Rezension: Eriksholm: The Stolen Dream (PC, PS5, XBS)
- Jörg Luibl

- 17. Juli
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Okt.
Die Grenzen zwischen dem, was Triple-A-Studios mit hunderten Angestellten und kleine Teams visualisieren können, verschwimmen aufgrund leistungsfähiger Grafik-Engines immer mehr. Ähnlich wie Clair Obscur: Expedition 33 konnte Eriksholm: The Stolen Dream schon im Vorfeld mit filmreifen Szenen überraschen, in denen verblüffend lebensechte Charaktere auftreten. Aber können die schwedischen Entwickler von River End Games neben der Unreal Engine 5 auch die isometrische Echtzeit-Taktik meistern?
Schleichen mit Tradition
Immerhin ist Eriksholm die Premiere für das 2020 gegründete Studio aus Göteborg, an der nicht mal zwanzig Leute mitgewirkt haben. Und es ist ein Spiel in einem Subgenre, das ich zwar sehr mag, aber das weder so lukrativ noch so attraktiv wie jenes der Rollenspiele, Action-Adventure oder Shooter ist. Trotzdem hat das Schleichen und Taktieren in Echtzeit eine lange Tradition. Was mal mit Commandos im Jahr 1998 bei den spanischen Pyro Studios begann, wurde von deutschen Studios wie Spellbound und Mimimi Games in Desperados, Robin Hood, Shadow Tactics und Shadow Gambit weiter geprägt.
Beide Teams sind mittlerweile leider Geschichte. Aber ich bin froh, dass weiter in diesem Subgenre designt wird, das mich mit dem schrägen Blick von oben an Brettspiele erinnert. Erst letztes Jahr konnte man auf PC und Konsolen in The Stone of Madness ein spanisches Kloster des 18. Jahrhunderts erkunden, das noch in meinem Schleppnetz auf eine Besprechung wartet. Und kürzlich wurde der militärische Pionier in Commandos: Origins fortgesetzt, das mich rund um den Green Beret Jack O'Hara solide im Zweiten Weltkrieg unterhalten konnte - die Kurzkritik dazu findet ihr in der Breitseite #20.
Skandinavische Gemütlichkeit
Und genau in dieser Nische, in der es eher langsam und distanziert zugeht, hat es sich das Team rund um Creative Director Anders Hejdenberg mit reichlich Expertise fast schon heimatlich gemütlich gemacht. Bei River End Games arbeiten vor allem schwedische Spieldesigner, die zuvor für große Publisher wie Electronic Arts, Bandai Namco, Capcom & Co an Titeln wie Mirror's Edge, Battlefield 2: Modern Combat oder Bionic Commando beteiligt waren.
Wenn man die noch viel längere Liste der Titel durchstöbert, findet man zwar keine Echtzeit-Taktik in der Art, wie sie Eriksholm darstellt, aber einige Spiele wie Unravel 2 oder Little Nightmares, die zumindest das Grübeln in stimmungsvoller Kulisse inszenierten. Und damit nähern sich manche digitalen Spiele fast einem skandinavisch gemütlichen Lebensgefühl. Auch wenn diese beiden Spiele wenig miteinander zu tun haben, ging es mir so ähnlich in Bramble: The Mountain King von den Dimfrost Studios aus Norrköping.

Im Gegensatz zu Dänen und Norwegern, die den Begriff "hyggelig" für ihre entspannte Gemütlichkeit verwenden, spricht man übrigens in Schweden von "mysig". Und Eriksholm sorgt mit seinen warmen gedeckten Farben von Ochsenblut bis Bauernblau ebenfalls für diese behagliche Atmosphäre. Fast so, als würde man sich mit einem Seufzer auf der Couch einer Ferienhütte zurücklehnen, während ein Feuer im Kamin knistert und draußen das Meer rauscht.
Andererseits spürt man auch viktorianisch-britisches Flair, zumal die englische Sprachausgabe mit ihrem starken Cockney-Akzent sofort an London samt Oliver Twist erinnert. Sie klingt nicht nur sehr gut, die Dialoge wirken vom belanglosen Smalltalk bis zum hitzigen Streit angenehm natürlich und wurden sauber ins Deutsche übersetzt.
Maritimes Miniaturwunderland
Auf jeden Fall gehören die Präsentation und diese malerische Stimmung zum Besten, was ich bisher in diesem Genre gesehen habe. Ich ließ die Kamera oft ganz langsam über diese wunderbar designte Stadt mit all ihren kleinen und große Sehenswürdigkeiten streifen, drehte sie mal hier, mal da um eine bebilderte Fassade herum oder in eine Nische mit Seerosen hinein. Eriksholm wirkt mit seinen bunt gestrichenen Häusern, glitzernden Kanälen, Schienen und Booten so einladend, dass man am liebsten noch viel weiter von schräg oben in dieses Miniaturwunderland hinein zoomen würde.

Als Rollenspieler bekam ich sofort Lust auf ein Abenteuer in diesen verwinkelten Gassen. Wer Hafenstädte mit Speichern, Kränen und Segelschiffen mag, wird sich in diesem maritimen Panorama sicher gerne umsehen. Die historische Architektur orientiert sich an Vorbildern wie Stockholm oder Göteborg um 1900. Gebäude und Kleidung erinnern an Romane von Charles Dickens und den Historismus, der vom Rückgriff auf Stile vergangener Epochen sowie dem Aufschwung der Industrie geprägt war. Und die Story rund um das kleinkriminelle Geschwisterpaar Hanna und Herman, das im Einstieg getrennt wird, streift auch einige soziale Probleme.
Filmflair und Storyköder
Dass die Moderne und mit ihr einige Veränderungen nahen, erkennt man nicht nur an den Baugerüsten, Strommasten und Autombilen, an Fabriken mit schwarzem Rauch und großflächiger Werbung samt Plakaten von Politikern. Als Hanna zu Beginn vor einem Polizisten flieht, der auf der Suche nach ihrem Bruder in ihre armselige Wohnung poltert und sie dort bedroht, wird auch der gesellschaftliche Konflikt skizziert, der zwischen Arm und Reich, Untertanen und Obrigkeit unter der friedlich anmutenden Idylle schwelt.
Und genau diese Filmszene sorgte für das oben erwähnte Staunen. Denn das aus der Unreal Engine 5 stammende Werkzeug namens MetaHumans ist so stark, dass man fast fotorealistische Menschen samt Animationen darstellen kann - ein erstes prominentes Beispiel dafür war schon letztes Jahr Hellblade 2: Senua's Sacrifice. Für individuelle Bewegungsabläufe und eine derart ausdrucksstarke Mimik muss man immer noch mit klassischem Motion Capturing im Studio nachhelfen, aber die Ergebnisse sind beeindruckend und dürften in den nächsten Jahren zum visuellen Standard werden.

Allerdings kann die Geschichte da nicht ganz mithalten, die viel narratives Ambiente, aber kaum spannende Hintergründe und erst spät etwas dramatische Würze bietet. Sie dreht sich zunächst um zwei Fragen: Wohin ist Herman verschwunden? Und warum wird er überhaupt gesucht? Zwar erfährt man im Laufe der Kapitel etwas über Hannas und Hermans kleinkriminelle Vergangenheit in Diensten von Alva. Und die schwierige Beziehung zwischen ihr und Hanna wird in Streits überzeugend ausgetragen.
Aber man folgt recht lange dem Köder der beiden Fragen, ohne dass man mehr erfährt. Hinzu kommen lediglich die innenpolitischen Spannungen zwischen Bürgermeister, Baron & Co sowie eine außenpolitische Komponente mit einem drohenden Krieg. So richtig in Schwung kommt die Story selbst nach einer unerwarteten Wendung nicht und sie mündet nach etwa zehn Stunden in ein eher gediegenes Finale.
Schleichen und Taktieren
Es geht auf dem Weg dorthin weder um Kampf noch die Entwicklung eines Charakters, denn man gewinnt keine Erfahrungspunkte und schaltet keinerlei Talente frei. Hanna selbst sieht aus wie eine animierte Spielzeugfigur, die man durch das Panorama einer Tabletop-Stadt bewegt. Selbst wenn man ganz nah heran zoomt, kann man ihr Gesicht kaum erkennen. Aber dafür zig mehrstöckige Gebäude mit Planken über Abgründen sowie Hinterhöfe mit Leitern und schmalen Durchgängen, so dass das Herumstromern umgehend Laune macht. Nur ist das kein Spielplatz zum akrobatischen Austoben.
Denn das Erkunden ist nicht ganz so frei wie man sich das manchmal wünschen würde. Hanna kann sich nur an bestimmten Stellen hinauf ziehen oder runter springen, obwohl die Kulisse durchaus andere mögliche Wege darstellt. Zwar gibt es Abzweigungen, die aber meist zu sammelbaren Notizen führen. Die sind sehr ansehnlich illustriert und schön ist, dass man über all die Briefe, Postkarten & Co mehr über das Leben der Arbeiter, die Rolle des Bürgermeisters oder die Herzpocken erfährt, zumal Hanna einige von ihnen kommentiert.

So bekommt man einen Einblick in das gesellschaftliche Milieu, der von vielen kleinen Dialogen, denen man lauschen kann, noch verstärkt wird. Aber diese erzählerischen Schnipsel aus dem Alltag von Eriksholm werden nicht spielerisch verwoben, etwa in taktischen Hinweisen oder kleinen Rätseln. Man findet auch keine Gegenstände, die man kombinieren könnte und im Inventar werden lediglich die Notizen bzw. Fundstücke gesammelt, von denen in jedem Kapitel eine bestimmte Anzahl versteckt ist. Zwar mag ich das reduzierte Spieldesign sehr, aber hier hätte man eine kreativere Verbindung zwischen Erkundung und Sammelei schaffen können.
Einfache Steuerung, reduzierte Oberfläche
Viel beachten muss man hinsichtlich der präzisen und klaren Steuerung zunächst nicht. Hanna kann neben dem Spazieren lediglich auf Knopfdruck rennen, was allerdings für Lärm sorgt. Und sie geht automatisch in die Hocke, wenn Wachen oder Banditen in der Nähe sind. Außerdem kann sie durch Fenster schauen, bevor sie in ein Gebäude geht, um nicht böse überrascht zu werden. Sehr angenehm ist die meist freie Sicht ohne störende Symbole oder zig grafische Einblendungen, denn die gibt es erst kontextsensitiv - ist man zu laut, erscheint z.B. ein dezent weißes Ohrsymbol, das sich langsam füllt.
Zwar erkennt man an einer farbigen Umrandung, ob man im Schatten ist oder wo man interagieren kann, um z.B. Tauben aufzuscheuchen oder eine Leiter zu erklimmen. Apropos: Da braucht man allerdings Geduld, denn man ist recht langsam und kann nicht schneller herunter rutschen, was ich mir später immer öfter gewünscht hätte. Aber es gibt keine eingeblendeten Aktionssymbole oder permanente Sichtkegel. Erst wenn Wachen einen erspähen, rast eine gestrichelte Linie heran und man muss schnell in Deckung huschen. So entsteht eine Anspannung bis kurz vor dem Alarm, der hier übrigens sofort für ein Game Over sorgt.

Sprich: Es gibt keine optionale Flucht samt anschließender Suche und Beruhigung der Lage. Das gilt auch für entdeckte bewusstlose Körper, wenn man ganz woanders außer Sichtweite in Deckung hockt. Man sollte sie also an einen möglichst uneinsehbaren Ort schleppen, so lange noch Wachen herum laufen. Überhaupt geht es um Beobachtung und natürliches Timing: Man studiert die Laufwege der Wachen, lockt sie mit den Tauben in eine Richtung, sucht sich Deckung, springt hinab oder klettert über einen Zaun.
Ab und zu gibt es schmale Schächte, die in ein Gebäude führen, wo all das auf engerem Raum samt kleinerer Rätsel abläuft. Da gilt es z.B. etwas mit einem Kran in den richtigen Bereich zu hieven, indem man dem Verlauf verdeckter Kabel folgt. Manchmal muss man auch nur an Leuten beim Abendessen vorbei huschen, um den nächsten Schacht zu erreichen. Die Gebäude samt Rätseln sind angenehme Auflockerungen, denn man fühlt sich im Einstieg noch weitgehend von der Regie geführt, hat ja kaum Fähigkeiten und das Leveldesign ist wie erwähnt recht linear.
Dynamisches Trio
Aber wenn Hanna ihr Blasrohr mit den Schlafpfeilen erhält und zusammen mit Alva und dann Sebastian unterwegs ist, nimmt das Schleichen und Taktieren in zwei Stufen immer mehr Fahrt auf. Soll heißen: Man muss endlich mehr grübeln sowie kombinieren und clever die Rollen zu zweit oder schließlich zu dritt wechseln, um auch in größeren Arealen samt vieler Wachen von A nach B und C zu kommen. Allerdings hat man hier keine komplette Freiheit in der Kombination der Figuren, sondern muss quasi das lineare Rätsel der Route knacken.

Das macht aufgrund der stimmungsvollen Schauplätze richtig Spaß, die in den düsteren Minen mit der monumentalen Architektur und dem fahlen Licht sogar fast ein wenig an Ico erinnern. Außerdem wird das Erlebnis hier um eine unheimliche Note sowie eine Gauner-Symbolsprache erweitert, die man für den richtigen Weg entschlüsseln muss. Um dieses Knobelflair zu erreichen mussten die Entwickler allerdings einige Beschränkungen einbauen, so dass das Leveldesign manchmal wie ein Korsett anmutet.
Eriksholm bietet wie schon angedeutet nicht die räumlich-interaktive Vielfalt einer Immersive Sim oder eine offene Welt, denn viele Zugänge sind künstlich geschlossen. Und die drei Figuren können sich nicht an alle Orte bewegen, was manchmal seltsam wirkt: Nur Alva kann an Rohren hinauf kraxeln, nur Hanna kann durch Schächte kriechen, nur Sebastian kann schwimmen. Doch durch diese exklusiven Bewegungen und natürlich die Fähigkeiten entstehen interaktive Puzzles, die zum Grübeln animieren.
Blasrohr und Steinschleuder
Hannas Blasrohr ist z.B. nur aus der Deckung effektiv, denn der Getroffene hat noch einige Sekunden Zeit, in denen er sich verblüfft umsieht und sie nicht sehen darf, sonst heißt es sofort Game Over. Was macht man also, wenn sich zwei Wachen direkt ansehen? Und wie geht man gegen die robusteren Schildwachen vor, bei denen das Schlafmittel nicht richtig wirkt? Irgendwann geht es um kleine Zeitfenster für perfektes kooperatives Teamplay der drei Figuren.

Mit Alvas Steinschleuder kommen zunächst zwei wichtige Aktionen hinzu: Sie kann damit zwar nicht Wachen ausknocken, aber ihren Blick mit einem gezielten Stein für kurze Zeit in eine Richtung lenken, so dass Hanna oder Sebastian vorbei schleichen können. Alva kann auch auf Tauben oder Metallböden zielen, so dass die Ablenkung noch größer wird und die Wachen alarmiert dorthin marschieren. Außerdem kann sie Laternen treffen, um erleuchtete Bereiche zu verdunkeln. Schließlich wäre da Sebastian, der als einzige Figur schwimmen und Wachen von hinten bewusstlos würgen kann.
Und weil das Leveldesign immer größere Areale öffnet, kann man sich quasi von zwei oder drei Seiten vorarbeiten, Zugänge öffnen oder Wachen beseitigen, um dann irgendwo wieder als Trio in Deckung zu hocken. Dann gilt es manchmal schnell zwischen den Charakteren zu wechseln: Alva lenkt eine Wache ab, so dass sie sich umdreht, Hanna spuckt schnell einen Pfeil, Sebastian schlüpft aus der Deckung, knockt ihn aus und zerrt ihn weg, bevor dessen Kamerad erscheint. So entsteht natürlich einiges Trial & Error. Aber keine Bange, denn meist kann man kurz vor der Szene des Scheiterns einen erneuten Versuch starten.

FAZIT
Eriksholm wirkte auf mich manchmal wie der kleine isometrische Bruder der Stealth-Action Dishonored aus dem Jahr 2012. Es spielt ebenfalls in einer fiktiven Stadt am Meer, die von einem Hafen, der Industrialisierung und sozialen Problemen geprägt ist, zumal auch eine Seuche grassiert und überall Wachen patrouillieren. Aber dieses Echtzeit-Schleichen ist letztlich bodenständiger, pseudohistorischer und weniger fantastisch konzipiert als die offene Steampunk-Welt mit ihren alptraumhaften Abgründen. Dafür versprüht dieses malerische, angenehm auf das Wesentliche reduzierte Abenteuer fast schon eine skandinavische Gemütlichkeit, die immer wieder zum Schwenken der Kamera in diesem maritimen Miniaturwunderland einlädt. Die Präsentation gehört jedenfalls zum Besten, was ich bisher in diesem Genre gesehen habe. Die Dialoge im Cockney-Akzent sind angenehm natürlich und die Zwischensequenzen filmreif. Allerdings kann die Story nicht ganz mithalten, die Freiheit der Interaktion hält sich in Grenzen und man fühlt sich manchmal etwas zu stark geführt. Außerdem hätte man Notizen und Sammelobjekte kreativer mit dem Erlebnis verknüpfen können. Aber dafür steigt das Knobelflair, sobald man zu zweit und dann zu dritt unterwegs ist. Jedes der prächtig designten Areale gleicht dann einem Rätsel, das es in cleverer Kombination des Trios zu lösen gilt. Und das hat trotz der unvermeidlichen Wiederholungen nach dem Scheitern richtig Spaß gemacht. Ich wurde über die zehn Stunden jedenfalls gut unterhalten und würde mich freuen, wenn River End Games nochmal in diese interessante Hafenstadt einlädt. Vielleicht mehr im offenen Stil einer Immersive Sim?
(Bilder: Eriksholm: The Stolen Dream, PS5, eigene Bilder)









