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Rezension: Sorcery! The Complete Collection (PS4/5, XBS, SW)

Gute Geschichten altern nicht. Man kann sie immer wieder lesen. Und in vielen Fällen ist das Original selbst nach Jahrzehnten die beste Wahl. Aber Sprache, Ansprüche und Möglichkeiten verändern sich, vor allem im Bereich interaktiver Literatur. Selten gelingt es, ein Werk später so zu ergänzen, dass es noch besser wird. Doch aus dem 1983 veröffentlichten Abenteuer-Spielbuch Steve Jackson's Sorcery! haben die Inkle Studios 2013 nicht weniger als ein digitales Juwel der Fighting Fantasy gezaubert. Wie konnte das gelingen?



Kreation statt Konversion


Am Anfang war das Wort, und das Wort war Abenteuer. Johannes möge mir die Anpassung verzeihen, aber sie trifft den Kern des Erfolges: Bevor Sorcery! für iOS erschien, wurden Spielbücher, so genannte Gamebooks, meist nur für den Bildschirm konvertiert, so dass man beim Lesen wie in einem Buch umblättern musste. Außerdem kamen kaum Ergänzungen hinzu; es handelte sich um Umsetzungen, die sich streng an das Original hielten. Kurzum: Niemand hat das digitale Potenzial dieser Solo-Abenteuer wirklich ausgeschöpft, die so manchen Leser der 80er und 90er erst an Rollenspiele wie D&D oder DSA heranführten.


Natürlich gab es zu der Zeit bereits reine Text-Abenteuer wie Zork (1986) oder Ooze (1989), später kamen zig Digital Novels oder avantgardistische Storytelling-Experimente wie Device 6 (2013) hinzu, das sogar ein neues interaktives Spielgefühl entstehen ließ - übrigens heute noch ein großartiges Adventure für das iPad. Aber erst die Inkle Studios haben sich Gedanken darüber gemacht, wie man das klassische Lesen modernisieren kann, wie man Buch und Spiel vereinen kann. Creative Director Jon Ingold, mit dem ich damals auf der Games Convention in Leipzig darüber sprach, wollte der Tradition im Kern treu bleiben, aber sie innovativ bereichern.


Plumper Einstieg, spannende Entwicklung


Steve Jackson's Sorcery! ist für knapp 25 Euro als komplette Sammlung für PS4/5, XBS und Switch erhältlich.

Das war auch deshalb eine weise Entscheidung, weil die Geschichte als solche, gerade des ersten Teils, nicht sofort begeistert: Ein böser Erzmagier hat eine legendäre Krone an sich gerissen, die ihrem Träger unheimliche Macht verleiht. Wer kann ihn aufhalten? Man beginnt recht plump ohne weitere Hintergründe als Held oder Heldin aus Analand, durchschreitet ein Tor und reist durch die Wildnis der Shamutanti Hills, mit dem ersten großen Ziel: der Stadt Kharé. Dort, ab dem zweiten Teil der Saga, wird es erzählerisch interessanter, bevor es spätestens dann richtig spannend wird, wenn der Bösewicht einen aktiv verfolgt und Verräter auftauchen. Im hoch spannenden dritten Teil kommen magische Leuchttürme hinzu, mit denen man die Zeit manipulieren kann. Aber gleichzeitig wird man in den Bergen von Vogelmenschen aus der Ferne gesichtet. Wer einfach nur schnell vorwärts prescht, wird das Finale entweder gar nicht erreichen oder dort sterben.


Trotz des spröden Einstiegs entsteht schon früh eine exotische Anziehungskraft aufgrund subtiler Andeutungen, skurriler Situationen und jeder Menge Rollenspielflair: Verrät man seinen Namen und seine Absichten in der Fremde? Was macht der alte Mann da oben im Baum? Hilft man ihm oder ignoriert man ihn? Trinkt man den Tee bei einer verdächtigen Gastgeberin oder tauscht man die Tassen? Auch wenn einiges märchenhaft stereotyp ist: Diese Entscheidungen ziehen fast immer kleine bis große Konsequenzen nach sich. Akzeptiert man z.B. das Feenwesen als Begleiter, darf man plötzlich keine Magie mehr wirken. Es ist das Verspielte, das unterhält: In den Gesprächen darf man feilschen, man kann barsch oder höflich auftreten, wobei neugierige Naturen meist belohnt werden – mit wertvollen Hinweisen oder nützlichen Artefakten. Außerdem gibt es ein unterhaltsames Minispiel namens Swindlestone, mit dem man seine Goldvorräte aufstocken kann.


Im ersten Teil geht es durch die Hügel-Wildnis nach Kharé, der Stadt der Diebe.

Sehr schön ist auch, dass man je nach Verhalten ein anderes Sternzeichen wie Affe oder Tiger erhält, das in gewisser Weise den Charakter abbildet und zu dem man beten kann, um frische Kraft zu gewinnen. Man entdeckt Dörfer, Höhlen, Katakomben, kann sich verkleiden oder mit Geistern reden, während ein dynamischer vertikaler Lesefluss entsteht, der immer wieder von coolen Zeichnungen aufgelockert wird: Die originalen Schwarzweiß-Bilder von John Blanche decken vom Goblin bis zum Mantikor ein ganzes Bestiarium ab. Sie versprühen ihren ganz eigenen Charme, der irgendwo zwischen dem Humor eines Terry Pratchet und dem Pathos eines Conan liegt. Die Briten haben keine neuen Cutscenes oder Videos, dafür jedoch weitere klassische Artworks in seinem Stil hinzugefügt - es gibt also mehr Zeichnungen dieser alten Schule.


Der Text als zentrales Stilmittel


Aber was noch viel wichtiger ist: Sie haben das Wort ernst genommen und den Text als zentrales Stilmittel kreativ angepasst. Anstatt das horizontale Blättern zu simulieren, werden weitere Zeilen nach einer Entscheidung vertikal eingeblendet, mit einer feinen Trennlinie. Das klingt banal, aber als ich Sorcery! 2013 auf dem iPad spielte, entstand umgehend ein toller Lesefluss, harmonisch von oben nach unten. Außerdem wurden die Texte selbst und das Schriftbild verbessert, indem man Wiederholungen vermied, dafür neue Worte einfügte und die Dichte der Absätze ähnlich wie beim Lettering von Comics auflockerte.


Wer des Englischen mächtig ist, darf sich auf tolle Texte und viele Entscheidungen freuen.

Das war kein reines Copy&Paste von Steve Jackson, sondern ein enormer Aufwand: ein Autor hat die 150.000 Worte mit knapp 800 Szenen, 159 Ereignisorten und 2614 (!) Optionen für den ersten Teil von Sorcery! geschrieben. Für den zweiten Teil gab es schon eine Verdopplung und am Ende der vierteiligen Saga erreichte man mehr als eine 1,5 Million Worte - dieser Umfang ist mit ein Grund dafür, dass es bisher leider keine Übersetzung ins Deutsche gibt; der finanzielle Aufwand wäre für das kleine Studio zu groß. Schließlich sorgten auch Schrifttyp und farbliche Hintergründe für ein edles Flair. Auch auf der PS5 mit großem Bildschirm ist die Lektüre sehr angenehm.


Interaktive Karte im D&D-Stil


Aber das ist nicht alles an Kreation: Neben dem Lesefluss entsteht auch ein neues visuelles Spielgefühl, denn im Gegensatz zum Buch von 1983 bewegt man seinen Helden über eine interaktive Karte - und die ist wunderbar! Sie wurde von keinem Geringeren als Mike Schley illustriert, der auch viele bekannte Karten für Dungeons & Dragons gezeichnet hat, darunter jene von Baldur's Gate oder das Ravenloft-Abenteuer Curse of Strahd. Wie wichtig eine Karte sein kann, hat erst kürzlich jene von Elden Ring gezeigt, die übrigens stilistisch an Schleys Werke erinnert.


Es gibt nicht nur Landschaften, sondern auch handgezeichnete 3D-Gebäude, die man als regionale Ausschnitte erkunden kann - man betritt kleine Dioramen inkl. Gelände und Haus. Zwar kann man sich in Sorcery! nicht frei durch die Fantasywelt bewegen, aber immer wieder hat man die Wahl zwischen zwei oder mehr Alternativen, die auf der Karte mit einem Weg eingeblendet werden, so dass man sich z.B. zwischen einer Übernachtung in einem Wald oder dem Betreten eines Dorfes entscheiden kann. Sehr komfortabel ist auch die Rückspulfunktion, so dass kein Trial&Error-Frust aufkommt: Man kann die bisherige Route betrachten und an Orte zurückreisen, um sich von dort aus anders zu entscheiden.


Nicht nur die Landschaft, auch Gebäude wurden sehr edel illustriert.

Apropos Entscheidungen: Im Gegensatz zu dem eher linearen Prinzip eines Mass Effect, in dem man meist zwischen A und B wählt, um dann bei C weiter zu machen, gibt es in diesem Rollenspiel mehr Ungewissheiten während der Reise. Sprich: Man erfährt nicht immer sofort, welche Auswirkungen die eigene Wahl hat. Manchmal verlässt einen plötzlich ein Gefährte oder man wird Stunden später überrascht und erinnert sich daran, dass man ja mal einem Bettler oder Assassin geholfen hat, was in der aktuellen Situation wiederum relevant ist. Man kämpft zwar auch des Öfteren, aber es sind vor allem die sehr guten Texte, die eine angenehm subtile und von Magie durchdrungene Rollenspielwelt gestalten, in der vieles nicht so ist, wie es scheint. Damit ist der Wiederspielwert recht hoch, wenn man alle Auswirkungen erleben will.


Tja, was machen?

Magie von HOT bis ZAP


Das gilt auch für die vielfältigen Zauber, die einen großen Anteil daran haben, dass Spaß am Ausprobieren entsteht: Das fängt schon damit an, dass man nicht einfach Feuerball anklickt, sondern dass man die drei richtigen Runen dafür eingeben muss: HOT. Diese geben als Kürzel schon einen Hinweis auf die Auswirkung: ZAP ist z.B. ein Blitz, DUM sorgt für Verblödung, DOP öffnet Türen. Das Eingeben ist zwar auf Konsolen etwas fummeliger als per Touchpad, aber genauso unterhaltsam, denn man startet nur mit wenigen Zaubern, kann auf der Reise aber an die 50 finden - wobei manche noch nach einem speziellen Gegenstand wie dem Zahn eines Riesen oder einem Goldstück verlangen.


Ein Zauber benötigt drei Runen und manchmal eine Zutat.

Das Schöne am Magiesystem ist, dass es nicht nur um arkane Angriffe geht, sondern auch um Tricks, Verwandlungen, Manipulationen und Illusionen - auch arkane Konter sind später relevant, denn man ist nicht der einzige Zauberer. Aber in welcher Situation hilft was? Soll man im Angesicht eines Riesen eher seine Körpergröße verdoppeln, für Dunkelheit sorgen, eine Fake-Schatzkiste beschwören oder seinen Verstand benebeln? Man kann per Zauber auch Schlösser öffnen, seinen Fall in die Tiefe abfedern oder sich vor einer Gefahr warnen lassen, wenn man vor einer Abzweigung steht. All das geht allerdings nicht endlos, denn das Zaubern kostet jedesmal etwas Ausdauer, die letztlich auch Lebenspunkte symbolisiert und über Essen sowie Rast wieder aufgefüllt wird.


Taktische Kämpfe mit Pokerflair


Und wenn man ein Monster nicht mit Magie besiegen kann? Zur Fighting Fantasy von Steve Jackson gehören natürlich immer Kämpfe, die in den Büchern über ein Würfelsystem abgewickelt werden. Auch hier haben die Inkle Studios die Spielmechanik mit einem interessanten Kniff so verändert, dass weniger Zufall und dafür mehr Taktik relevant ist: Man sieht seinen Helden mit Schwert links, den Feind rechts. Beide haben eine Energieleiste, die sowohl ihre Ausdauer als auch ihre Angriffskraft darstellt. Sinkt sie auf null, hat man verloren. Es gilt also, Defensive und Offensive in jeder Runde zu dosieren.


Manchmal hilft nur der Kampf!

Man muss sich entscheiden, ob man sich nur verteidigt, was sehr wenig Energie abzieht und einen Maximalschaden von einem Punkt garantiert, oder ob man mit leichten, mittleren oder schweren Hieben angreift, die viel mehr Schaden anrichten können. Wer den höheren Wert erzielt, sorgt für mehr oder weniger Schaden. Allerdings weiß man natürlich nicht, was der Gegner macht! So entsteht ein spannender Schlagabtausch mit Pokerflair, wobei Goblins, Trolle oder Bestien nach jedem Hieb eine andere Haltung einnehmen.


Auch innerhalb von Räumen ergeben sich mehrere Wege.

Nicht nur diese können einen Hinweis auf die nächste Aktion geben, sondern auch die hinzugefügten Beschreibungen: Im Gegensatz zum Original wird jede Runde des Kampfes von Texten näher erläutert, so dass man etwas über das Verhalten eines Monsters nach einem Treffer erfährt, wenn es sich z.B. eher in Deckung zurückzieht oder mit wütendem Blick auf einen Schlag reagiert. Hier ein Beispiel:


“Then he is diving forward for your throat! Your own stroke is overpowered. The Assassin’s sword is punishingly deep. You move quickly to deflect the blow as best you can with your shield. ‘My duty is to sever your head from your neck,’ he declares, in a voice as cold as polished marble. ‘You will not hold me from it‘“.


Tolle Sammlung ohne finale Veredlung


Bei all dem Lob am grundsätzlichen Spieldesign, gab es schon immer einige offene Wünsche, die auch in dieser Sammlung nicht erfüllt werden: Das Inventar besteht z.B. nur aus Schrift, so dass man sich Artefakte oder Waffen nicht als Objekte ansehen kann.


Es gibt leider keine Objekte zum Ansehen.

Diese Umsetzung für Konsolen ist gelungen, was das Schriftbild und den Lesespaß betrifft, aber die Abmischung der Soundeffekte ist nicht ideal, wenn man z.B. zwischen Geschichte und Zaubern wechselt. Und man merkt ihr die mobilen Wurzeln immer noch an, denn die Karten sind zwar auch im Zoom noch ansehnlich, aber nicht optimal aufgelöst.


Fazit


Die Inkle Studios (80 Days, Heaven's Vault) gehören seit Sorcery! zu meinen Lieblingsstudios. Die Briten haben der klassischen Fighting Fantasy von Steve Jackson neues Leben eingehaucht, indem sie das Lese- und Spielgefühl der Abenteuerbücher kreativ modernisiert haben. Jetzt ist die Sammlung erstmals mit allen vier Teilen für Konsolen erhältlich. Zwar hätte ich mir zu diesem Anlass noch mehr Ergänzungen und technische Verbesserungen gewünscht, aber ich habe den ersten Teil auf der PlayStation 5 in einer Sitzung durchgespielt und befinde mich gerade tief im Labyrinth von Kharé, der gefährlichen Stadt der Diebe. Das Abenteuer beginnt recht stereotyp, aber ab dem zweiten Teil wird es erzählerisch besser, im dritten läuft es dann zur Hochform auf. Steve Jackson kann es vielleicht nicht mit den großen Autoren aufnehmen, aber seine exotische Fantasy entwickelt eine ganz eigene Anziehungskraft: Er hat in den 80ern auf frische Art erzählt, seine Welt wirkt manchmal bizarr und verspielt. Aber das Abenteuer an sich ist kreativer, zauberhafter und überraschender als so einiges, was einem später in konventionellen Kampagnen von D&D bis DSA aufgetischt wurde. Es gibt absurd tolle Situationen und spät wirksame Konsequenzen, die mich als Rollenspieler einfach sehr gut unterhalten. Und in keiner digitalen Umsetzung eines Abenteuer-Spielbuchs wurde Text als zentrales Stilmittel so exzellent eingesetzt wie hier. Nur deshalb entsteht dieses edle Schmökerflair, das aus der Analand Saga einen Schatz für anspruchsvolle Fantasyfans macht. Ich werde jedenfalls erneut versuchen, die Krone des Königs zu retten. (Bilder: Steve Jackson's Sorcery! The Complete Collection, PS4/5, XBS, SW, Inkle Studios)


PS: Das Abenteuer-Spielbuch Sorcery erschien seit 1986 als vierteilige Analand-Saga auf Deutsch, übersetzt von Irene Hess im Thienemann-Verlag. Hier eine Übersicht der heute nur noch gebraucht erhältlichen Klassiker:

Analand-Saga 1: Der Abenteurer aus Analand (Sorcery Epic I: The Shamutanti Hills)

Analand-Saga 2: Die Fallen von Kharé (Sorcery Epic II: Khare – Cityport of Traps)

Analand-Saga 3: Die sieben Schlangen (Sorcery Epic III: The seven Serpents)

Analand-Saga 4: Die Krone der Könige (Sorcery Epic IV: Crown of Kings) Seit 2019 gibt es eine weitere, ebenfalls vierteilige deutsche Version der Saga im Mantikore-Verlag; der erste Band heißt SORCERY! Die Shamutanti-Hügel.




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