Rezension: Chants of Sennaar (PC, PS4/5, XBS, SW)
Ich liebe Spiele wie Heaven's Vault (2019) von den Inkle Studios, in denen Sprache zur Rätselkultur gehört. Vielleicht haben Videospiele auch deshalb dazu beigetragen, dass ich irgendwann mal Skandinavistik studieren wollte, weil ich schon vor dem C64, dem Amiga regelmäßig aus dem Englischen übersetzen musste. Ein textlastiges Adventure oder Rollenspiel konnte man ohne Wörterbuch gar nicht richtig zocken. Und genau das muss man in Chants of Sennaar selbst erstellen, wenn man die Geheimnisse einer streng hierarchischen Welt lüften will. Das Spiel wurde von Rundisc in Toulouse entwickelt, ins Deutsche übersetzt und kostet knapp 20 Euro.
Sprache als Schlüssel
Man beginnt das Spiel als gesichtslose Kapuzengestalt vor einem verschlossenen Tor. Was man hier tun muss, ist angesichts des Hebels sofort ersichtlich. Daneben gibt es ein Schild, auf dem Symbole eingezeichnet sind. Eines muss so etwas wie "Auf" oder "Öffnen" und das andere "Zu" oder "Schließen" bedeuten. Wenn man jetzt das Wörterbuch aufschlägt, wird das jeweilige Symbol dort eingetragen, so dass man es auswählen und seine Übersetzung per Text eingeben kann. Daraufhin sind Symbol und Beschreibung verbunden. Immer wenn man es später irgendwo sieht, erscheint kursiv der eigene Text dazu.

Ob der überhaupt stimmt, ist allerdings eine andere Frage, die bald geklärt wird. Aber für das Öffnen dieser Tür oder andere Mechaniken wie etwa Aufzüge ist das auch später nicht wichtig. Also geht man hindurch und kommt in den nächsten Raum, eine Art Kanalisation mit Wasserläufen und Sperrgattern. Dort begegnet man erstmals einer anderen Gestalt in einem Gewand, die einen begrüßt. Zumindest klingt es so, denn man versteht keines der in einem akustischen Gebrabbel zusammen gefassten Worte. Aber all die neuen Symbole in den Sprechblasen kann man in seinen Notizen öffnen, um sie zu benennen.
Was bedeutet wohl das erste Wort? So etwas wie "Hallo"? Manchmal hilft die Gestik bei der Übersetzung, wenn man ein "Folge mir" oder "Geh dorthin" an den Armbewegungen zu erkennen glaubt. Anscheinend hat die Gestalt hier z.B. ein Problem, denn sie steckt zwischen den Kanälen fest. Also gilt es die Hebel in der richtigen Reihenfolge einzusetzen, damit an den passenden Stellen das Wasser abläuft und ein Weg zum Ausgang frei wird. An den Zwischenstationen gibt es wieder etwas Smalltalk mit ihr, so dass sich durch sprachliche Wiederholungen einige Vermutungen zu Symbolen verstärken.

Chants of Sennaar geht hier fast pädagogisch vor und belohnt den Spieler später mit einem Vokabeltest: Im Notizbuch befinden sich nicht nur sofort die Symbole und Texte, sondern in Intervallen auch mehrseitige Zeichnungen, wie etwa die Szene eines per Dietrich geöffneten Schlosses, ein Mann mit zum Gruß erhobener Hand oder ein Kistenträger; daneben befindet sich jeweils ein Platz für ein bisher gefundenes Symbol. Wenn man sie alle auf einer Doppelseite des Notizbuchs richtig einträgt, werden sie mit der gegebenenfalls angepassten sowie korrekten Übersetzung in den Wortschatz übertragen und daraufhin fett markiert, sobald man wieder auf sie trifft.
Orientalische Stadtkulisse
Das ist also mehr ein Symbol- als ein Vokabeltest, denn man muss letztlich keinen Text mit korrekten Buchstaben eintragen, sondern kann einfach raten. Aber bei vier freien Stellen kann das länger dauern und da hilft es, wenn man die Zeichnungen logisch mit seinen bisherigen Übersetzungen verbinden kann. Jedenfalls tappt man immer wieder im Dunkeln, was die Bedeutungen angeht. Und noch weiß man ja gar nicht, wo man hier eigentlich in schräger Draufsicht unterwegs ist. Und was das alles soll, ob dieses Spiel eher eine Ansammlung von Worträtseln oder doch ein rätselhaftes Abenteuer ist. Erst wenn man aus der Kanalisation heraus kommt, öffnet sich die weitgehend stille Welt von Chants of Sennaar.

Und hier zeigt sich, dass es sich neben The Witness, The Talos Principle und all jene einreiht, die sowohl ein Puzzle-Adventure als auch eine Story inszenieren wollen. Während man nur seine Schritte tapsen und den Wind flüstern hört, wandert man angenehm geschwind durch die Gassen einer monumentalen Stadt. Die ebenso antik wie orientalisch anmutende Kulisse wirkt mit ihren klaren Linien und Schattenwürfen fast wie eine architektonische Designstudie. Im Kontrast dazu stehen zwar die strahlenden Safrantöne, die warmen Farben sowie leicht bewegte Pflanzen, die für mediterranes Flair sorgen. Aber man trifft zunächst keine weiteren Menschen, alles wirkt recht leblos.

Dafür erblickt man an einer Promenade große Wandbilder, die anscheinend die Geschichte dieser Welt erzählen. Man erkennt mythische Szenen mit figürliche Gestalten, die unterschiedliche Hüte tragen und der Sonne zu einem Turm folgen. Sie sind ebenfalls in der Symbolsprache untertitelt, aber teilweise unvollständig. Hier kann man sich zunächst keinen Reim drauf machen, aber es braucht nicht viel religionshistorische Phantasie, um im umgedrehten Kreuz einer Raute, das hoch am Himmel dargestellt wird, so etwas wie einen Gott zu erkennen. Und in den Gestalten, die ihm mit erhobenen Händen irgendwann huldigen vielleicht die Erleuchteten oder Jünger.
Strenge Gesellschaft
Spätestens wenn man eine Ecke später auf einem großen Platz auf eine Gruppe genau dieser Gestalten trifft, die von Kriegern mit Waffen vor einem Tor aufgehalten werden, fühlt man sich wie in einer Art von streng hierarchischem Babylon. Vor allem wenn man die Wachen anspricht und recht schroff in einer zweiten Symbolsprache zurechtgewiesen wird. Öffnet man jetzt sein Wörterbuch, gibt es dort ein weiteres Kapitel, so dass neben den bekannten weißen jetzt auch schwarze Symbole mit ganz anderen Schriftzeichen auftauchen.

Hier gibt es also einen Konflikt oder zumindest eine strenge Hierachrchie zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen, die sogar andere Sprachen sprechen. Allerdings ist das kein narratives Abenteuer wie Heaven's Vault mit Nebencharakteren und Questsübersicht, man kann auch nicht in Multiple-Choice-Dialoge direkter mit den Leuten sprechen, um ihre Lage zu verstehen. Trotzdem weiß man irgendwann, anhand seiner Vokabeln sowie der sichtbaren Situationen, welche Probleme sie haben, dass z.B. die Pflanzen im Garten verdorren oder jemand vermisst wird.
Alles das wird zwar sehr statisch inszeniert und so einiges erinnert an klassische Point&Click-Adventure. Man läuft selbst aktiv, erlebt aber keine lebendige Stadt mit flanierenden Bewohnern und Ereignissen, sondern bewegt sich von Szene zu Szene, von Ort zu Ort. Manchmal stößt man dort auf Schieberätsel, wenn man etwa Betten so bewegen muss, dass man an ein Vogelnest gelangt, um mit der Münze darin dem Bettler vor der Kirche zu helfen. Es geht nicht nur um Sprachrätsel, sondern auch um diverse Logikaufgaben.

Und es gibt angenehme Auflockerungen, wenn etwa ein Junge plötzlich Verstecken spielen will und einen so zu Geheimgängen führt. Richtig überrascht war ich von der flott inszenierten Stealth-Action, in die er einführt und die später in der Welt der Krieger sogar zentraler Bestandteil ist. Flott deshalb, weil man über klare Symbole wie graue Silhouetten sowie interaktive Objekte wie eine Glocke sofort erkennt, wo man sich verstecken und wie man Wachen ablenken kann. Also studiert man die Laufwege und flitzt rechtzeitig los.
Futuristische Brüche
Man muss sich also vorwärts rätseln, Ort für Ort, wobei man sich alle Sprechszenen wie etwa das Spiel mit dem Jungen, nochmal anschauen kann, indem man silbrig glänzende Vergangenheitspunkte reaktiviert. Diese futuristisch wirkenden Fremdkörper erinnern fast ein wenig an Assassin's Creed, und sie zerstören auch hier die Illusion einer in sich abgeschlossenen Welt. Aber genau wie bei Ubisoft gehört diese Ebene hinter dem Vorhang zum Rätseldesign.

Denn man entdeckt bald weitere, spielerisch und erzählerisch wesentlich interessantere Brüche, wenn man in einer Gasse plötzlich auf eine Art Spielautomat trifft, auf dem ein wildes Pong läuft und den man irgendwie so bedienen kann, dass man komische Gestalten sieht. Das war ein toller Moment, denn hier wurde ich so richtig neugierig und wollte unbedingt wissen, was die Typen auf dem Bildschirm mir sagen wollen. Als ich dann zumindest eine nützliche Funktion herausfand, als ich den zweiten und dritten Automaten fand, war die Feude groß.
Gerade bei diesen mysteriösen Hintergründen hilft der langsam wachsende Wortschatz. Aber keine Bange, die erste Sprache besteht z.B. nicht etwa aus hundert, sondern lediglich 34 Zeichen. Und danach entwickelt man eine gewisse Routine. Allerdings irrt man trotz der Teleporter schonmal umher, es gibt lediglich anzeigbare Interaktionspunkte und keinerlei Hinweissystem für Rätsel. Außerdem kann sich Chants of Sennaar manchmal monoton anfühlen, denn die monumentalen Kulissen ändern zwar je nach Region ihre Ausstrahlung sowie spielerischen Ansprüche, aber man kann bis auf wenige Schlüsselgegenstände (die man im Inventar genauer begutachten kann) und Rätselsituationen wenig in den Gassen entdecken. Aber dafür lüftet man schließlich das Geheimnis dieser Kultur.

Fazit
Chants of Sennaar hat mich sofort neugierig gemacht und über knapp neun Stunden richtig gut unterhalten. Zwar erreicht es mit seinen Sprachrätseln nicht die Faszination von Heaven's Vault, das darin noch eleganter war und als archäologisch futuristisches Abenteuer mehr Kommunikation sowie Erkundungsreize zu bieten hatte. Aber wer Puzzle-Adventure mag, die im Stile von The Witness oder The Talos Principle nicht nur kreatives Knobeln, sondern auch eine mysteriöse Geschichte inszenieren wollen, der dürfte sich in der Rolle der Kapuzengestalt wohl fühlen. Die Spielwelt inszeniert eine streng hierarchische, antik anmutende Gesellschaft, deren Regeln und Probleme man schrittweise entschlüsselt. Zwar wirkt so manches statisch, es gibt monotone Phasen, aber das architektonisch und farblich klare Artdesign der Franzosen hat mir ebenso gefallen wie die überraschende Vielfalt der Interaktionen. Denn man dechiffriert nicht nur mehrere Symbolsprachen, sondern rätselt auch wie in klassischen Adventures mit Gegenständen und erlebt sogar Stealth-Action light. Und spätestens als ich zwischen all diesen religionshistorischen Bezügen vor einem seltsamen Arcade-Automaten stand, in dem jemand um Hilfe bat, wollte ich das Geheimnis dieser Welt lüften.
(Bildquelle: Chants of Sennaar, PS5, eigene Aufnahmen)