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Vertiefung: Von Röde Orm bis Wickie - ein Bild der Wikinger


Geschichte passiert nicht nur jeden Tag - sie wird auch gemacht. Nicht nur von Historikern oder Archäologen, die aus ihren Quellen folgern und Thesen über die Vergangenheit aufstellen, oder von Journalisten, die Dokumentationen und Nachrichten produzieren. Auch die Unterhaltungskultur gehörte schon immer dazu, eigentlich schon seit Homer. In der modernen Gegenwart können Bücher, Filme, Serien und Spiele sehr einflussreiche Erzähler der Geschichte sein, die das Bild einer Epoche oder Kultur manchmal stärker prägen als die Schulbildung.



Selbst wenn die Fiktion darin offensichtlich ist, selbst wenn man sich auf jeder Seite oder in jedem Level bewusst ist, dass es hier um Abenteuer oder Schauspiel geht, sickern die Archetypen, Motive und Szenen ein und lassen ein Bild entstehen. Unbewusst formt sich eine Welt des Vergangenen, entstehen Fragen und Erkenntnisse, Anziehung oder Abneigungen. Je ferner oder exotischer die Epoche ist, desto mehr reizt sie die Fantasie. Zwar ist das Objektive das Maß der Wissenschaft, aber letztlich haben auch berühmte Historiker alter Schule wie Jacob Burckhardt (1818 - 1897) oder Theodor Mommsen (1817 - 1903) ihre Erkenntnisse subjektiv angereichert. Nur so konnte in ihren Werken ein anschauliches Geschichtsbild entstehen, das die Vorstellung anregt.

Das Bild der Wikinger

Tja, mich haben die Wikinger und Germanen neben den Kelten schon immer neugieriger gemacht als die Römer oder Griechen. Aber als ich anfing zu studieren, wusste ich nicht mehr als das, was ich über Film, Fernsehen, Bücher und Comics so aufgeschnappt hatte. Im ersten Semester der Skandinavistik ahnte ich noch nichts von den vielfältigen Bezügen, die sich hinter den Sprachen, Kulturen und Geschichten des Nordens verbergen. Da saß ich Mitte der 90er in einem Seminar namens "Einführung in die Altskandinavistik" zusammen mit all den anderen Studenten und wir waren gespannt, ob es gleich direkt mit Runen oder der Edda losgeht.


Wickie und die starken Männer, Szene aus der Zeichentrickserie, ZDF.

Aber wir sprachen zunächst darüber, was uns an diesem Fach eigentlich interessiert und welches Bild wir von Germanen, Wikingern oder ihren Göttern haben. Und woher es stammt. Niemand nannte übrigens seine Schule, kaum jemand seine Eltern oder Bekannte, manche vielleicht Filme oder Spiele, einige den Herrn der Ringe von J.R.R. Tolkien, der damals übrigens noch nicht von Peter Jackson verfilmt war. Es wäre eine eigene Vertiefung wert, all die direkten Einflüsse der alten Heldenlieder und Sagas auf den Fantasyroman des Oxforder Professors aufzuzeigen.

Die starken Männer aus Flake

Jedenfalls war es recht amüsant, dass die meisten Studenten nach etwas zögerlichem Beginn tatsächlich die Zeichentrickserie "Wickie und die starken Männer" erwähnten. Mich eingeschlossen, denn ich hab die Serie als Kind verschlungen. Plötzlich sprachen wir also in einem wissenschaftlichen Seminar über eine Kinderserie, über Halvar, Ulme, Ylvi und Faxe, über ihre anachronistischen Hörnerhelme und was an der Serie vielleicht doch irgendwie authentisch war.


Gab es Drachenköpfe an den Schiffen? Hatten Skalden eine Harfe? Waren die Frauen wirklich so dominant? Und war "Der schreckliche Sven" eine Anspielung auf den schwedischen König Sven Gabelbart? Es ging mit Hypothesen wild hin und her, bis uns die sichtlich amüsierte Professorin empfahl, ein bestimmtes Buch zu lesen. Das stand nicht auf der Literaturliste, es war also keine Pflichtlektüre wie die Lieder der Edda, die Heimskringla oder die Egils Saga. Aber sie meinte, das Buch wäre eine gute Grundlage, zumal es als Primärquelle direkt zu Wickie führen und zeigen würde, wie sich Geschichtsbilder formen.

Die Abenteuer des Röde Orm


Frans G. Bengtsson (1894-1954), gemeinfrei.

Es handelte sich um "Die Abenteuer des Röde Orm" von Frans G. Bengtsson (1894-1954). Der Roman erschien ab 1941 in Schweden und wurde 1951 zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Wer ihn von uns gelesen hatte? Niemand. Der Titel klang für die meisten wie ein Fantasyroman oder eine Kampagne aus RuneQuest - ein Pen&Paper-Rollenspiel, das damals einige von uns spielten. Jedenfalls lernten wir am ersten Unitag ganz beiläufig auch die erste Übersetzung, denn Röde bedeutet der Rote und Orm ist die Schlange bzw. der Wurm, der wiederum oft mit einem Drachen gleichgesetzt wurde.


Also ging es um die Abenteuer des roten Drachen? Oder eher jene des roten Wurms? Je nachdem wie man das übersetzt, kann der Titel eher heroisch oder unfreiwillig komisch klingen. Und genau in diesem Spannungsverhältnis bewegt sich auch der Roman. Der Held dieses Abenteuers ist zunächst weder ein strahlender Siegfried noch ein blutrünstiger Berserker, sondern ein rothaariger Bauernjunge. Er stammt nicht von großen Königen wie Harald Schönhaar oder gar einem Gott wie Odin ab. Er ist nicht besonders stark und gerät durch das Schicksal auf eine große Fahrt in die weite Welt der Seeräuber, Krieger und Könige, wo er sich einen Namen als Krieger macht. Wer die Zeichentrickfigur Wickie kennt, sieht sie jetzt vielleicht schon vor sich - sie ist quasi die gewaltfreie, auf den Verstand reduzierte Comicvariante des Röde Orm.

Ein nordischer Spiegel

Ähnlich wie Barbara Tuchmann im Roman "Der Ferne Spiegel" das Spätmittelalter in all seiner Kultur lebendig werden lässt, gelingt Bengtsson das Kunststück für das nordische Mittelalter. Vieles darin kann man durchaus authentisch oder historisch nennen, man lernt tatsächlich etwas über Begriffe, Personen und Vorgänge aus der Zeit von Harald Blauzahn (910-985): Darunter das Thing als Ratsversammlung, das Danegeld als Lösegeldzahlung, die berühmte Schlacht von Maldon (991), die Jomswikinger als Söldnerkompanie der Ostsee, angelsächsische und irische Könige, der Friedensschild als Symbol oder die Phasen der Bekehrung.


Die Abenteuer des Röde Orm, dtv, 1994, eigene Aufnahme.

Es steckt also viel historische Recherche darin, die sich auch auf das Alltägliche bezog - also worüber die Wikinger staunten, sich ärgerten oder freuten. Aber das Besondere war die Sprache: Bengtsson gelang das Kunststück, eine unterhaltsame Geschichte im Stil der Sagas zu erzählen. Er ahmte quasi eine mittelalterliche Erzählweise nach, ohne dabei komplett in altmodische Sprachmuster zu verfallen. So entstand trotz der Distanz eine Nähe zum modernen Leser. Ich habe mir 1995 die Ausgabe von dtv in der Übersetzung von Elsa Carlberg gekauft, die auch heute noch zu empfehlen ist - in der Hörvariante lese ich an dieser und anderer Stelle einige längere Passagen daraus vor.


Die Beschreibungen mögen distanziert klingen, aber gerade deshalb fühlt man sich als Leser fast wie ein objektiver Beobachter. Bengtsson konzentriert sich ähnlich wie die alten Sagaschreiber auf die Ereignisse anstatt die Innensicht oder Gefühle der Charaktere. So ergeben sich ohne viele Adjektive oder innere Monologe zwar nüchtern anmutende, aber nichtsdestotrotz eindringliche Szenen, die trotz der beschriebenen Gewalt sehr lustig wirken konnten:

"Als ich betrunken zum Abtritt ging und dort einschlief, wie das auf großen Festen schon manchem ergangen ist, wurde ich von zwei Männern mit Speern gestochen. Ich fuhr hoch und meinte, des Todes zu sein. Da gelobte ich: weder an Bier noch an eine Frau zu rühren, bevor ich nicht die beiden zur Strecke gebracht hätte..."

Dieses Augenzwinkern, das in der Zeichentrickserie Wickie noch verstärkt wurde, war natürlich gewollt. Der Bauernsohn Orm entwickelt sich auf dieser langen Reise, die ihn von der Ost- und Nordsee ins Mittelmeer führt: Er lernt Irland, England, Spanien und Byzanz kennen, er kämpft, plündert, gerät in Gefangenschaft und heiratet. Der Leser begleitet ihn auf seiner Heldenreise durch ganz Europa und lernt nebenbei berühmte Könige und historische Prozesse wie die Bekehrung kennen - dabei geht es auch um die Reaktionen der einfachen Leute, die sich einfach nicht vorstellen können, warum man Thor oder Odin verlassen könnte. Bengtsson war damit jedenfalls so erfolgreich, dass sein Buch das Bild der Wikinger in der Nachkriegszeit prägen und andere Autoren inspirieren konnte.

Wickie und die starken Männer


Vicke Viking, Runer Jonsson, 1963.

Es gab allerdings noch einen wichtigen Schritt, der schließlich zur Zeichentrickserie führte: 1963 entstand das mehrteilige Kinderbuch "Vicke Viking", hierzulande "Wickie und die starken Männer", von Runer Jonsson. Der schwedische Journalist wurde direkt von Bengtsson inspiriert und machte aus dem Roman mit den Zeichnungen des Kabarettisten Ewert Karlsson quasi eine Geschichte zum Vorlesen für seinen Sohn, wobei er nahezu alle kriegerischen Aspekte des Helden Orm ersetzte. Es geht auch um einen Jungen (auf den Covern blond statt rothaarig), der um die Welt segelt, aber er ist kein Haudrauf wider Willen, sondern löst die Probleme mit seinem Verstand. Ein Jahr später wurde es ins Deutsche übersetzt, konnte einige Preise gewinnen und wurde als Hörspiel konzipiert.

Schließlich wurde es dann im Auftrag vom ZDF in Japan als Anime produziert, die ab 1974 in Deutschland lief. Und so legten die Drachenboote aus Flake mit dem markanten Song "Hey, hey Wickie! Hey, Wickie, hey!" ab. In Japan lief ein anderes Titellied, denn es wurde extra für Deutschland von Christian Bruhn und Karel Svoboda komponiert, der Text stammte von Andrea Wagner - was ich nicht wusste war, dass die späteren Bläck Fööss ihn eingesungen hatten. Die Einschaltquoten waren so gut und der kleine Wikinger wurde über 78 Folgen so populär, das danach andere berühmte Serien wie Heidi, Biene Maja, Pinnochio, Sindbad oder Captain Future folgten. Auch sie haben mit ihren Motiven und Geschichten das Bild von Helden, Abenteuern und Werten der Jugend der 70er und 80er geprägt - sie alle vermitteln eine bestimmte Art von Gerechtigkeit und Moral, von Frauen und Männern.

Ein Held für Kinder

Dass aber gerade Wickie über zwei Jahrzehnte begeistern konnte, lag vermutlich weniger am historischen Thema der Wikinger, als vielmehr an seinem Charakter: jeder konnte sich in ihm wiederfinden, egal ob Junge oder Mädchen. Er war nicht nur neugierig und schlau, sondern zeigte auch ganz offen seine Angst. Die Welt konnte aber noch so schrecklich sein, mit Mut und Kreativität ließ sich alles bewältigen. Ich erinnere mich noch, dass wir die Frage der Hörnerhelme im Kurs eindeutiger beantworten konnten als jene, ob Wickie eigentlich ein Junge oder ein Mädchen sei? Laut Text war er zwar ein Junge, aber Ewert Karlsson orientierte sich nach eigenen Angaben am Aussehen seiner Tochter.

Heutzutage prägen TV-Serien wie Vikings, The Last Kingdom oder Valhalla, Videospiele wie God of War oder Assassin's Creed das Bild der Wikinger. Aber auch Brettspiele vermitteln Geschichtsbilder - fünf davon habe ich in einer Erkundung vorgestellt. Dieses Jahr erscheint ja auch God of War: Ragnarök für die PlayStation. Schon der Vorgänger hat sich überraschend intensiv mit den nordischen Sagen und Göttern auseinander gesetzt. Ich plane für Abonnenten eine ausführliche Podcast-Reihe über die altnordische Mythologie in mehreren Teilen.

Ich hoffe, euch hat diese Vertiefung gefallen und würde mich sehr freuen, wenn ihr mich weiter unterstützt und dem einen oder anderen vielleicht von Spielvertiefung erzählt.

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