Ein Pixelmädchen fällt vom Himmel, nach goldenen Münzen greifend. Wenn sie alle erwischt, so wie es die Tradition verlangt, landet sie als junge Nonne in einem Kloster, umgeben von bösen Blicken. Als sie auf eine Reise geschickt wird, meldet sich eine teuflische Stimme, die ihren Glauben, ihre Moral und Weltsicht hinterfragt. Indika hat mich Anfang des Jahres mit seiner ungewöhnlichen Regie sehr neugierig gemacht. Jetzt wurde das Spiel auf PC, PS5 und XBS für knapp 25 Euro veröffentlicht.
Pixel und Priester
Dieses Action-Adventure spielt von Beginn an mit Erwartungen und Widersprüchen, sowohl ästhetisch, spielerisch als auch erzählerisch. Denn obwohl man als Nonne in einer fotorealistischen Landschaft der Unreal Engine unterwegs ist und in Schultersicht durch den Schnee stapft, um mühsam Wasser aus dem Klosterbrunnen zu holen, erkennt man oben links eine Pixelanzeige mit Punkten. Soll sie etwa den verspielten Rest des Mädchens symbolisieren, das jetzt als Frau hinter Mauern für ihren religiösen Levelaufstieg schuftet?
Wenn Indika an Altären ein Licht entzündet oder Heiligenbilder aufnimmt, gewinnt sie Punkte, steigt auf einer gelben Leiste wie in einem Arcade-Spiel auf und wählt aus Pixel-Icons einen Boost für noch mehr Punkte. Gleichzeitig wird man darauf hingewiesen, dass all dieses Sammeln letztlich komplett sinnlos sei. Auf jeden Fall sorgt dieses helle Symbol der Spielkultur für einen arcadigen Bruch in einer ansonsten pseudohistorisch düsteren Welt, in der anscheinend ein Konflikt wütet.
Alternatives Russland
Es gibt keine Erklärung dazu, wo und wann man sich befindet. Aber Mode und Architektur, die kyrillische Schrift und orthodoxe Heilige, dazu fiktive Dampfmaschinen und Züge lassen an ein alternatives Russland, vielleicht im 19. Jahrhundert denken. Uniformen und verlassene Orte deuten auf einen Krieg, an einer Stelle werden Bombardierungen durch Amerikaner oder Engländer vermutet. Geht es also ähnlich wie im Brettspiel Scythe um eine Welt, in der der Erste Weltkrieg nie zuende ging?
Irgendwann wird Mark Twain lobend erwähnt, der ja von 1835 bis 1910 gelebt hat. Seine Abenteuer des Huckleberry Finn erschienen 1884, also ist das vielleicht der frühest mögliche Zeitpunkt für das Szenario. Aber viel wichtiger als dessen Terminierung ist die gesellschaftskritische Inszenierung. Im Kloster geht es gar nicht verspielt, sondern überaus streng und herzlos zu. Indika wird von den anderen Schwestern gemobbt und ausgenutzt. Trotzdem geht sie stoisch ihrer Arbeit nach, so als hätte sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden.
Mit dem Teufel unterwegs
Aber inmitten einer religiösen Zeremonie bekommt sie plötzlich Halluzinationen von einem kleinen dicken Mann, der dem orthodoxen Priester aus dem Mund krabbelt. Am liebsten würde man laut mir ihr loslachen, aber Indika ist sichtlich erschrocken. Das Groteske wird durch schräge Kamerawinkel und so manchen Zoom in Gesichter weiter verstärkt. Dieses Action-Adventure überrascht von Beginn an mit kreativen Ideen in der Regie. Dazu gehört auch eine Stimme, die sich bald in ihrem Kopf meldet und all das hinterfragt, was ihr beigebracht wurde; übrigens auf Englisch mit deutschen Untertiteln.
Als Indika einen Brief an ein anderes Kloster überbringen soll, wird dieser Teufel energischer, animiert sie zum Öffnen und hinterfragt die Angst vor der Sünde, die sie davon abhält. Es ist nicht so, dass Indika ihren Glauben einfach so abschüttelt. Allerdings erreicht sie damit den ersten Level auf der knapp fünf bis sechsstündigen Reise zu ihrer Selbstfindung, die mit der Skepsis beginnt. Nur versäumen die Entwickler die Chance, den Spieler aktiver in diesen langsam ansteigenden Konflikt einzubeziehen, denn es gibt keine Dialoge mit einer Wahl. Man kann den Gesprächen von Teufel und Nonne einfach nur zuhören und leider keine Entscheidungen treffen.
Indika und Ilya
Auch über die Gegenstände sowie Reliquien, die Indika sammeln kann, und die wie in einem Adventure als 3D-Objekte im Inventar landen, entsteht keine weitere Aktionsebene. Man kann den versiegelten Brief dort zwar drehen, aber nicht öffnen. Man kann zudem etwas über orthodoxe Heilige und Feste lesen, aber diese Informationen werden nicht in Gespräche oder Rätsel eingebunden. Es bleibt bei einem streng linearen Ablauf, manche Passagen können monoton wirken und scheinen extra für Dialoge gestreckt zu sein, doch auf der erzählerischen Ebene wird es immerhin lebendiger und märchenhaft abstruser, wenn Indika auf den Soldaten Ilya und sogar den bösen Wolf trifft.
Sie verarztet den schwer verletzten Mann, dessen Arm eigentlich amputiert werden müsste. Und obwohl er wie ein Untoter aussieht und sie danach quasi kidnappt, weil er das Steampunk-Fahrrad nicht alleine steuern kann, kommen sich die beiden beim Radeln durch die Winterlandschaft und beim Durchstreifen verlassener Dörfer näher. Der Teufel befeuert die Situation mit obszönen Bemerkungen, auf die Indika nicht eingeht. Aber er scheint gleichzeitig ihren kritischen Verstand zu schärfen, denn sie diskutiert wie eine skeptische Philosophin mit Ilya, der von Gott auserwählt zu sein glaubt. Erst winkt er nur spöttisch ab, aber bald hört er der Nonne aufmerksamer zu.
Nonne und Soldat
Sie sind als Charaktere komplett verschieden, kommen aus anderen Gesellschaften, aber sie teilen nicht nur denselben Glauben, sondern auch dieselben Unterdrückungen durch das System. Egal ob in der Kirche oder beim Militär: Jemand befiehlt und man muss gehorchen. Zwar droht Ilya ihr mitunter, so manche seiner Äußerungen wirken naiv, andere unverschämt, aber Indika findet ihn durchaus sympathisch - und umgekehrt. Sie entdecken jedoch erst schrittweise ihre Gemeinsamkeiten und es macht Spaß, ihnen zuzuören, zumal es einige köstliche Situationen gibt, wenn der Teufel ihre Gespräche kommentiert.
Die schauspielerische Darstellung der beiden ist emotional überzeugend, selbst wenn Indika manchmal etwas zu forsch und fast altklug klingt, was allerdings an der englischen Sprecherin liegen könnte. Hinzu kommt eine nicht immer optimale Tonabmischung sowie einige abrupte Übergänge zwischen Dialogen und Spielszenen. Auf der rein spielerischen Ebene schwankt die Unterhaltung zwischen solidem und ernüchterndem Niveau. In den besten Momenten rätselt man wie in einem guten Adventure, wenn man etwa das Floß partout nicht rechtzeitig erreicht, bis einem ein Licht aufgeht.
Man muss Apparate und Fahrstühle in Gang setzen oder Zugänge unter Einsatz der Schwerkraft finden, wenn ganze Etagen von Häusern wie auf hoher See schwanken. Viel zu selten ist dabei die aktive Kooperation der beiden gefragt und man freut sich schon, wenn Ilya mal von alleine Hindernisse verschiebt. Doch dann steht er wieder nur unbeteiligt wie eine Statue herum und die Abläufe wiederholen sich. Einige Rätsel können an der Geduld zehren, wie etwa das Verschieben von riesigen Fischdosen in einer Mega-Fabrik. Selbst Indika und Ilya scheint das zu misfallen, wenn sie entnervt seufzen, dass sie schon wieder über rotierende Querachsen balancieren müssen. Und die Fluchtpassagen, wenn die beiden von einem schwarzen Höllenhund verfolgt werden, sind letztlich Trial&Error.
Die Grenzen verschwimmen
Aber es gibt noch einen Joker: Der Teufel hinterfragt nicht nur die religiösen Ansichten, sondern verzerrt die reale Welt im wahrsten Sinne. Dann wird die Kulisse fast in einen roten Höllenschlund verwandelt, Plattformen und Wege auseinander gerissen und Indika muss einen Weg von A nach B finden. Indem sie über die Schultertaste betet, kann sie die Sicht wieder normalisieren und so im Wechsel der Perspektive abschätzen, wo sie hinauf klettern oder entlang gehen kann. Diese Puzzle verstärken die surreale Atmosphäre, allerdings wiederholt sich der Teufel in seinen euphorischen Kommentaren recht früh. Überhaupt rückt er als interessanter Antagonist etwas zu schnell in der Hintergrund.
An Vielfalt mangelt es den Herausforderungen zwar nicht. Und immer, wenn es um Indikas Vergangenheit geht, kommt es zu den erwähnten ästhetischen Brüchen: Dann wechselt die Perspektive in die Pixelkulisse, in der sie ein Fahrradrennen in der Draufsicht absolviert oder wie Mario von links nach rechts läuft, springt und Gold sammelt. Allerdings gibt es diese Nostalgie nicht zum kurzen Entspannen, sondern mit bewegten Plattformen und Absprungtiming so anspruchsvoll wie in einem Jump'n Run. Und falls man stürzt, stirbt man. Wer in die 3D-Welt von Indika zurückkehren möchte, muss diese Aufgaben zwingend meistern - man hat also keine Wahl.
Dieser Zwang steht durchaus in einem erzählerischen Zusammenhang, denn Indika und Ilya diskutieren u.a. über den freien Willen, das Schicksal und inwiefern man sein Leben überhaupt selbst bestimmen kann. Schließlich kann die hüpfende Pixelheldin zwar entscheiden, wann sie abspringt oder ob sie einfach stehen bleibt, aber sie ist in diesem Retrolevel gefangen. Sie muss zwingend da durch. Ilya würde sagen, dass das Gottes (also in diesem Fall des Spieldesigners) Wille ist. Und dass er einen Plan hat. Allerdings geht der für den Spieler nur zum Teil auf. Denn so cool diese Minispiele als Stilbrüche zunächst wirken, können sie irgendwann nerven, wenn man es mehrmals nicht schafft.
FAZIT
Indika ist eine kreative Überraschung. Zwar hat das Action-Adventure rein spielerisch einige Schwächen. Und vielleicht verschenkt man mit dem komplett linearen Ablauf der Gespräche einiges dramaturgisches Potenzial. Aber das ist vor allem hinsichtlich der Regie und Story ein frischer Impuls. Sie bedient sich ästhetischer Brüche, um das Groteske sowie Unsinnige religiöser als auch staatlicher Unterdrückung zu veranschaulichen. Man begleitet die junge Nonne über vier bis sechs Stunden durch ein alternatives Russland auf dem Weg zu sich selbst. Es geht um Schuld und Sühne, um Zwang und Autorität, um Sinn und Unsinn, während man wie in einem Puzzle-Abenteuer Hebel bedient, Kisten verschiebt oder Plattformen bewegt. Neben der Gesellschafts- und Systemkritik kommen der Humor und das Menschliche nicht zu kurz - selbst der Religion des Spielers hält man pixelzwinkernd den Spiegel vor. Diese Reise hatte ihre Tücken, war an einigen Stellen zu passsiv und sogar nervig. Aber sie hat mir in ihrer surrealen Inszenierung und auf der erzählerischen Ebene gut gefallen, zumal sie sich wohltuend abhebt. Ich würde mich über ein weiteres Spiel von Odd Meter freuen.
Ach so: Im Gegensatz zu Atomic Heart (zur Rezension) gibt es hier keine indirekte Propaganda für Putins Regime von einem russischen Studio, denn Director Dmitry Svetlov hat sich klar gegen den Angriffskrieg positioniert. Ursprünglich arbeitete sein Team von Moskau aus, aber ist mittlerweile in Kasachstan aktiv, weil einige der knapp ein Dutzend Entwickler im wehrfähigen Alter sind und eine Einberufung fürchten. Das Spiel wird über den polnischen Publisher 11 bit studios vermarktet, unter dem u.a. das Anti-Kriegsspiel This War of Mine erschien. Ein Teil der Einnahmen von Indika wird an ukrainische Kinder gespendet.
(Bilder: Indika, 11 bit Studios, eigene Aufnahmen)
Ich seh's genauso. Ich hab aber erst irgendwo zwei Stunden oder so hinter mir und muss jetzt mal den Fischen ausweichen. Das wollte ich noch nicht angehen, denn ich vermute einen hohen Frustfaktor.
Am meisten merkt man den Indie-Charakter, zumindest meiner Meinung nach, in den Übergängen von Spiel- und Renderszenen bzw. wenn man von einem Spielabshnitt zum nächsten wechselt. Da ist nämlich ein ziemlicher zeitlicher Bruch vorhanden.
Mir gefällt vor allem das Spiel mit den Perspektiven. Bei der Einlage im Kloster, mit dem "kleinen dicken Mann" kam ein übelstes WTF-Gefühl hoch. Und auch die "Gespräche" mit dem Teufel sind wirklich spaßig. Den finde ich auch mit einem guten Sprecher besetzt.