trugen 20.818 Unterstützer satte 1.429.286 € bei. Mit diesem Erfolg hatte also niemand gerechnet und mittlerweile jagen sich tausende Spieler über den Grund des Meeres.
Der eine flieht, der andere hungert
Allerdings habe ich erst gestern als Hai verloren, weil ich mal wieder zu oft ins Leere gebissen habe. Das Spiel als Jäger verlangt eine Balance aus Geduld und Aggression, denn Kelp simuliert dessen Erschöpfung: Immer, wenn ich Energie verbrauche, um Karten zu kaufen oder anzugreifen, wandert ein Würfel auf die verflixte Hungerleiste. Sobald dort der siebte platziert wird, heißt es Game Over. Und ich war wohl etwas übermütig in meinen Aktionen.

Dabei war ich mir so sicher, dass sich der Oktopus genau an dieser einen Stelle im Kelpwald versteckt hatte! Im Gegensatz zu meiner für ihn sichtbaren Haifigur ist er ja für mich weitgehend unsichtbar, irgendwo verborgen hinter einem der neun aufgestellten Steine. Wenn er da unten rechts gewesen wäre, dann hätte er übrigens keine Chance mehr gehabt: Denn er war mir bereits in zwei Begegnungen erfolgreich entwischt und hatte deshalb keine Karten mehr! Arghs, wie knapp das war.
Und genau dieses Zulaufen auf einen tödlichen Showdown sorgt über eine gute Dreiviertelstunde für anwachsende Brisanz. Die direkte Konfrontation zwischen Hai und Oktopus wird in drei Stufen spannender, weil sie mit drei verdeckten Karten pro Spieler abläuft: Sie werden gleichzeitig aufgedeckt und der Hai erwischt seine Beute, falls sie zueinander passen. Zeigen sie allerdings unterschiedliche Farben, flieht der Oktopus und kann sich weiter durch Langusten und Krebse fressen, um zu lernen, seine maximale Kartenzahl zu steigern und mit ihnen clevere Manöver einzuleiten.

Allerdings fällt auf der Flucht immer eine von drei Farbvarianten weg, so dass seine Chance bei einer zweiten Konfrontation nur noch bei 50 zu 50 liegt. Bei mir als Hai ist es also die verflixte Sieben des Hungers, während er unbedingt die tödliche dritte Begegnung vermeiden muss. Ach so: Der Oktopus kann nicht nur gewinnen, wenn ich maximal erschöpft bin, sondern auch, wenn er den vierten Futterstein platziert - er muss sich also ebenfalls bewegen und Beute machen.
Asynchrones Duell
Trotzdem kann man an der bisherigen Beschreibung bereits erkennen, dass sich Jäger und Gejagter sehr unterschiedlich spielen - und anfühlen, denn der Oktopus wird ja ständig bedroht und muss defensiv clever sein, während der Hai als Aggressor offensiv clever sein muss. Sie sitzen sich mit anderem Spielmaterial gegenüber, der eine managt seine wechselnde Kartenhand, der andere den Inhalt seines Würfelbeutels, und bis auf den oben beschriebenen Kampf ziehen sie nicht gleichzeitig, sondern nacheinander.
Zu meiner Verteidigung der Niederlage könnte ich zwar noch anmerken, dass ich keinen mächtigen Weißen, sondern nur einen gestreiften Pyjamahai über den Spielplan bewege, der gerade mal einen Meter lang und knapp acht Kilo schwer wird. Schon auf der Box wirkt er eher wie ein putziger Fisch und der Oktopus sieht eher aus wie derjenige, der ihn gleich frisst.

Allerdings gehört zur Wahrheit auch, dass der Oktopus die etwas anspruchsvollere Taktik der Tarnung und Täuschung meistern muss. Zwar müssen beide clever ihre Fähigkeiten managen, aber das ist für ihn mit seinen Handkarten samt Limit etwas komplexer; außerdem hat nur er Zugriff auf die Anordnung der Steine des Spielplans, muss sich ständig anpassen und die Unterwasserwelt zu seinen Gunsten umgestalten.
Block Wargames lassen grüßen
Das visualisiert Kelp sehr gut, indem alles für ihn Sichtbare wie in einem Block Wargame dargestellt wird. Die meisten kennen sicher den Klassiker Stratego. Oder vielleicht die historisch inspirierten Varianten von Columbia Games, wie etwa Hammer of the Scots (2002) oder Julius Caesar (2010), wenn sich Armeen in Blöcken aufeinander zu bewegen, deren Art und Stärke für den Betrachter zunächst unbekannt ist. So entsteht umgehend eine Spannung während der Annäherung und Aufklärung.

Natürlich verbergen sich hinter den neun Steinen in Kelp keine Truppen, sondern Futter, Muscheln, Fallen sowie an genau einer Stelle der Oktopus. Und weil er mit mehr Nahrung immer besser darin wird, sich in dieser Welt zu bewegen und plötzlich zu verschwinden, darf sein Spieler spezielle Steine geheim auswechseln oder ihre Positionen tauschen. So wird der Hai im Idealfall verwirrt, schlägt an falscher Stelle zu und muss weiter nach seiner Beute suchen - fast so wie im Klassiker Sherlock Holmes.
Schnellstraße unter Wasser
Was ich, wie erwähnt, im letzten Duell erleben durfte, denn mein Gedächtnis hat mich da im Stich gelassen und das süffisante Grinsen meiner Kontrahentin erinnerte mich an eine Hütchenspielerin. Doch beim nächsten Mal werde ich geduldiger jagen und meine Würfel besser managen. Das Besondere an Kelp ist, dass nicht nur der Oktopus den Spielplan taktisch verändern oder die aufgemalten Verstecke im dichten Kelpwald nutzen kann. Der Hai kann nämlich die wichtigen Strömungen zu seinen Gunsten anpassen, indem er sich quasi Schnellstraßen baut.

Er bewegt sich in Strömungsrichtung von Kreuzung zu Kreuzung, aber kann auf die Linien dazwischen einen oder mehrere blaue Würfel in absteigender Reihenfolge wie etwa 5, 3, 2 legen, um in einem Zug über sie hinweg bis hinter die 2 zu rasen. Ein weiterer Vorteil ist, dass er so den ersten Würfel auf seine Wachstumsleiste legen darf. Und wenn dort der dritte, sechste oder neunte platziert wird, erhält er eine der drei permamenten Fähigkeiten.
Würfelmanagement
Die erste ist ein Energiebonus, mit der zweiten darf er erneut würfeln und schließlich einen weiteren Würfel aus dem Beutel ziehen. Das ist wichtig, denn darin befindet sich zu Spielbeginn nur ein roter Würfel, mit dem man angreifen kann. Hinzu kommen Würfel durch sofort verbrauchte Karten, die man für Energie kaufen kann, um sich z.B. einmalig einer Falle zu entziehen, sich weiter zu bewegen, um 180 Grad zu drehen, Würfel zu sparen oder zu erhöhen.

Neben ihrer Farbe Blau, Gelb und Rot für die Art der Aktion ist ihr Wert von eins bis sechs relevant: Nicht nur wegen der Kartenkosten, sondern weil der Hai nur in den Regionen einen Stein aufdecken oder direkt angreifen darf, deren Würfelwert er mindestens erreicht.
Also ganz ohne Grips und taktisches Management kommt der Jäger ebenfalls nicht aus; nur muss der Oktopus beim Verstecken, Lernen und Fressen etwas mehr beachten und am Tisch zumindest so schauspielern, dass er seine Position nicht durch ein nervöses Blinzeln verrät. Auf beiden Seiten gehört schließlich etwas Glück beim Ziehen von Würfeln bzw. Karten dazu.
FAZIT
Kelp ist eines der besten asynchronen Duellspiele. Es inszeniert den taktischen und in gewisser Weise psychologischen Konflikt zwischen Jäger und Gejagtem. Die beiden Kontrahenten setzen nicht nur komplett andere Spielmechaniken ein, sondern erleben ein jeweils anderes Spielgefühl: Während sich der passiv defensive Oktopus ständig bedroht fühlt, dabei clever täuschen und tarnen muss, muss der aggressiv offensive Hai seine Energie einteilen, während nach erfolglosen Angriffen die Verzweiflung wächst, dass der Hunger ihn besiegt. Das Schöne an Kelp ist die anwachsende Spannung, die Unterschiedlichkeit der Spielweise sowie die Dynamik über wechselnde Positionen von Steinen und Strömungen. Und schließlich sei das sehr gelungene Artdesign erwähnt, das vom Boxcover über die Kartenzeichnungen bis zur Haifigur für stimmungsvolles maritimes Flair sorgt. Mittlerweile gibt es neben der Standard-Edition auch zwei Erweiterungen bei Wonderbow Games.
(PS: Damit die Diskussion an einer Stelle gebündelt wird, kann man nicht hier, sondern nur im Forum unter Kommentare zu Berichten kommentieren.)
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